Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Dezember 2005
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Den Todesstreifen zum Radweg bügeln"
Erinnern und Schreiben zwischen Ruinen und ihrer Zerstörung in Reinhard Jirgls Hundsnächte

Christoph F. E. Holzhey (Siegen/Berlin)

 

"Daß die Apokalypse Konjunktur hat, bedarf kaum noch des Nachweises" - so beginnt eine Monographie, die vor fünfzehn Jahren erschien (1988) und die dem besonderen Charakter und der besonders auffälligen Rolle der Apokalypse in Deutschland nachgeht. Klaus Vondung bemerkt darin eingangs, dass der Weltuntergang zwar eine globale Gefahr darstelle, die Angst davor aber unter Deutschen "besonders grassiert" (8), und dass zwar auch in anderen Ländern gelegentlich von der Apokalypse die Rede sei, aber in Deutschland "der apokalyptische Ton besonders laut und häufig angeschlagen" (9) werde. Auch wenn sie letztlich dem jüdisch-christlichen Denken entspringt, hat diese deutsche Neigung zur Apokalypse zudem eine lange eigene Tradition, womit allerdings noch nichts über ihre Zukunft - einschließlich ihrer Rolle für die Literatur der 1990er Jahre - gesagt ist.

Vondung betont, dass ursprünglich der Weltuntergang immer nur eine notwendige Durchgangsphase für das erlösende Kommen einer neuen, vollkommenen Welt gewesen sei. Erst seit der Möglichkeit einer selbst gemachten nuklearen oder ökologischen Auslöschung der menschlichen Welt Mitte des zwanzigsten Jahrhundert verschwinde das erlösende Moment aus dem Blickfeld. Vondung spricht hier von einer "kupierten" Apokalypse und fragt, weshalb dennoch ständig von der Apokalypse gesprochen werde und ob nicht die ebenfalls typisch deutsche quasi-religiöse Sehnsucht nach Erlösung und nach einem ganz anderen Leben weiterhin zumindest unterschwellig im Spiel sei (12f). Diese Frage nach einer scheinbar unverständlichen Lust am Untergang und ihr vielleicht allzu schnelles Wegerklären durch ein verdecktes utopisches Begehren ist, was mich besonders am Apokalypse-Komplex interessiert. Daher richtet sich mein Blick insbesondere auf die "zwiespältigen Gefühle" von Faszination und Schrecken, die sich mit der Apokalypse verbinden und die Vondung ebenso hervorhebt, wie die "ungewohnten Verwandtschaften" - man könnte auch sagen das Kulturen-Verbindende - im 'apokalyptischen Geist’, etwa zwischen avantgardistischer und faschistischer Ästhetik, oder zwischen Ernst Jünger und der RAF.

Ich fühle mich zwar weder berufen noch geneigt, über die deutsche Führungsrolle in Sachen Apokalypse zu urteilen, aber ich möchte dennoch zunächst die Hypothese aufstellen, dass die Konjunktur der Apokalypse in der deutschen Gegenwartsliteratur seit dem Mauerfall deutlich abgenommen hat. Neben der Verarbeitung der DDR-Vergangenheit und neueren Ansätzen zum Umgang mit dem Nationalsozialismus scheinen doch die 90er Jahre im Zeichen einer - für deutsche Verhältnisse in der Tat ungewöhnlichen - Leichtigkeit zu stehen. In beständiger Erwartung eines definitiven Wiedervereinigungsromans machen so vor allem Neue Lesbarkeit, Unterhaltsamkeit, Popliteraten, Fräuleinwunder und ein aus Beziehungskomödien bestehender Neuer Deutscher Film von sich reden.

