Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2005
 

7.2. Translation and Culture
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gertrude Durusoy (Izmir) / Katja Sturm-Schnabl (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Menschliche Verbrüderung durch Übermittlung nationaler Kulturen

Alfredo Bauer (Buenos Aires)
[BIO]

 

Goethe prägte den Begriff "Welt-Literatur". Man müsste ihn, den großen Humanisten, schlecht kennen, um zu glauben, dass es ihm da nur um Kunst und Kultur ging und nicht vor allem um menschlich-sittliche Gemeinsamkeit.

Dass die Kunst ein Mittel der Verständigung zwischen den Völkern ist, wer wollte das leugnen? Doch bedürfen nicht alle Kunst-Formen der Arbeit des Vermittelns in gleichem Masse. Was an die Sprache gebunden ist, verlangt dem, der sich diese Aufgabe stellt, einen besonderen Beitrag, eine besondere schöpferische Kraft ab. Es muss kaum gesagt werden, dass seine Arbeit keine rein technische ist. Vielmehr müssen die Unterschiede der Geistes-Haltung, der National-Kultur eines Volkes dem anderen spürbar, begreifbar und nutzbar gemacht werden.

Solche Unterschiede können freilich dazu beitragen, Gegensätze und Zwistigkeiten zu verschärfen. Wer sich aber mit literarischem Übersetzen, mit "Nach.Dichten" befasst, der sollte den sittlichen Auftrag verspüren, dem entgegenzuwirken, und vielmehr versuchen, für die Eigenart eines Volkes weltweit Interesse und Verständnis zu wecken.

Interesse und Verständnis, das sind Vorbedingungen für die Sympathie. Internationalität der Gesinnung bedeutet keineswegs nationalen Nihilismus, der nur geistige Armut wäre. Sie bedeutet im Gegenteil respektvolle Anerkennung, gegenseitiges Mit-Empfinden und Einheit in der Verschiedenheit.

Wir sagen nicht zu viel, wenn wir behaupten, dass der Übersetzer literarischer Texte ein echter Dichter sein muss. War Martin Luther das nicht? Waren es nicht die Schlegels, Ludwig und Dorothea Tieck, Wolf Baudissin und die anderen deutschen Shakespeare-Übersetzer? Waren es nicht Karl Streckfuss und Richard Zoozmann mit ihren Dante-Übersetzungen? Aber auch Goethe glaubte nicht, Zeit und Schöpfer-Kraft zu vergeuden, wenn er Dantes, Shakespeares, Voltaires Werke ins Deutsche übertrug. Ebenso wenig wie Schiller, wie Hölderlin, wie Hugo von Hofmannsthal, wenn sie deutsche Fassungen griechischer Theaterstücke herstellten.

Die echten, verständnisvollen Übersetzer und Nachdichter hielten immer viel von ihrer Kunst und waren immer unerbittlich mit jenen, die pedantisch am Buchstaben klebten, aber nicht den Sinn in sich aufzunehmen und wiederzugeben imstande waren. Zwei Beispiele mögen da zitiert sein. Dies erläutert Martin Luther in seinem

"Brief an den ehrbaren und fuerstlichen N., seinen guenstigen Herrn und Freund.....

Ich hab mich des geflissen im Dolmetschen, dass ich rein und klar Deutsch geben
moechte. Und ist uns wohl oft begegnet, dass wir vierzehn Tage, drei, vier Wochen
haben ein einiges Wort gesucht und gefragt, haben´s dennoch zuweilen nicht funden.
.....dass wir in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen konnten fertigen. Lieber, nun es
verdeutscht und bereit ist, kann´s ein jeder lesen und meistern; laeuft einer jetzt mit den
Augen durch drei oder vier Seiten und stoesst nicht einmal an, wird aber nicht gewahr,
welche Wacken und Kloetze da gelegen sind, da er jetzt ueber hingehet wie ueber ein
gehobeltes Brett, da wir haben muessen schwitzen und uns aengsten, ehe denn wir
solche Wacken und Kloetze aus dem Wege raeumeten, auf dass man koennte so fein
daher gehen. Es ist gut pfluegen, wenn der Acker gereinigt ist; aber den Wald und die
Stoecke ausrotten und den Acker zurichten, da will niemand an..
..... Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man
soll deutsch reden, wie diese Esel tun; sondern man muss die Mutter im Hause, die
Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und
denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; so verstehen sie es denn
und merken, dass man deutsch mit ihnen redet."

