Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Medialitäten von Musik und Sprache: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Mirjam Gericke [BIO] und Deniza Popova (Forum 440, Berlin)

 

Musikalische Kommunikation ermöglicht den Austausch nonverbaler, ja sogar nicht-verbalisierbarer Informationen zwischen Menschen. Sie bleibt also unverständlich, wenn man sie mit Hilfe eines Kommunikationsmodells zu beschreiben versucht, das sich ausschließlich auf sprachliche Inhalte konzentriert. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Musik immer in konkreten Situationen stattfindet, das heißt: inwieweit Informationen hier als bedeutsam wahrgenommen und verstanden werden können, hängt von der Situation und dem Kontext ab, in den sie eingebettet sind. Inhalte musikalischer Kommunikation sollten nicht nur als zu entschlüsselnder Text betrachtet werden, vielmehr als gemeinsame Aktivität, die Anschlussaktivitäten und damit neue Kommunikationsprozesse ermöglicht, sowohl mit semantischem wie auch mit nicht-semantischem Informationsgehalt.

Musik begreifen wir also als soziale Aktivität mit jeweils spezifischer struktureller Form und Funktion. Sowohl Form als auch Funktion verändern sich durch den Einsatz von Speicher-, Produktions- und Verbreitungs-Medien. Wechselwirkungen von Musik, Medien, sozialen Strukturen und kulturellen Praktiken lassen sich als fortlaufender ineinander verschränkter Prozess verstehen und beschreiben. Vielleicht ist genau dies der Punkt, an dem ein struktureller Vergleich von Musik und Sprache Sinn macht.

Musik und Sprache haben einige Medialitäten gemeinsam. (Als Medialitäten bezeichnen wir Zustände ihrer "Vermittlung", z.B. die Vermittlung durch auf Papier gedruckte Zeichen - Sprachtexte, Notentexte.) Primäre und oft einzige Medialität von Sprache und Musik ist der Klang. Es liegt also nahe, dass Sprache und Musik auch vergleichbare Speicher- und Übertragungsmedien gebrauchen, z.B. Schrift, Tonaufnahme bzw. -wiedergabe, und dass auch ihre Medialitäten ähnlichen Wandlungsprozessen unterworfen sind. Sprache wie Musik unterliegen Veränderungen ihrer jeweiligen sozialen Praktiken und Funktionen, die sich aus der Auflösung der raumzeitlichen Bindung von Kommunikation durch Schrift und der weiteren Beschleunigung dieses Prozesses durch die Tonaufzeichnung und -übertragung ergeben haben.

Der Vergleich von Musik und Sprache birgt allerdings Gefahren, wenn er sich nur auf den Vergleich zweier Oberbegriffe beschränkt und der Beschaffenheit der darunter gefassten Aktivitäten und Phänomene zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die Untersuchung von Speichermedien und ihrem Gebrauch darf die Eigenschaften und Potentiale der jeweils eingesetzten Zeichen- und Kommunikationssysteme nicht vernachlässigen.

Die Betrachtung musikalischer Kommunikation wirft ein grundlegendes Problem auf: Musik kann semantische Informationen und logische Verknüpfungen zwar mitvollziehen und verstärken, abschwächen oder ihren Bedeutungsschwerpunkt verschieben, aber sie transportiert auf der Ebene des Klangs keine semantischen Informationen, jedenfalls nicht auf die Art und Weise wie Sprache dies tut. Vielleicht kann der Unterschied zwischen den verschiedenen semiotischen Systembedingungen von Musik und Sprache als Gegensatz von semantischer und ästhetischer Information thematisiert werden, wie es u.a. Werner Meyer-Eppler, Abraham Moles und Umberto Eco in Bezug auf den Unterschied zwischen Alltagssprache und literarischem Kunstwerk beschrieben haben.(1)