Man könnte meinen, die Apokalypse habe im literarischen Bewusstsein der 90er Jahre mit dem Ende des kalten Krieges schon stattgefunden. Zwar fehlt es dem Untergang der DDR und der Sowjetunion genauso an apokalyptischer Dramatik, wie der von Bush senior verkündeten neuen Weltordnung, der Konkurrenzlosigkeit des demokratisch-kapitalistischen Modells und der damals unbegrenzt und konjunkturresistent erscheinenden New Economy. Auch gab es gleich neue Krisen und Gefahren, die mitunter mit apokalyptischen Tönen diskutiert wurden (wie etwa die Kriege in Jugoslawien, der Treibhauseffekt, BSE, Globalisierung, Y2K und Genmanipulationen). Dennoch schien der Umbruch von 1989 mehr als nur das Ende einer Episode bedeutet zu haben, denkt man zumindest an die Rede vom Ende der Geschichte, welche die postmoderne Skepsis gegenüber großen Erzählungen bekräftigt. Ein derartiges postmodernes Denken widerspricht zumindest der Aussicht auf eine künftige Apokalypse. Dies heißt zwar nicht, dass eine Apokalypse stattgefunden habe, legt aber im Umkehrschluss nahe, dass nach Abflauen des postmodernen Enthusiasmus die unverwüstliche Anziehungskraft apokalyptischer Visionen gerade in der ordnungsstiftenden Wiedereinführung von Geschichte und großen Erzählungen begründet liegt.

Zu diesen Überlegungen passt gut, dass Reinhard Jirgl - der mir unter den neueren deutschen Autoren geeignet schien, um über Apokalypse zu reden - nicht nur hinsichtlich seiner von Rezensenten wiederholt attestierten apokalyptischen Visionen eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur der 90er Jahre darstellt, sondern auch hinsichtlich seiner Unlesbarkeit und seinen bewussten Rückgriffen auf modernistische Traditionen ("Jirgl" [KLG]; Hörisch). Allerdings beurteilt kein professioneller Rezensent diesen unzeitgemäßen Autor als epigonal, was auch daran liegen mag, dass er neuere Theoriebildungen, wie etwa die Vorstellung vom Ende der Geschichte, mitreflektiert.

Von Jirgl, der in der DDR nahezu unveröffentlicht war, erschienen im Laufe der 90er Jahre in schneller Abfolge eine Reihe gewichtiger Romane. Hundsnächte (1997) schließt sich an den bis dahin bekanntesten Roman Abschied von den Feinden (1995) an und belebt die Nacht zwischen der Ankunft einer Abrisskolonne in einer Ruinenlandschaft am ehemaligen deutsch-deutschen Grenzstreifen und deren Zerstörung mit einer Vielzahl ruinierter Lebensgeschichten. Dabei verflechten sich die Erinnerungen eines Ingenieurs, der sich nach der Wende als einfacher Arbeiter in der mit dem Abriss beauftragten so genannten "Fremdenlegion" verdingen muss, mit denen eines Anwalts, der von der DDR in den Westen ging, nun zurückgekehrt ist und als unentwegt schreibender Untoter in den Ruinen hausen soll. Die Atmosphäre ist so gespenstisch, düster und grauenvoll, dass sie wiederholt apokalyptisch genannt wurde. Zugleich haben aber viele Rezensenten betont, dass es keine Hoffnung oder Aussicht auf Erlösung gebe (Walther; Hörisch; Blom). Es kann sich also nur um eine kupierte Apokalypse handeln, das heißt nur um Untergang. Aber nicht einmal das scheint sicher, denn es ist bei Jirgl kein radikaler Umbruch und kein Ende in Sicht. Statt Entwicklung privilegiert der Roman vielmehr Kontinuität, Konstanz und Wiederholung.

Die Beschreibung der Dorfleute von dem Mann in der zum Abriß bestimmten Ruine charakterisiert die Atmosphäre und Dynamik des ganzen Romans recht gut:

Wie oft hatten wir [...] geglaubt [...] Nun hat ers hinter sich - und mußten ebenso oft 1 weiteres Mal, noch leiser noch erstorbener, das furchtbare Keuchen eines Menschen hören, der offenbar nicht sterben kann.... [...] ein Sterben ohne Ende, ein Krepieren in Zeitlupe [...] Das ist wie in einem bösen Traum, der kein Ende nehmen will, wo jedes Erwachen nur der Beginn eines neue Alptraums sein muß. Und gerne hätten wir geglaubt, tatsächlich in einem Traum zu sein, wäre da nicht der Gestank, der jegliches Atmen erstickt : Ammoniak Urin gärende Exkremente & süßlich=Verdorbenes, Gestank verwesenden Fleisches & verfaulender Eingeweide. (12f)

Sofern man den Gestank auch auf eine moralische Ebene überträgt, lässt sich das Gleiche vom Roman selbst sagen. Die Montage von alptraumhaften Rückblenden und Erinnerungen, Beschreibungen und Phantasien, Ich-Erzählungen und Dialoge lässt die Nacht der Rahmenhandlung nur zeitlupenartig vorankommen und zu einer Ewigkeit werden, indem sie eine Vielzahl von Orten, Zeitebenen und Perspektiven miteinander verknüpft und letztlich bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen lässt. Dabei betont der Roman insbesondere auch Kontinuitäten zwischen Ost und West, zwischen der Zeit vor und nach der Wende, wie auch zwischen Täter und Opfer.

