Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

7.2. Translation and Culture
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gertrude Durusoy (Izmir) / Katja Sturm-Schnabl (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Ferit Edgüs türkischer Roman "O" in der deutschen und der französischen Übersetzung

Gertrude Durusoy (Izmir)
[BIO]

 

Im Rahmen der Sektion "Übersetzung und Kultur" habe ich vor, anhand eines konkreten Beispiels und zwar eines zeitgenössischen türkischen Romans wie "O" von Ferit Edgü (1) und seiner deutschen Entsprechung "Ein Winter in Hakkari" (2) sowie seiner französischen Übertragung "Une saison à Hakkari" (3) die Übersetzbarkeit der vorhandenen Kultureme bzw. kulturellen Kontexte in Frage zu stellen.

Bevor ich mich aber eingehend mit den Texten beschäftige, möchte ich einige Bemerkungen zu beiden Begriffen Übersetzung und Kultur in ihrer Interrelation machen. Eine treffliche Aussage diesbezüglich hat Amadou-Mahtar M'Bow, ehemaliger Präsident der UNESCO, bei der Begrüssung eines Kongresses über Übersetzung in seiner Ansprache gemacht: "Lire un poète, un romancier ou un philosophe, ce n'est pas seulement converser avec lui, mais, par son intermédiaire, saisir l'âme de la communauté culturelle à laquelle il s'identifie." (4) Hier treten Begriffe wie Identifikation des Individuums mit seiner Gemeinschaft und der Begriff der Seele dieser Gemeinschaft, die durch das Übersetzen dem Leser zugänglich wird, in den Vordergrund. Dieser Auffassung hat sich auch Marcel Schwander angeschlossen, indem er den Akt des Übersetzens in folgenden Kontext stellt: "Doch der Übergang ist nicht einfach eine sportliche Aufgabe, eine technische, linguistische Angelegenheit: mit dem Ufer wechselt nicht nur die Sprache, sondern die ganze Umwelt. Jede Sprache ist der Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins, verschieden nach Geschichte, Psychologie und Politik, jede bietet eine andere Weltschau, eine andere Weltanschauung, ein anderes Denksystem." (5)

Während M'Bow und Schwander den Schwerpunkt auf das Gemeinschaftliche, das Kollektive legen, wo die Kultur sich tatsächlich heranbildet, lokalisiert der russische Wissenschaftler Toporov seinerseits in seiner Studie Translation: Sub Specie of Culture die Begegnung durch Übersetzung in einem kulturellen Raum, der die Seele des Einzelnen ist, und dabei stützt er sich auf die Auffassung Mandelstamms:

"Who knows, perhaps at this very moment
Some Japanese is translating me
Into Turkish
And is looking into my soul.

These lines were written by Mandelshtam in 1933, the last year when his poetry was still being published. (...) ...it would be wrong to see it mere play and to overlook the main (though far-fetched) message - the idea of the brotherhood of man realizing itself through translation and creating new forms of its existence and intimate communication between "native" and "foreign", from soul to soul - also through translation. Forcible separation of souls, the blocking of exchange of cultural values and meanings doom one to muteness and isolation which, in turn, paralyze the soul of culture and endanger the idea of the brotherhood of man - both the inherent brotherhood bestowed on man at the start of his natural path and more especially the future that is created by man's endeavour step by step." (6) Tatsächlich beziehen sich die Verse Mandelstamms auch meiner Meinung nach auf die Realität des Übersetzungsprozesses: dem Autor wird "in die Seele" geschaut, damit er hinter und jenseits seiner Sprache verstanden wird, in seinem Wesen aber auch im Rahmen seiner Kultur. Der Übersetzer geht nicht nur der Sprache auf den Grund, sondern der inneren Welt eines Autors. Er muss erst der allerbeste Leser seines Autors werden, sein allerbester Interpret, bevor er/sie es wagt, den Schriftsteller in die ihm selbst vertraute Gedankenwelt zu übertragen. Das Beispiel der Übersetzung der Verse Mandelstamms sind ein Extremfall an vorhandener Form der Fremdheit, denn seine in hebräische und russische Kultur eingebettete Lyrik, genährt an westeuropäischem Gedankengut, ist schon für einen Japaner, wenn Sie mir den Ausdruck erlauben, "wildfremd", und wenn dieser noch dazu Mandelstamm ins Türkische übersetzt, dann ist es tatsächlich die virtuelle Möglichkeit der Auswirkung der Lyrik auf universellem Niveau, die gemeint ist. Der Begriff der "duscha" im Russischen deckt semantisch nicht nur das Gemüt oder das Geistige überhaupt, es bedeutet viel mehr als "soul" im Englischen, da wäre "Seele" schon ein annähernder Begriff dafür, "can" oder "ruh" im Türkischen bilden z.B. eine semantische Zerstückelung bzw. analytische Auffassung dieser Realität, um die es dem Dichter geht.