Die mögliche Mehrdeutigkeit oder Ambivalenz von Musik, die sich aus den zahlreichen Decodierungsmöglichkeiten ergibt (man denke nur an die zahlreichen Versuche, sprachlich zu formulieren, was etwa in der Fünften Symphonie von Beethoven "gesagt" wird), lässt es nicht verwunderlich erscheinen, dass Klänge und mit Musik verbundene soziale Praktiken sich relativ problemlos auf andere soziokulturelle Kontexte übertragen lassen. Hierfür scheint zunächst kein tieferes Verständnis der ursprünglichen kulturellen Zusammenhänge notwendig - dass Partizipation am Klang möglich ist, durch körperliche Praktiken wie bspw. Tanz, gemeinsames Singen oder Erleben von Musik, reicht anscheinend für eine interkulturelle "Verpflanzung" musikalischer Klanggebilde aus. Dennoch sind solche Dekontextualisierungen nur scheinbar beliebig, meist gehen sie mit der Verpflanzung "außerklanglicher" kultureller Praktiken und Sinngehalte einher.

Diese Überlegungen lassen klassische Kommunikationsmodelle wie jenes von Shannon und Weaver problematisch erscheinen.(2)

Beispielsweise muss im Falle musikalischer Interpretation zwischen Quelle(n) und Sender(n) von Information differenziert werden(3), etwa zwischen einem Pianisten als Sender und einem Komponisten als Quelle. Weiterhin müssen die zwischen Quelle, Sender und Empfänger wirksamen Medien mit einbezogen werden (Notation, Klavier, raumakustische Gegebenheiten, Tonträger, Musikanlage usw.). Wie steuert das Medium die Produktion - etwa durch die Spieltechnik des Klaviers oder den Code der Notation? Welche Fehler und Störungen birgt der Übermittlungsprozess, wie kann das Medium die Information verändern? Und schließlich lässt das Sender-Empfänger-Modell die Möglichkeit unberücksichtigt, dass zwischen den Kommunikationsteilnehmern und den Elementen der Kommunikation direkte oder indirekte Rückkopplung oder Interaktion stattfinden kann und aus der (musikalischen/sprachlichen) Kommunikation weitere Aktivitäten folgen können.

Dekontextualisierung soziomusikalischer Aktivitäten und damit einhergehend auch Veränderungen der Inhalte musikalischer Kommunikation werden durch den Einsatz von Medien überhaupt erst ermöglicht - in jüngster Zeit haben sich die Möglichkeiten der "Verpflanzung" von Musik durch die Entwicklungen v.a. digitaler Technik global in ungeahntem Maße potenziert. Eine Analyse dieser Zusammenhänge wird damit noch komplizierter. An zwei Beispielen, die geographisch weit auseinander liegen, möchten wir daher folgende Fragen nur sehr verkürzt anreißen: Wie wird durch Musik kommuniziert? Welche Informationen werden vermittelt? Wie verändern Medien diesen musikalischen Kommunikationsprozess?

Am Prozess der musikalischen Kommunikation interessieren hier vor allem zwei Aspekte:

1.) die gemeinschafts- oder identitätsstiftende Funktion von Musik

2.) das Musik inhärente Potential zur erfolgreichen Neukontextualisierung, d.h. Ablösung aus ursprünglichen kulturellen Kontexten und Implantation in andere.

Unser erstes Beispiel ist das sehr bekannte bulgarische Volkslied: "Dilmano Dilbero, sag mir wie der Pfeffer gepflanzt wird". Es wurde früher ausschließlich in Westbulgarien gesungen, von Männern, in der Hochzeitsnacht, vor dem Fenster der Brautleute, untermalt durch die Darstellung entsprechender erotischer Bewegungen. Aus diesem genau bestimmten Kontext heraus hat das Lied einen langen "Marsch durch die Medialitäten" angetreten - von der rituellen Praxis zur Verschriftlichung und Speicherung im Archiv, weiter zur ersten Bearbeitung des Liedes für ein "volkstümliches" Ensemble, bis hin zur Distribution dieser Bearbeitung durch Notenschrift, Druck und Konzerte (seit 1952). Das Lied wurde und wird auf CD aufgenommen, vermarktet und weltweit als bulgarischer Beitrag zur "Weltmusik" verkauft und reproduziert. Text und Melodie des Liedes sind, soweit man das zurückverfolgen kann, dabei relativ unverändert geblieben (unveränderter sogar, als in rein mündlicher Überlieferung zu erwarten wäre). Doch der Bedeutungsgehalt hat sich vollkommen verändert: Das Lied gilt heute als Symbol für Bulgarien schlechthin, sein ursprünglicher, durch den Kontext des Hochzeitsritus bestimmter Kommunikationsinhalt ist völlig verschwunden.