So bildet etwa an einer frühen Stelle stürmischer Regen den fast unmerklichen Übergang zwischen einer Kindheitserinnerung des Ingenieurs und einer Icherzählung des Anwalts (25). Letztere zieht sich, vielfach unterbrochen, durch den ganzen Roman und beginnt in der Nacht, in der er nach der Wende in den Osten zurückkehrt. Während er vergeblich in einer Berliner Bar auf eine ehemalige Geliebte wartet, erfährt der Leser in Rückblenden von seinem beruflichen Ekel, der ihn schließlich seine Kanzlei definitiv aufgeben und den Schlüssel dazu durch einen Gullideckel in die darunter liegenden Kloake werfen ließ. Dieser Ekel, der sich sowohl auf Perversionen des Justizsystems als auch auf den Genuss triumphierender Klienten bezieht, begann im Osten, verstärkte sich im Westen, verwandelte sich in Hass und mündete schließlich in eine Lust, Klienten "!absichtsvoll [...] mit den Mitteln & Verfahren des verübten Rechtes in die Endgültigkeit ihres Verderbens fallen zu lassen" (32). Ekel verschiedener Art durchzieht somit das Leben des Anwalts bis hin zu seiner Verwesung und lässt ihn zwischenzeitlich zu einem sadistischen Täter werden.

Den Höhepunkt sadistischer Lust stellt jedoch der so genannte "Feiste" dar, ein ehemaliger Stasi-Offizier, der seine schmutzigen Geschäfte nach der Wende unbehelligt weiterführt, sich als "Kopf-Jäger", "Lumpen-Sammler" und "Präparator der Alten=DeDeR" (388) versteht und seine Opfer verfolgt, quält und grausam tötet, nur "[w]eil es solch ein VER!DAMMT!WUNDER!SCHÖNES GE!FÜHL ist" (402). Während der Anwalt vor seinem Verlassen der DDR unwissender Mithelfer des Feisten war, wurde er danach zu seinem Spielball, bis er ihn nach Anblick seines Gruselkabinetts und insbesondere der präparierten Leiche der Geliebten, deren Augen durch "spitze Drillbohrer" (405) ersetzt sind, auf dem Dielenboden kreuzigt.

Dass keine Wende stattgefunden hat, und sicherlich nicht zum Besseren, legen auch die biographischen Fragmente des Ingenieurs auf inhaltlicher und formaler Ebene nahe. Einerseits erfährt man von seinem beruflichen, sozialen und familiären Abstieg zunächst durch Arbeitslosigkeit und dann durch die ihn degradierenden Arbeit in der Fremdenlegion. Andererseits wechselt ein langer Abschnitt (230-279) beständig zwischen gegenwärtigen Versuchen seiner Arbeitskollegen, ihn zum Verlassen der Ruine zu bewegen, und Erinnerungen an demütigende Schul-Appelle. Dadurch werden verschiedene Zeiten, Systeme und Lebensumstände insbesondere hinsichtlich eines auswegslosen Konformitätszwang miteinander identifiziert.

Wenn Jirgls Roman somit alles andere als eine postapokalyptische Erlösung vorführt, aber auch Permanenz mehr betont als fortschreitenden Verfall, wäre zu fragen, inwiefern der Apokalypse-Begriff zur Interpretation noch überhaupt relevant sein kann. Ich möchte drei konträren Ansätzen nachgehen.

