Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses
Herausgeberinnen | Editors | Éditeurs: Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Der Einfluss der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses

Gisela Fehrmann [BIO] und Erika Linz [BIO] (Universität Köln)

 

Die Sektion widmete sich der Frage, welche Auswirkungen die Medialität auf die Generierung und Strukturierung von Kommunikationsinhalten und Kommunikationspraxen sowie die Organisation des kulturellen Gedächtnisses ausübt. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Medien im Kontext eines traditionellen Medienverständnisses primär als materielle Träger zur Übermittlung, Speicherung und Verbreitung von kommunizierten Informationen betrachtet werden. Aus dieser immer noch vorherrschenden Perspektive nimmt die Medialität aufgrund der angenommenen Unabhängigkeit von Übertragungskanal und übertragenen Inhalten kaum Einfluss auf den Kommunikationsprozess und dessen Inhalte.

Demgegenüber treten die Beiträge der Sektion für eine Medienauffassung ein, die weniger auf den Aspekt der Übermittlung abhebt und die Rolle von Medien als Mittler und Vermittler in den Vordergrund rückt. Neben der Frage nach den kulturellen Auswirkungen von Medien gerät damit zugleich ihre kognitive Funktion in den Blick. Es geht damit also nicht mehr allein um das Problem, wie sich Kommunikationskulturen und kollektives Gedächtnis durch die Einführung neuer Medientechnologien verändern, sondern darüber hinaus um die Frage, in welcher Weise Medien Wahrnehmung und Kommunikation transformieren, strukturieren oder gar erst ermöglichen. Aus so verschiedenen disziplinären Perspektiven wie den Medien-, Musik- und Geschichtswissenschaften, der Philosophie, der Linguistik und der Psychologie argumentieren die Beiträge für die These, dass die in einer Kultur kommunikativ genutzten medialen Formate tiefgreifende Auswirkungen auf die Wissensordnungen dieser Kultur ausüben, die sich nicht nur auf kultureller, sondern ebenso auf kognitiver Ebene niederschlagen. Ausgangspunkt der Sektion bildet die Annahme, dass kognitive Gehalte nicht als medialitätsneutrale mentale Repräsentationen zu verstehen sind, sondern sowohl in ihrer Genese generell auf die Medialität der Zeichenkommunikation verwiesen sind als auch von den je spezifischen medialen Formaten der kommunikativ verwendeten Zeichenarten geprägt werden.(1)

Anhand der unterschiedlichen Gegenstandsbereiche und Materialfelder der einzelnen Beiträge wird einerseits das komplexe Geflecht von Einflussfaktoren deutlich, das bei dem Versuch einer Erfassung des Medialitätsproblems berücksichtigt werden muss. Andererseits treten zugleich zwei disziplinübergreifende Aspekte hervor, die für alle Beiträge von besonderer Relevanz sind: (1) die Einsicht in die Notwendigkeit einer Abkehr von monomedialen Medienanalysen und (2) die damit verbundene Frage nach dem spezifischen Status der Sprache in Bezug zu anderen medialen Symbolsystemen.

Insbesondere Jan Schneider und Ludwig Jäger entfalten die Annahme, dass die Sprache in kognitiver wie in kultureller Hinsicht als ein "Metamedium" fungiert, dem ein exponierter Status für kognitive Operationen und kulturelle Wissensformationen zuzusprechen ist. Jägers These, dass die Sprache die Rolle eines "Resonanzbodens" übernimmt, auf dem nicht-sprachliche Symbolsysteme zueinander in Bezug treten, wird auch in den Beiträgen von Wiebke Iversen, Meike Adam, Morag J. Grant und Bianca Herlo aufgegriffen. Mit Blick auf Musik, Bild bzw. Zahl werden hier an unterschiedlichen Fallbeispielen nicht nur mediale Differenzen zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolsystemen untersucht, sondern gerade auch zentrale Wechselwirkungen zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Formaten vorgeführt. Die daraus resultierende Kritik an einer isolierten Betrachtung von Einzelmedien wird auch durch die Beiträge von Gisela Fehrmann, Cornelia Epping-Jäger, Mareike Buss, Jörg Jost und Luise Springer gestützt, die sich mit differenten Medialitätsformen von Sprache beschäftigen. Die theoretisch und empirisch orientierten Analysen zur funktionalen Ausdifferenzierung sprachlicher Register (Buss, Jost, Springer) zeigen nicht nur die Unangemessenheit einer Homogenitätsannahme von Sprache. Sie machen darüber hinaus ebenso wie die historischen Analysen zu den medialen Einflüssen der Schrift (Epping-Jäger, Krischer) deutlich, dass selbst einzelne mediale Formative wie etwa die Schrift nicht monomedial verstanden werden können, sondern nur über intermediale Verfahrenslogiken erfassbar sind.

Jan Schneider plädiert in seinem Beitrag für eine Rückholung der oralen Sprache in den medientheoretischen Diskurs und führt unter Rekurs auf Wittgensteins Ausführungen zur Unhintergehbarkeit der normalen Sprache vor, inwiefern die orale Sprache in ihrer Funktion als "Medium des Geistes" den Status eines anthropologisch grundlegenden Mediums beanspruchen kann. Ludwig Jäger begründet die Rolle der Sprache als "medialer Prototyp" mit der der Sprache eigenen "transkriptiven Verfahrenslogik", über die nicht nur die intramediale sprachliche Sinnkonstitution erfolgt, sondern auch andere intermediale Beziehungen organisiert werden. Das kollektive Gedächtnis lässt sich danach als ein "Raum kommunikativer Prozeduralität, d.h. als Raum performativer Erinnerungsverfahren" betrachten, dessen Genese und Fortschreibung nach dem sprachfundierten Prinzip transkriptiver Sinngenerierung erfolgt.

