Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

6.3: Sprachenvielfalt, kultureller und literarischer Kontakt im Europa des Hochmittelalters: abschreckendes Beispiel oder Vorbild für die Gegenwart?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Hermann Reichert (Universität Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Sprachenvielfalt, kultureller und literarischer Kontakt im Europa des Hochmittelalters: abschreckendes Beispiel oder Vorbild für die Gegenwart?

Hermann Reichert (Universität Wien)

 

Lösungen für die Zukunft suchen wir aus der Erfahrung der Menschheit. Aber sind die Probleme früherer Kulturen mit unseren vergleichbar? Man brauchte im Mittelalter von Italien bis Nordeuropa zwei Monate. Heute geht es schneller, aber: lesen Sie nur Romane, die weniger als zwei Monate alt sind? Sogar im Internet besuchen Sie manchmal ältere Seiten. Für die Ausbreitung von Literatur und anderen geistigen Konzeptionen ist die Reisegeschwindigkeit irrelevant. Die Leute reisten im Mittelalter viel, waren neugierig auf Berichte aus fremden Ländern, und dadurch nahm man vielleicht schneller geistige Strömungen auf als heute.

Wie nahmen Reisende und Gastgeber einander wahr?

Eine Beschreibung der Route von Rom nach Dänemark aus dem 13. Jh. lautet zum Pustertal: "Die Quartiere waren schlecht und nirgends so teuer wie hier." Der Einheimische erlebte den Fremden als Devisenbringer, und der Gast fühlte das. Unser Fremder wollte aber nicht nur billige Quartiere, sondern merkte in seinem Bericht auch Verschiedenes über Geschichte und Literatur des durchreisten Landes an.

Die Beschaffung historischer Quellen für derartige Untersuchungen ist ein technisches Problem. In der Sektion wurde daher auch über Strategien zur digitalen Bereitstellung von Urkunden aus Archiven von Ordensstiften diskutiert. Mehr Raum als die Technik nahmen aber Fallbeispiele für das Erleben fremder Kulturen von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit ein. Dafür dienten in einem Fall altgermanische Völkernamen, die nicht von dem betreffenden Volk selbst, sondern von Nachbarvölkern gegeben waren, und oft so wenig ehrende Bedeutungen hatten wie 'Kuhdiebe ' oder 'Tölpel'. Zwei Referate gingen auf alte Sprachlehrbücher ein. Hier zeigt sich: die Lehrbücher gingen von der Fiktion aus, daß die Sprecher beider Sprachen interessiert waren, die Sprache der anderen zu lernen: wie ein Beheim Deutsch, deßgleichen ein Deutscher Behemische lesen schreiben und reden lernen soll und ähnlich steht es zweisprachig in den meisten Vorworten. Tatsächlich gibt es aber Zeichen dafür, daß mehr Böhmen Deutsch zu lernen bereit waren als Deutsche Böhmisch. Auch heute bemühen wir uns, alle Menschen und ihre Sprachen als gleich wertvoll darzustellen; der ökonomische Verkehrswert der Sprachen ist aber unterschiedlich, und dagegen sind wir heute wie einst machtlos. Unterschiedliche Kulturlandschaften gibt es auch innerhalb des selben Sprachgebiets: ein Referat zeigte, daß sogar die in verschiedenen Landschaften verfaßten deutschen Bearbeitungen eines spätmittelalterlichen Buches über das Schachspiel bei der Erklärung, welche Berufe die damaligen Schachfiguren darstellten, provinzielle Besonderheiten einbrachten. Provinzialität, nicht an Neuerungen eines Zentrums teilhaben, ist heute negativ besetzt; sie ist aber oft nicht Mangel an Fähigkeit zur Aufnahme von Neuerungen des Kulturzentrums, sondern Bedürfnis.

Wolfram von Eschenbach läßt die internationale Ritterkultur, die französisch ist, von Menschen schwarzer Hautfarbe und von Heiden ehrlicher und verständnisvoller ausgeübt werden als von westeuropäischen Christen. Die Wertigkeit der Peripherie im eignen Kulturkreis betont er, indem er in seinem Parzival-Roman sogar eine Szene bringt, in der die Helden in der Südsteiermark gegen 'edle Windische' ein Turnier austragen. Die Verständigung, die zur Internationalisierung der Kultur nötig ist, schafft Wolfram, indem sogar gebildete Mohren in Afrika Französisch lernen. Nicht die Sprache der Bildung, Latein, hat diese Macht, sondern die der Königshöfe, Französisch.

Kurz: das 'Verbindende der Kulturen' bestand in den von uns untersuchten Epochen darin, daß geistige Konzepte von Gleichwertigkeit vermittelt wurden, denen eine Praxis gegenüberstand, in der die mit mehr Macht verbundenen Sprachen und Kulturen sich auf Kosten der anderen ausbreiteten, sich sogar über sie lustig machten.

Was Sie für die Bewältigung der Probleme unserer Gegenwart zum Brückenbau in die Zukunft heraushören, ob:

- es stand gebildeter Menschheit allzeit an, auf die Unterschiedlichkeit, aber Gleichwertigkeit der Kulturen, Sprachen und Menschen hinzuweisen, oder:

- die stärkere Kultur setzte sich doch immer durch, also lernen wir nur Englisch und feiern diese Tage Halloween, statt den Krampus am 5. Dezember kommen zu lassen

- das ist Ihre Entscheidung.

© Hermann Reichert (Universität Wien)

6.3: Sprachenvielfalt, kultureller und literarischer Kontakt im Europa des Hochmittelalters: abschreckendes Beispiel oder Vorbild für die Gegenwart?

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Hermann Reichert (Universität Wien): Bericht Sektion 6.3: Sprachenvielfalt, kultureller und literarischer Kontakt im Europa des Hochmittelalters: abschreckendes Beispiel oder Vorbild für die Gegenwart?. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_3/reichert_report15.htm

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