Erstens könnte man die Beschreibung der desolaten Lage, in der sich letztlich alle Figuren des Romans befinden, dahingehend interpretieren, dass eine wahrlich apokalyptische Erneuerung vonnöten wäre. Die düstere und verkommene Stimmung ist zwar noch nicht Teil des apokalyptischen Unterganges, aber das, was die Einsicht in seine Notwendigkeit vorbereitet. In diesem Sinne beschreibt etwa Michael Opitz Jirgls entworfene Welt als "morastige[n] Sündenpfuhl, aus dem nackte Gewalt, kalte Lust und Verbrechen emporsteigen" und dem man "nur noch mit dem Hammer begegnen" kann. Die Ansicht, dass ein radikaler Neubeginn statt nur kosmetischer Korrekturen notwendig ist, lässt sich auch im Zynismus der Dorfleute gegenüber dem Abrissprojekt und dessen Auftraggebern in der Politik erkennen:

-So: und da kommt ihr daher: !ihr mit euern Bulldozern Baggern Planierraupen & wollt anfangen 1 Dorf, das ja seit langem nur noch aus Ruinen besteht, plattzumachen & auszulöschen. Als ob 1 namenloses Dorf noch !ausgelöscht werden könnte. Plattmachen könnt ihrs so platt wie eure Köppe. Für diesen !Radweg. Deswegen seid ihr doch hergekommen !?oder : Den Todesstreifen zum !Radweg bügeln - von Lübeck bis runter nach Hof. Und das-Ganze heißt dann auch noch: Lebensstreifen. !Das sieht ihnen ähnlich, diesen Dösköppen=dort-Oben, die Heute das-Sagen ham. Na, wenn da mal nich n bißchen Viel-Leben aus sonem Streifen kommt.... (17)

Mit dem zu viel an Leben meinen die Dorfleute wohl weniger den untoten Anwalt in der Ruine als die später erwähnten Giftfässer, die beim Abbau der Grenzanlagen verscharrt wurden und eines Nachts den Todesstreifen in Flammen aufgehen ließen - eine gute Metapher, wie die Dorfleute anzudeuten scheinen, für eine gelungene Apokalypse:

Da hatte sich wohl was von dem Zeug in der heimlichen Mülldeponie selbst entzündet & wie Gräber zum Jüngsten Gericht sich öffnen flog aus dem Landstrich nun all der eilig verscharrte Dreck ..... heraus. Wenn alle Übel der Vergangenheit so ans Licht kämen: !Dann wäre täglich Feuerwerk rund-um-die-Uhr. (70)

Ein zweiter, in Text und Kritik stärker vertretener Ansatz weist zwar auch das Glatt-Bügeln einer unliebsamen Vergangenheit zurück, aber nicht zugunsten deren grundlegenderen Zerstörung in einem apokalyptischen Feuerwerk. Im Gegenteil ist die Beseitigung von Ruinen aufzuhalten, weil schon sie einer Apokalypse gleichkommt, und zwar einer kupierten ohne erlösende Erneuerung.

Diese Auffassung repräsentiert ironischerweise insbesondere der Vorarbeiter der Abrisskolonne, der gegen Ende des Buches mit dem Ingenieur über Architektur philosophiert. Dieser entpuppt sich ebenfalls als degradierter Akademiker, nämlich als westdeutscher Architekt und Künstler, der früher Projekte gegen Abriss gestaltete, etwa als man im Neandertal an Stelle einer Hotelruine aus der Vorkriegszeit ein Neandertal Museum errichten wollte: "sowas wie Disneyland & Jurassicpark in 1..... - :Das ist immer die !vollkommenste Art des Verschwindens. ?Werweiß welche Erinnerung hier störend ist bis Heute & nicht wiedererscheinen soll, um !keinen Preis - -" (454f). Es geht dem Architekten um Erinnerung, aber weder um Nostalgie noch um Vergeltung, weder um Archivierung noch um Wiederherstellen. Die weiteren Ausführungen deuten vielmehr an, dass es ihm um Konflikte geht, die zustande kommen, "wenn Frühes auf Gegenwärtiges trifft" (449), und die den "plastischen Kern" (449) von Architektur und ihrer Erneuerung bilden sollen. Man könnte vielleicht von einem dialektischen Fortschrittsmodell sprechen, insofern für den Architekten Neubauten eigentlich "von-Anfang-an Ruinen. Totgeburten" (448) sind, und umgekehrt Ruinen "auch die Rohbauten sein [können] zu einer kommenden Architektur" (449). Jedenfalls handelt es sich um ein Modell der Erneuerung, das bewahrender Erinnerung bedarf und insofern emphatisch anti-apokalyptisch ist.