Empirische Bestätigung für die These von Ludwig Jäger liefert der Beitrag von Wiebke Iversen, in dem sie am Beispiel der mentalen Zahlenverarbeitung aufzeigt, wie die medialen und speziell auch die sprachmedialen Zahlenformate die Prozessierung von numerischen Operationen beeinflussen. Morag Josephine Grant, Mirjam Mericke & Deniza Popova gehen der Frage nach den intermedialen Relationen zwischen Musik und Text am Beispiel des bulgarischen Volksliedes und des Reggae nach und diskutieren in ihrem Beitrag die Transformationen musikalischer Traditionen durch den Einsatz neuer Medien sowie ihre Funktion für die Bildung und Konsolidierung kultureller Identitäten. Bianca Herlo demonstriert am Beispiel sprachlich-filmischer Interferenzen im Format der Fernsehdokumentation, wie durch intermediale Bezugnahmen differente Spezifika von Einzelmedien sichtbar werden, in dem durch die wechselseitigen Transkriptionsbeziehungen erst jedes der Medien in der Differenz zum jeweils anderen Medium beobachtbar wird.

Daß auch Veränderungen sprachlicher Formative etwa von der Oralität zur Literalität nicht als monomediale Effekte betrachtet werden dürfen, sondern durch intermediale Prozesse und Strukturen bestimmt sind, macht vor allem der Beitrag von Cornelia Epping-Jäger deutlich. Am Beispiel von Literalisierungsprozessen fokussiert Cornelia Epping-Jäger medieninduzierte Veränderungen von sprachlichen Inszenierungspraxen und zeigt dabei auf, dass die umfassenden medialen Auswirkungen der Schrift auf die kulturellen und kognitiven Wissensordnungen nur unter Einbeziehung ihrer Prozessierungsbedingungen adäquat erfasst werden können. Die Frage nach dem Einfluss medialer Praxen auf die Organisation des kulturellen Gedächtnisses wird auch von André Krischer aufgegriffen. In seinem Beitrag untersucht er anhand von schriftlichen Transkriptionen symbolisch-ritueller Handlungen, wie sich körperlich-rituelle Akte durch die schriftliche Fixierung verändern und welche Folgen sich daraus für die kulturelle Wissenstradierung ergeben.

Corinna Kaiser beleuchtet den Wandel kultureller Praktiken am Materialfeld der hebräischen Buchstaben und fokussiert dabei die mediengeschichtliche Veränderung ihrer Funktion von der Verschriftlichung des Hebräischen zum intermedialen Gebrauch als ornamentale Hybridfigur in alphabetisch geschriebenen Texten. Meike Adam widmet sich der Sprache-Bild-Relation am Beispiel von Gebärdenzeichen und Gesten und zeigt, dass die Bildlichkeit von Gesten und Gebärdenzeichen nicht als natürliche Objektreferenz, sondern als mediale Qualität des Zeichens begriffen werden muss. Ikonizität bedarf der kultur- und sprachgeleiteten Sichtbarmachung, sie wird also nur unter der Voraussetzung eines spezifischen semiologischen Wissens erkennbar, das sprachkulturell erworben werden muss. Auch der Beitrag von Gisela Fehrmann beschäftigt sich mit der Gebärdensprache Gehörloser. Am Fallbeispiel der deutschen Gebärdensprache (DGS) diskutiert Gisela Fehrmann strukturelle Effekte von Mündlichkeit auch für das visuell-räumliche Medium der Gebärdensprache. Wie ihre Ausführungen deutlich machen, vermag gerade auch die Modalitätsdifferenz zwischen gesprochener und gebärdeter Mündlichkeit den Blick auf die intermediale Verfahrenslogik sprachlicher Prozessierung zu lenken.

Mareike Buss greift das Beispiel der Ellipse auf, um die Schriftsprachdominanz bei der Sprachbeschreibung zu veranschaulichen. In ihrem Beitrag führt sie vor, inwiefern die Charakterisierung mündlicher Kurzformen als defizitäre Sprachstrukturen ein Effekt schriftsprachgeleiteter Normierungsprozesse darstellt und tritt vor diesem Hintergrund für die Annahme einer der schriftgeleiteten Grammatik gegenüber zu stellende mündliche Grammatik ein. Jörg Jost fokussiert Hybridbereiche zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit am Beispiel elektronischer Kommunikation und zeigt, dass die Analyse solcher Texturen nur gelingen kann, wenn die zwei Fragen, wie eine sprachliche Äußerung 'konzeptionell' strukturiert ist (z.B. literal) und wie sie 'medial' realisiert ist (z.B. oral), differenziert und beide gleichermaßen berücksichtigt werden. Luise Springer liefert schließlich anhand vergleichender Untersuchungen zum kommunikativen Verhalten von Aphasikern und Sprachgesunden beim Face-to-Face- und beim Chat-Dialog empirische Evidenz für die medieninduzierte Ausdifferenzierung sprachlicher Register und damit zugleich für die Annahme, dass Informationsgehalte nicht unabhängig von der Art ihrer medialen Vermittlung sind, sondern durch die medialen Formate geprägt sind, in denen sie geäußert werden.

© Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)


ANMERKUNG

(1) Vgl. dazu ausführlicher Gisela Fehrmann/Erika Linz: Resistenz und Transparenz der Zeichen. Der verdeckte Mentalismus in der Sprach- und Medientheorie, in: Jürgen Fohrmann/Erhard Schüttpelz (Hg.): Die Kommunikation der Medien, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 79-102 sowie Ludwig Jäger/Erika Linz (Hg.): Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, München: Fink 2004 [im Druck].


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For quotation purposes:
Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln): Bericht: Der Einfluss der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_2/fehrmann_bericht15.htm

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