Führen wir dazu noch eine Meinung aus einer anderen Sprache, aus einem anderen Kultur-Kreis an, nämlich die des spanischen Mönchs und Dichters Luis de Leon (1527-1591). (Wobei ich mich freilich selbst solcher Regeln befleißigen muss, um die spanischen Sätze richtig deutsch wiederzugeben).

"Von dem, was übersetzt ist, prüfe vorerst, wer da Richter sein will, was es heißt,
elegante Gedichte aus einer Sprache, die nicht die seine ist, zu übertragen, ohne einen
Satz hinzuzufügen oder einen wegzulassen; und so weit wie möglich die Grazie, die
Anmut zu erhalten, dass sie kastilianisch reden nicht wie Fremde oder Neuankömm-
linge, sondern wie ein hier natürlich Geborener. Ich sage nicht, dass ich´s getan hätte,
denn so eingebildet bin ich nicht. Aber zu tun versucht hab ich´s, und das bekenne ich.
Und wer behauptet, ich hätte es nicht geschafft, der versuche es selbst, dann mag es
sein, dass er meine Arbeit höher einschätze. Ich hab mich ihr ja gewidmet, um zu
zeigen, dass unsere Sprache alles, was man ihr bringt, gut aufnimmt, und dass sie nicht
hart und arm ist, sondern bildsam wie Wachs und reich, wenn einer sie zu behandeln
versteht."

Hier in Buenos Aires fand vor kurzem ein Seminar statt über das Thema: "Zweisprachigkeit in der Literatur". Organisiert wurde es von Frau Professor Regula Langbehn-Rohland. Sie meinte, dass beim deutsch-spanischen Sprachenpaar vor allem Menschen zu Wort kommen müssten, die seinerzeit aus Nazi-Deutschland geflohen und jetzt in Argentinien, in Lateinamerika ansässig waren. Sie durfte annehmen, dass denen, wenn sie überhaupt literarisch interessiert waren, beide Sprachen geläufig seien. Freilich genügte das noch nicht. Beide Milieus, beide Kulturen und nationale Besonderheiten mussten ihnen vertraut sein. Das war meist auch der Fall. Das Unglück, das Unrecht ihrer erzwungenen Verpflanzung hatte eine Bereicherung ihrer Persönlichkeit bewirkt. Dafür war freilich ein Preis zu entrichten. Wer in zwei Kultur-Kreisen zu Hause ist, dem muss in beiden manches an Tiefe verloren gehen, verglichen mit denen, die ihr ganzes Leben im gleichen Lande verbringen.

Es gibt ein bedeutendes Werk der argentinischen Literatur, eines das den größten Werken der Welt-Literatur zur Seite gestellt werden kann: das Gaucho-Epos "Martin Fierro" von Jose Hernandez (1834-1886). Es ist geschrieben in gereimten, achtsilbigen Versen, in aus je sechs Versen bestehenden Strophen, wie sie die Volks-Sänger zur Gitarre sangen und auch heute noch singen. In diesen Volks-Dichtungen kommt das Natur-Erlebnis und dessen Poesie zum Ausdruck; aber auch die Problematik der einfachen Leute, deren schlichte, als gottgegeben empfundene Lebensweise in Frage gestellt wird durch den mehr oder minder gewaltsamen Einbruch land- und artfremder, "teuflisch-sündhafter" Kräfte, durch den so genannten Fortschritt, den seelenlosen Kapitalismus. Rückständig und konservativ mag eine solche Reaktion, eine solche Einstellung sein, jedoch alles andere als primitiv. Und auf welcher Seite die Weisheit, die Sittlichkeit anzutreffen ist: diese Frage ist gar nicht leicht zu beantworten.