Es liegt nahe, die Ideen des Architekten auf die Verknüpfung von Schreiben und Erinnern im Roman anzuwenden und als metapoetologische Reflektion für den Roman selbst zu verstehen. Zunächst passt sehr gut, dass der Anwalt durch sein Schreiben, sowohl seinen eigenen Tod als auch den Abriss der Ruine aufhält. Weiterhin erklärt der Vorarbeiter/Architekt sein Interesse am Ingenieur, der zuletzt mit dem schreibenden Anwalt in eine Person verschmilzt, indem er ihn mit den zum Verschwinden bestimmten Bauten identifiziert: "in gewisser Weise kommstu mir vor wie die Bauten, die verschwinden sollten & die ich versucht habe, als ein Bild, dem der Sinnzusammenhang verlorenging, festzuhalten" (449). Der Roman selbst lässt schließlich beständig "Frühes und Gegenwärtiges" aufeinander treffen und macht Konflikte, die unter anderem aus diesem Zusammenprall entstehen, zum poetologischen Prinzip, worunter man insbesondere auch die unzeitgemäße Wiedereinführung modernistischer Unlesbarkeit in die 90er Jahre rechnen könnte.

Dabei hat der Roman auch den 'linguistic turn' vollzogen und betont die ambivalente Rolle der Schrift und ihrer Materialität. Roman Bucheli sieht ihn etwa mit einer "grauenerregenden und zugleich ergreifenden Apotheose des Schreibens als letaler Verausgabung" schließen, und Eva Leipprand, die das auf den letzten Seiten erscheinende Zitat: "ich schreibe also bin ich" (512) zum Titel nimmt, kommt zu dem Schluß, dass der Roman "vor allem ein Buch über das Schreiben ist". Ähnlich bemerkt auch Peter Walther: "Einzig das Schreiben macht den Einsiedler in doppelter Bedeutung des Wortes 'unsterblich'", fügt aber hinzu: "- das gewichtigste von vielen Klischees, die in den Text eingestreut sind und ihn dem Zugriff flinker Interpreten entziehen". In der Tat stellt der Roman anti-apokalyptische Mittel der literarischen Erinnerung genauso in Frage wie mehr oder weniger explizite apokalyptische Erlösungsvorstellungen.

So zeigt sich der Architekt völlig uninteressiert an den Texten des Anwalts, eben weil ihm das "Sichansiedeln auf der angenehmen Oberfläche" als "Tod bei lebendigem Leibe" (451) erscheint. Aber auch sein Modell architektonischer Erinnerung wird relativiert, insofern er bis zu dieser Nacht in der Ruine nicht auf die Idee gekommen war, dass bei den zum Verschwinden bestimmten Bauten, die er in seinen Projekten als ein Bild festzuhalten versuchte, "auch ein freiwilliges Verschwinden!wollen drunter sein könnte" (449). Ein derartiges Verschwindenwollen ist aber ein Leitmotiv des Romans und führt wieder zurück zur Frage der Apokalypse, die dieses Mal allerdings den ersehnten Untergang des eigenen, individuellen Ichs betrifft.

Am Anfang des Romans berichtet der Anwalt vom "Gefühl des Entfesseltseins", das er bei der Vernichtung all seiner Kinderfotos empfand und das er auch bei Selbstmördern vermutet. Im Widerspruch zum Architekten und seiner Erinnerungskultur, will der Anwalt verschwinden:

Fotografieen bewahren Vergangenheit u Zukunft in=sich, versichern Das warst du u Die Unsterblichkeit, das Sein ohne Chance auf Vergängnis. 1 angehaltener Tod: die !grausamste aller Todes-Strafen. Denn nichts unerträglicher als der Gedanke, nach dem Tod könnte noch irgendetwas sein, irgendetwas bleiben von dir außer Tod, außer Nichts. Die Vollkommenheit des Auslöschens, DAS VERSCHWINDEN - die 1zig mögliche Form des Auswegs [...] (54)