"Weltmusik" ist ein Marktsegment, das aus kulturell und geographisch verorteter und zugleich "versetzter" Musik besteht. Die Elemente dieser lokal verorteten Musiken oder Musiktraditionen werden häufig zu neuen hybridisierten Klangprodukten kombiniert. Dieser Prozess wird wesentlich ermöglicht durch die neuen technischen Möglichkeiten der modernen Studiotechnik und der Tonaufnahme und -wiedergabe, die jede Art von Musik potenziell überall und jederzeit verfügbar machen. Hybridisierung und Vermischung kulturell weit voneinander entfernter Musiken und die massenhafte Verbreitung populärer Musik sind zwar kein neues Phänomen, dennoch ist der heutige Wandel signifikant, was Intensität, Geschwindigkeit und Verbreitungsgrad des Wandels angeht. "Weltmusik" konnte durch die veränderte Medialität von Musik überhaupt erst entstehen.

Auch die Musikrichtung "Reggae" - unser zweites Beispiel - ist durch veränderte technische Möglichkeiten wie Radio-, Lautsprecher-, Verstärker- und Studiotechnologie, Mehrspurtechnik sowie später das Sampling und den damit veränderten Medialitäten weltweit bekannt und erfolgreich geworden. Das gilt aber nicht nur für den Musikstil, sondern auch und vor allem für die dazugehörigen sozialen Praktiken. Die aus diesen technischen Möglichkeiten entstandenen soziomusikalischen Praktiken wie z.B. "Toasting" (Sprechgesang), "Dubbing" (Verfremdung von Originalaufnahmen durch Manipulieren der einzelnen Tonspuren) oder "Remixes" und "B-Versions" sind für eine Betrachtung des medialen und sozialen Wandels ausgesprochen interessant. Uns geht es hier aber um einen anderen Punkt: Reggae, und dadurch auch die religiöse Praxis des Rastafarianismus bzw. einige ihrer Elemente, wurden zu einer weltweiten Mode mit anhaltendem Erfolg. Dreadlocks, Haschrauchen und die Farben der äthiopischen Flagge - Rot-Gold-Grün - wanderten in die Popkultur ein und wurden zum Synonym für Reggaekultur bzw. zum Symbol für Widerstand und politisches Bewußtsein. Die Verbreitung und Vermittlung von Symbolen und Praktiken der Rastafari außerhalb Jamaikas ist nicht denkbar ohne die Verbreitung von Reggae-Musik über einen internationalen Musikmarkt.

Das verdeutlicht, dass musikalische Kommunikation nicht allein im Klang stattfindet, sondern in einer spezifischen Verbindung von Klang und zugehörigen Aktivitäten, Praktiken und Symbolen, durch die Identität produziert wird und die, ebenso wie der semantische Informationsgehalt von Kommunikation, medialen Wandlungsprozessen in ganz bestimmter Weise unterworfen sind.

© Mirjam Gericke und Deniza Popova (Forum 440, Berlin)
Forum 440: Gericke, Popova; www.forum440.de


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Meyer-Eppler, Werner: Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie. 2. Aufl., neubearb. und erw. Berlin 1969. (= Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen. 1.); Moles, Abraham: Information Theory and Aesthetic Perception. o.O. 1966.; Eco, Umberto: A Theory of Semiotics. Bloomington 1976 .

(2) Vgl. Shannon, Claude E.; Weaver, Warren (Hrsg.): Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München 1976.

(3) Vgl. Christian Kaden, Musiksoziologie, Berlin 1984, 95ff.


6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Mirjam Gericke und Deniza Popova (Forum 440, Berlin): Medialitäten von Musik und Sprache: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_2/gericke15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 10.9.2004    INST