Wenn die Kulturen, die einander verständlich gemacht und nahe gebracht werden sollen, sich nicht nur in ihrer Art, sondern auch in dem von ihnen erreichten wirtschaftlich-gesellschaftlichem Niveau grundlegend voneinander unterscheiden, dann hat es der Vermittler, der Nach-Dichter besonders schwer. Den ethischen Wert einer "rückständigen" Kultur den "höher Entwickelten" begreifbar und fühlbar zu machen, das ist wahrhaftig kein leichtes Unterfangen. Mir ist es mitunter passiert, dass man lateinamerikanisches Kultur-Gut, das ich in der "entwickelten Welt" einbringen wollte, als "primitiv" abtat. Da war ein Stück Eurozentrismus dabei. Und wenn man, was ich zeigte, als "Exotik" gelten ließ, so wurde es dessen wirklichem Inhalt auch nicht gerecht. Dazu kam manchmal sogar, dass man mein Bestreben, dieses "primitive" Kultur-Gut aufzuwerten, als "Nationalismus" abtat. Die Begriffe "national" und "patriotisch" haben in Deutschland und Österreich, immer noch einen einigermaßen schlechten Klang. Was freilich seine historischen Ursachen hat; denn zu oft und zu lange sind sie von stock-reaktionären Kräften missbraucht worden. Da versteht man eben gar nicht, dass zwischen dem Patriotismus einer abhängigen, zurück- gesetzten Nation und dem so genannten Patriotismus einer Großmacht, die andere Länder verachtet und unterjocht, ein himmelweiter Unterschied besteht.

Jede Kolonial-Herrschaft ist ein schweres Unrecht. Sie beinhaltet immer extreme Ausbeutung und Kultur-Zerstörung, und fast immer auch den Genozid. Dennoch ist es nicht gleichgültig, welche innere Struktur die Macht, die ein Kolonial-Reich errichtet, aufweist. Im Falle Spaniens war, -und nicht erst in der Neuen Welt, sondern schon bei der so genannten "Reconquista", die Aneignung der wirtschaftlich und kulturell blühenden Moslem-Länder, die wirtschaftlich, sozial und kulturell rückständigere Struktur militärisch siegreich. In Portugal war es ähnlich. Das gab beiden Ländern, zu ihrem eigenen Unglück, "leichten Reichtum": Edelmetalle, Edelsteine, Gewürze und "Kolonial-Waren", während andere Länder eine gesunde Wirtschaft aufbauten. Ins spanische und ins portugiesische Kolonial-Reich wurden feudale Strukturen verpflanzt, vor allem das Latifundium, das in vielen heute unabhängigen Ländern immer noch die wirtschaftliche Struktur prägt.

Aber auch das sich in der argentinischen Pampa spontan vermehrende Rindvieh war "leichter Reichtum"; was freilich erst erkennbar wurde, als man lernte, das Fleisch zu konservieren. Vorher hatte es keinen Tausch-Wert gehabt, und daher der Boden, der nichts als Vieh hervorbrachte, auch keinen.

In der Pampa lebten aber nicht nur Rinder, sondern auch Menschen. Das waren die "freien Gauchos", Halb-Nomaden, die mit Pferd und Rind großartig umgehen konnten, die mit der Natur in Symbiose lebten und sich da ihre Nahrung holten. Woran sie, solange das Fleisch nicht konservierbar, also verkaufbar war, niemand hinderte. Dann aber wurde es sehr plötzlich anders. Nicht mehr hatte der Gaucho nur mit Gott und der Natur zu tun, sondern mit dem Grundbesitzer, der jetzt die Lehens-Urkunde vorwies, die einmal irgendein spanischer Monarch seinen Ahnen ausgestellt hatte. Und der Gaucho, der immer mit dem frei herumlaufenden Rindvieh seinen Hunger gestillt hatte: jetzt war er plötzlich ein Viehdieb.

Der Gaucho wehrte sich gegen den "Fortschritt", gegen die bürgerliche Ordnung, soll heißen gegen die Veränderung von Besitz-Verhältnissen, die seine Existenz garantiert hatten und die er als rechtmäßig empfand. Wie immer, wenn Besitz-Verhältnisse und Klassen-Interessen im Spiel sind, wurde der Kampf mit maßloser Grausamkeit geführt. Manche Gauchos wurden durch jene Grausamkeit, in legaler oder illegaler Form dazu gebracht, sich als halbhörige Knechte auf den Estancias, den großen Vieh-Gütern zu verdingten. Die anderen schleppten eine elende Existenz als "Freie Gauchos" noch eine Weile fort, bis der letzte von ihnen einem Polizei-Säbel zum Opfer fiel.

Bitter beklagt sich im "Martin Fierro" der Gaucho darüber, dass man ihn, der keinem Böses tat und nur auf seine althergebrachte Weise in Ruhe weiterleben will, zum "Outlaw" macht.

"Vernehmt also hier, was dieser
verfolgte Gaucho erzählt,
der nie seine Pflicht verfehlt
als Vater und Mann vorzeiten,
der aber doch von den Leuten
wird zu den Räubern gezählt."