Unsterblichkeit wird hier radikal umbewertet, aber dafür wird das Verschwinden religiös aufgeladen. So sagt der Anwalt von der Prostituierten, die ihn lange Zeit gefangen hält:

im Gegensatz zu manch Anderen, glaubte sie, diese unerbittliche Frau, wie Religiöse an die Auferstehung, mit derselben Inbrunst vielmehr von jeher an das absolute Nichts nach dem eigenen Tod, an das spuren- & restlose, erinnerungsunfähige, kalte Verschwinden, gestorben=aus, und Nichts danach für Immer&ewig [...] (312)

Wie bei der kupierten Apokalypse kann man auch hier fragen, ob nicht das Verschwindenwollen lediglich eine Sehnsucht nach Erlösung verdeckt. In der Tat kommt an einigen Stellen eine Sehnsucht nach etwas ganz anderem zur Sprache, allerdings auch die Erfahrung eines Wiederholungszwanges, von dem verschiedene Figuren sprechen, wie etwa hier der Ingenieur:

Wie unter Zwang . [...] Denn immer sobald ich an Was Anderes denken will, isses oft als wenn 1 Schwamm auf einer Tafel das grad Geschriebene sofort wieder wegwischt -: und das ganze alte Zeug das immer schon dort auf der Tafel gestanden hat, das kommt wieder durch, 1gekratzte, 1geätzte uralte Schrift. Wie unter Zwang, &ich muß das immer wieder lesen und lesen. Aber geschrieben hab !ich das !nicht. Denn ich will ja das-Andere denken, das-Neue tun [...] (472f)

Angesichts einer derartigen Erkenntnis von der unentrinnbaren ewigen Wiederkehr des Gleichen wirkt ein Selbst- und Weltuntergang als Erlösung, so dass die kupierte Apokalypse vielleicht letztlich als eine vollständige zu verstehen ist. Die alptraumartige Atmosphäre der Hundsnächte scheint jedenfalls auch daher zu rühren, dass eine derartige Apokalypse nie geschieht.

Neben dem Verlangen nach einer radikalen apokalyptischen Erneuerung und dem anti-apokalyptischen Versuch, dem Abriss von Ruinen und den Totgeburten von Neubauten durch Erinnerung entgegenzuwirken, findet sich im Roman somit auch eine dritte apokalyptische Perspektive. Diese erkennt im Ausbleiben eines endgültigen Untergangs keine Positivität durch doppelte Verneinung, sondern gewissermaßen eine potenzierte Apokalypse. Mit dem Untergang des Untergangs enthüllt sich die Apokalypse in ihrer ursprünglichen Bedeutung, nämlich als Enthüllung einer schrecklichen Wahrheit, die hier in der furchtbaren ewigen Wiederkehr nicht nur des Gleichen besteht, sondern des üblicherweise meist positiv bewerteten Lebens.

Wenn somit das Glattbügeln des Todesstreifen für eine wahre Erneuerung zu oberflächlich ist, dann wird zugleich auch die ökologische Utopie einer Verwandlung des Todes- in einen Lebensstreifen zum Graus. In der Tat prägt den apokalyptischen Ton des Buches gleich zu Anfang auch die Erneuerungskraft der Natur:

Ruinen, zu Ruinen verfallen -, [...] von Schlingpflanzen Baumwerk Weinranken & Büschen im Griff wie unter einer unendlich langsam sich schließenden Faust, [...] fahle Nägel & Krallen an den Klauen pflanzlicher Wesen, die mit der unfaßbaren Geduld aller Pflanzen auf das Verschwinden von Zeit lauern, [...] um dann im Augenblick des Lösens von dieser Fessel in 1 Explosion von Wachstum vorschnellend über die schäbigen Gemäuerreste u die gesamte Landschaft herzufallen, der Menschen u der übrigen Alpträume sich bemächtigend, dies=Alles wie Knüllpapier von-sich schleudern würden, um an anderer Stelle [...] Alles schon Getilgte, Weggeworfne & Zerstörte [...] noch 1 Mal von-vorn beginnen zu lassen - (10)

So komme ich abschließend zum Anfang zurück, und zwar sowohl des Buches, als auch des Parcours durch verschiedene Möglichkeiten, wie sich Jirgls Roman auf apokalyptische Denkfiguren beziehen lässt. Denn das Verlangen, den gnadenlosen Kreislauf des Lebens durch ein endgültiges Verschwinden zu durchbrechen, soll nicht das letzte Wort haben. Vielmehr soll es gleichberechtigt neben dem entgegen gesetzten Verlangen nach Erneuerung stehen, das die beiden anderen skizzierten Ansätze auf konträre Weise verfolgen: während das Verlangen nach einer wahrlich reinigenden Apokalypse den Zirkel gleichsam durch Radikalisierung von Untergang und Erneuerung endgültig zum Stoppen zu bringen versucht, werden im anderen Ansatz durch schriftlich-architektonische Erinnerung beide Pole entschärft und dadurch ein helixförmiges Fortschreiten denkbar.