Es kommt fast nie vor, dass das große Kunstwerk einer Nation den Stempel einer Klasse trägt, die historisch nicht im Kommen, sondern vielmehr zum Untergang verurteilt ist. Beim "Martin Fierro" war das der Fall: da wird der moralische Sieg des Besiegten, die höhere Sittlichkeit des materiell Unterlegenen dargelegt. Es kommt nicht von ungefähr, dass in Argentinien, als die Besitzer-Klasse ihre Macht errichtete und festigte, nicht nur die Tragödie des Rebellen als Dichtung entstand, sondern dass diese auch, bis heute und heute nur umso mehr als das große nationale Kunstwerk allgemein anerkannt und gewürdigt wird.

Während der "Martin Fierro" in alle Kultursprachen übersetzt ist, - es gibt beispielsweise sechs englische und fünf italienische Nachdichtungen; es gibt eine russische und eine chinesische, die beide in Millionen-Auflagen erschienen-, gab es im Deutschen keine allgemein zugängliche. Die von dem Österreicher Adolf Borstendörfer hergestellte ist längst vergriffen; und die von Max Tepp und Siegfried Cohn konnte nicht einmal verlegt werden. Keine der drei hat mich, obgleich sie hohes Niveau haben, ganz befriedigen können.

Ich habe deshalb selbst eine Nachdichtung angefertigt und, mit Hilfe der Professoren Ulrich Mueller und Gerhard Giesa wurde sie in Stuttgart (Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz) im Jahre 1995 verlegt.

Es gibt neben dem "Martin Fierro" eine große Anzahl von Gaucho-Dichtungen: von Rodolfo Bartolome Aprile, von Maria de Villarino, Atahualpa Yupanqui, Jose Larralde, M. Roman und etlichen anderen. Sie reichen freilich an den "Martin Fierro" nicht heran, haben aber doch hohes Niveau. Von einigen hat mein Freund Gerhard Giesa Nachdichtungen angefertigt, und sie werden in Kürze erscheinen. Besonders erwähnt zu werden verdient wohl der "kreolische Faust" von Estanislao del Campo (1834-1880), dessen von mir angefertigte Nachdichtung Giesa in seine Sammlung aufgenommen hat. Es handelt sich um eine lustige Erzählung in Versen, die aber reich und gehaltvoll ist und einen tiefen Sinn hat Der biedere Gaucho Anastasio "el Pollo" (das Hähnchen) kommt in die Hauptstadt, weil eine da etablierte, englische Export-Firma ihm Geld für gelieferte Wolle schuldig ist. Aber die Handels-Leute lassen sich verleugnen oder vertrösten ihn; die Absicht, ihn zu prellen, ist klar; aber der schlichte Mann ist ihren Listen und Finten ja doch nicht gewachsen. Was nun anfangen in dieser mysteriösen, feindlichen Stadt? Er sieht eine Menge Karossen vor einem großen Gebäude stehen. Es ist das vor kurzem erbaute Teatro Colon; und er geht hinein, um zu sehen, was da los ist. Es wird die Oper "Faust" von Gounod aufgeführt. Und etwas ganz Tolles geschieht: der leibhaftige Teufel erscheint, und er nimmt auch nicht Reißaus, als Don Anastasio sich pflichtschuldig bekreuzigt. Das Erlebnis passt zu der Stimmung des biederen Gauchos, zu der Erfahrung, die er in dieser verteufelten Stadt gemacht hat.

Jahrzehnte später hat ein anderer bedeutender argentinischer Schriftsteller, Manuel Mujica Lainez (1910-1984), ganz richtig festgestellt, daß das Erlebnis des Don Anastasio gar nicht zur Gänze dargestellt ist. Also erzählt er, im selben Vers- und Reim-Schema, was da noch fehlt. Der Gaucho steht, -er wartet immer noch darauf, dass diese Gringos bezahlen, was sie ihm schuldig sind!- an einer Straßen-Ecke der Stadt Buenos Aires; da kommen die Strasse entlang spaziert ..... der Doktor Faust, die blonde Margarita und der Teufel. Sie treten ins Cafe de Paris, und der Gaucho folgt ihnen. Man setzt ihnen irgendein Gesöff vor. Das kann nur ein Zaubertrank sein. Der Böse will sich also immer noch nicht damit abfinden, dass diese arme Seele ihm nicht dienstbar sein soll. Das kann der Gaucho als guter Christ nicht dulden: er springt hinzu und fegt Flasche und Gläser vom Tisch. Die drei schreien Zeter Mordio, die Polizei kommt und Don Anastasio wird verhaftet. Der Dichter Mujica Lainez leistet sich, wenn er erzählt, noch einen Extra-Spaß. Der Dichter Estanislao Del Campo, der bekanntlich Hauptmann der Miliz war, erfährt von der Sache, legt beim Gouverneur für Don Anastasio ein gutes Wort ein und erwirkt dessen Freilassung. Der aber hat nun endgültig genug von dieser verteufelten Stadt. Er lässt die Schuld Schuld sein und trabt schleunigst in sein Dorf Bragado zurück. Und er diktiert einem, der lesen und schreiben kann, einen Brief an seinen Kumpan Don Laguna über sein neues Abenteuer mit dem Teufel:

"Es gibt ja übles Gelichter,
mit dem zu handeln nicht frommt.
Wenn aber Mandinga(1) kommt,
könnt Ihr nicht rufen den Richter."

Diese Geschichte, Mujica Lainez´ Fortsetzung, steht in der Sammlung historischer Erzählungen, die "Misteriosa Buenos Aires" betitelt ist, und die einen Überblick über die Geschichte der Stadt gibt, von ihrer Gründung im Jahre 1536 bis zur Gegenwart. Ich habe beide Dichtungen, die des Estanislao Del Campo und die des Mujica Lainez, ins Deutsche übertragen, und sie sind in der von Gerhard Giesa herausgegebenen Sammlung enthalten.

Ebenso wie mein kurzer Roman über das Leben des Jose Hernandez.

Ich habe aber noch ein weiteres, dem deutschsprachigen Publikum so gut wie unbekanntes Werk durch Nachdichtung diesem zur Kenntnis zu bringen versucht. Nämlich das "Buch von guter Liebe" des Juan Ruiz, bekannt unter der Bezeichnung "Erzpriester von Hita"(1283-1350) Ja, er war ein Kleriker, und er lebte in El Andalus, das erst vor kurzem dem Islam entrissen und dem Christentum wieder einverleibt worden war. Spurlos aber war die "heidnische Lebens-Freude" an den Menschen in Süd-Spanien durchaus nicht vorübergegangen, und den christlichen Leidens-Kult machten sie bestenfalls pro forma mit. Damals war Spanien nicht nur das Land der Freude, sondern auch der Toleranz. Und nicht nur der südliche Teil, wo der Islam den Lebens-Stil geprägt hatte, sondern durch Ausstrahlung auch der nördliche, wo das Christentum verwurzelt war. Man lebte, auch wenn man einander militärisch und politisch bekämpfte, zusammen und respektierte einander. Nicht einmal vom Heiligen Stuhl ließen sich die christlichen Monarchen vorschreiben, dass sie keine jüdischen Minister haben und mit ihren mohammedanischen Nachbarn keine gemeinsamen Feste feiern dürften.

Aber freilich, wenn ein christlicher Priester von der Kanzel herab lustige Geschichten erzählte, wenn er Ratschläge gab, wie ein Mann in der Liebe erfolgreich sein könne, wenn er zum besten gab, wie der verfressene Don Carnal in der Schlacht gegen die magere Doña Quaresma siegte, und wie er beim Aufbegehren gegen die Bußfertigkeit von den Juden Unterstützung erhält, da konnte er doch Unannehmlichkeiten haben. Der Erzbischof von Sevilla wusste zu schätzen, dass im Kirchspiel von Hita die Leute nicht nur fröhlich und tolerant, sondern auch brav und hilfsbereit waren. Dem von Toledo aber, der weiter entfernt residierte, war anderes wichtiger. Zumal Juan Ruiz seine lustigen Geschichten nicht nur von der Kanzel zum Besten gab, sondern sie auch, schön gereimt, in einem Büchlein verewigte. Und nicht etwa in gelehrtem Latein, sondern in der kastilianischen Volkssprache, so dass jeder es lesen oder sich vorlesen lassen konnte Das Buch wurde abgeschrieben und zirkulierte massenweise in ganz Spanien. Das war denn doch zu viel. Unter solchen Umständen war dann wohl auch von Bedeutung, daß im Kirchspiel von Hita ein paar Buben und Mädchen herumliefen, die dem Erzpriester sehr ähnlich sahen. Juan Ruiz kam ins Gefängnis; und das Büchlein ließ der Heilige Vater auf den Index setzen.