Gerade indem sie sich gegenseitig widersprechen, machen die verschiedenen Positionen eine tiefe Ambivalenz kenntlich, die Leben und Schrift, Erinnerung und Verschwinden, Untergang und Erneuerung zugleich als Problem und als Lösung, als Quelle sowohl von Schmerz als auch von Lust erscheinen lässt. Zusammen genommen verweisen die einzelnen Ansätze auf eine Ununterscheidbarkeit als ihren unsichtbaren gemeinsamen Grund und Bedingung ihrer Möglichkeit. Jeder einzelne Ansatz strukturiert diesen Grund auf eigene Weise und verdeckt somit unausweichlich zumindest teilweise seine Unentschiedenheit, die sich nur durch unterschiedlich formulierbare Paradoxe äußern kann, wie etwa 'Erneuerung durch Untergang', 'Fortschritt durch Erinnern' oder 'Lust im Verlust'. Indem der Roman diese unterschiedlichen Interpretationen gleichermaßen erlaubt und um einen unerreichbaren Untoten - "steckengeblieben im Niemandsland zwischen Leben u: Tod, zwischen Dasein u: Verlöschen" (16) - kreist, legt er nahe, dass es ihm letztlich weder um eine volle, kupierte oder potenzierte Apokalypse geht, noch um ein anti-apokalyptisches Erinnern. Stattdessen folgt er dem Vorarbeiter/Architekten in seiner Verteidigung des "wirklichen Menschen" gegenüber denjenigen, die "vom Ende-der-Geschichte faseln". Während der Vorarbeiter/Architekt sich auf das Paradox eines Ungenannten beruft, wonach das "Wirkliche betrachten immer das Unsichtbare sichtbar machen heißt" (447), stellt der Roman gegenseitig widersprüchliche Ansätze, die schon in sich selbst paradox sind, nebeneinander und evoziert dadurch einen wirklich-unsichtbaren Zwischenzustand der Unentscheidbarkeit. Dieser zwingt den Einzelnen vielleicht zu einem "ganz harten Dezionismus" (Jirgl im Gespräch mit Neubauer), gewährt ihm aber auch neue Spielräume jenseits des Endes der Geschichte und ihrer apokalyptischen Wiedereinführung.

© Christoph F. E. Holzhey (Siegen/Berlin)


LITERATURANGABEN

"Reinhard Jirgl: Essay" in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - Das KLG auf CD-ROM. Hg. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik, 1999ff.

Blom, Philipp. "Nächte ohne Ende". Berliner Zeitung 27./28. 12. 1997.

Bucheli, Roman. "Aus der heimlichen Existenz des Schriftstellers". Neue Züricher Zeitung 20./21. 4. 2002.

Hörisch, Jochen. "Eine Nacht im Herzen der Dunkelheit". Neue Zürcher Zeitung 14.10. 1997.

Jirgl, Reinhard. "Hundsnächte". München: DTV, 1997.

Leipprand, Eva. "Ich schreibe, also bin ich". Stuttgarter Zeitung 27.8. 1998.

Neubauer, Michael. "Zeit der zweiten Chance: Gespräch". die tageszeitung 12./13. 12. 1998.

Opitz, Michael. "Es wird, aber anders als gedacht". Der Tagesspiegel 28. 9. 1997.

Vondung, Klaus. "Die Apokalypse in Deutschland". München: DTV, 1988.

Walther, Peter. "Eine gottlose Komödie ohne Beatrice". die tageszeitung 29.10. 1997.


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Christoph F. E. Holzhey (Siegen/Berlin): "Den Todesstreifen zum Radweg bügeln" - Erinnern und Schreiben zwischen Ruinen und ihrer Zerstörung in Reinhard Jirgls Hundsnächte. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/holzhey15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 22.12.2005    INST