Oder verfing vielleicht trotz allem die abgefeimte Finte, die der Autor gebraucht hatte? Im Vorwort hatte er nämlich folgendes geschrieben:

"Deshalb habe ich mit meiner wenigen Wissenschaft und meiner vielen und großen
Rohheit, wohl wissend, wieviel Gutes der Seele und dem Leibe verloren geht, und
wieviel Böses ihnen erwächst durch die tolle Liebe der Welt, gern und mit gutem
Willen Erlösung und Glorie des Paradieses für meine Seele gewählt und diese kleine
Schrift verfasst im Gedenken an das Gute; und dieses neue Buch zusammengestellt, in
dem ein wenig die Art und Weise und die höchst verderblichen Feinheiten der tollen
Liebe der Welt beschrieben sind, die manche Leute gebrauchen, um zu sündigen. Wenn
dies lesen und hören Mann oder Frau von gutem Verstand, die erlöst sein wollen,
werden sie es wohl vermeiden, also zu handeln; und so werden sie sagen können mit
dem Psalmisten: ´Viam veritatis etc.´. Andererseits aber werden die von geringem
Verstand auch nicht der Verdammnis anheim fallen. Denn wenn sie dies lesen und dabei
an das Böse denken, das sie tun oder zu tun beabsichtigen, oder wenn die Leicht-
sinnigen ihre schlimmen Künste und Finten beschrieben finden und die höchst
betrügerische Weise, die sie gebrauchen, um zu sündigen und die Weiber zu
verführen, dann werden sie gewiss einsichtig sein und an ihren guten Ruf denken. Denn
höchst grausam ist, wer seinen Ruf missachtet. Das Gesetz sagt es. Und sie werden
eher sich selbst mehr lieben als die Sünde, weil ja die rechte Menschenliebe bei sich
selbst anfängt. Das Gesetz sagt es. Und die Finten und die bösen Künste der tollen
Liebe werden sie verwerfen und verabscheuen, weil ja diese die Seele ins Verderben
führt, den Zorn Gottes herausfordert, das Leben verkürzt, schlechten Ruf und Ehrlosigkeit
bringt und dem Leibe unermesslichen Schaden zufügt."

In der Tat, das hier Empfohlene ist zu brav, zu fromm, um nicht verdächtig zu sein. Wer aber noch zweifeln sollte, ob es nicht doch ernst gemeint sein könnte, der lese weiter:

"Es ist aber freilich menschlich zu sündigen. Wenn sich daher einer, -was ich ihm
allerdings nicht raten möchte-, sollte der tollen Liebe ergeben wollen, so findet er hier
die Anleitung dazu. Dieses Büchlein wird also jedem nützlich sein: Mann und Frau,
Vernünftigen und Unvernünftigen; dem Verständigen, der Erlösung wählt in
Liebe zu Gott, und ebenso demjenigen, der der tollen Liebe nachstrebt auf seinem
Lebensweg. Alle werden mit Recht sagen können: 'Intellectum tibi dabo, et cetera'."

Nun ja, es ist schon ein starkes Stück. Und man wundert sich nicht, dass der gute Erzpriester in den Kerker kam. Aber er blieb dort nicht lange. Sogar in sein Kirchspiel wurde er wieder eingesetzt. Es gab damals in Spanien wohl auch Prälaten, die tolerant waren, die Spaß verstanden und es mit der formellen Moral, mit der christlichen Lebens-Feindschaft nicht so genau nahmen. Zwei oder drei Jahrhunderte später hat sich das freilich, Gott sei´s geklagt, grundlegend geändert.

Das "Buch von guter Liebe" freilich blieb auf dem päpstlichen Index, und wurde bis heute von diesem nicht getilgt. Allerdings hat das seiner Verbreitung keinen Abbruch getan; und es gilt als eines der bedeutendsten Werke der hispanischen Literatur.

Da mag es wohl einigermaßen verdienstvoll sein, dieses fröhliche Werk auch anderen Völkern, anderen Kultur-Kreisen zugänglich zu machen. In diesem Sinne jedenfalls habe ich als Nachdichter den kulturell-sittlichen Auftrag weltweiter Verbrüderung verstanden.

© Alfredo Bauer (Buenos Aires)


ANMERKUNG

(1) Mandinga: kreolische Bezeichnung für den Teufel.


7.2. Translation and Culture

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For quotation purposes:
Alfredo Bauer (Buenos Aires): Menschliche Verbrüderung durch Übermittlung nationaler Kulturen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/07_2/bauer15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 19.9.2005     INST