Was die Kultur anbelangt, so spricht Itamar Even-Zohar von einem kulturellen Repertorium, das er folgenderweise definiert: "The major concept in the theory of culture I employ is that of 'repertoire'. The culture repertoire is the aggregate of options utilized by a group of people, and by the individual members of the group, for the organization of life."(7) Damit nähern wir uns erneut der Auffassung M'Bow's oder Schwanders, was Kultur betrifft, obwohl Even-Zohar sowohl die Gruppe als auch die Individuen dieser Gruppe einschliesst.

Wollen wir nun sehr flüchtig das Phänomen, den Prozess des Übersetzens näher betrachten. Obwohl Martin Heidegger nicht Kultur mit Übersetzung assoziiert hat, finde ich seine Auffassung des Übersetzungsaktes relevant für diesen besonderen Prozess, den er folgenderweise schildert: "Par la traduction, le travail de la pensée se trouve transposé dans l'esprit d'une autre langue, et subit ainsi une transformation inévitable. Mais cette transformation peut devenir féconde, car elle fait apparaître en une lumière nouvelle la position fondamentale de la question. (...) C'est pourquoi une traduction ne consiste pas seulement à faciliter la communication avec le monde d'une autre langue, mais elle est en soi un défrichement de la question posée en commun. Elle sert à la compréhension réciproque en un sens supérieur. Et chaque pas dans cette voie est une bénédiction pour les peuples."(8) Wie ersichtlich, ist hier keine Rede von der Seele sondern vom Gedanken "pensée" und vom Geist "esprit", also von einer intellektuellen Tätigkeit, die im Grunde dem Entwirren, dem Aufklären einer gemeinsam gestellten Frage bzw. Problematik dient. Heidegger fügt hinzu, dass "jeder Schritt auf diesem Wege ein Segen für die Völker sei", d.h., dass auch hier implizit die universale Dimension gemeint wird. Ihrerseits macht Doris Bachmann-Medick auf folgenden Aspekt in diesem Kontext aufmerksam, indem sie die Einschränkung der eurozentrischen Auffasung des Übersetzens, die zwar stimmt, krtisiert, weil sie nicht der auf anderen Kontinenten vorhandenen Öffnung gewahr wird: "The traditional European idea of translation is based on a conception of the text as an unmistakable, individual identity rooted in its cultural origin. Even this basic conception is contradicted by the self-portrayals, texts and experiences arising from very often bicultural identities, like African-American or Asian-American-European etc., which try to reflect the increasingly collective self-image in all refractions, as do, for instance, novels on syncretistic cultural experience and the blending of cultures in the metropolis (...) (9) Im Grunde ziemlich ähnlich aber in einer anderen Formulierung äusserte sich der in Deutschland lebende türkische Lyriker und Übersetzer Zafer Þenocak während eines Übersetzer-Workshops in Ankara wie folgt: "Der Übersetzer muss (...) in der Lage sein, das Verbindende in den Unterschieden zu suchen und das Trennende im Gemeinsamen zu sehen, wechselnde Standpunkte einzunehmen, Gegensätze zu differenzieren und zu relativieren, anstatt sie hierarchisch aufzulösen. Jene polarisierende Denkweise, die auch die literarische Begegnung zwischen "Orient" und "Okzident" beeinträchtigt, ist aber eine Folge der Tendenz, Gegensätze zu konstruieren, um sie hierarchisch aufzulösen." (10) Damit liefert Þenocak einerseits einen Einblick in seine Verfahrensweise, andererseits aber auch eine Diagnose, die er die "polarisierende Denkweise" des Westen nennt. Das erfordert eventuell eine Diskussion, genauso wie die von Bachmann-Medick festgestellte "traditionelle europäische Auffassung der Übersetzung".

In dieselbe Richtung geht das berühmte Zitat von Borges, das Giovanni Pontiero, der Übersetzer aus dem Portugiesischen, hauptsächlich Brasilianisch-Portugiesischen ins Englische, in seinen Ausführungen in Ankara anführte, indem er die Aufgabe des literarischen Übersetzers unter allen Aspekten untersuchte: "...literary translation is not merely to copy or to mime. As the Argentinian writer Jose Luis Borges told one of his most earnest translators: "Don't translate what I've written but what I wanted to say." The literary translator must learn to interprete and be creative in his own right. At the same time, he must respect the original in word and spirit." (11) Diese Worte Borges: "Übersetzen Sie nicht was ich geschrieben habe, sondern das, was ich sagen wollte" sind eine Mahnung, aber auch eine Einladung, nicht am Originaltext zu haften. In diesem Zusammenhang benutzt Michel Tournier ein schönes Bild, um die Komplexität der Wiedergabe kultureller Elemente in der literarischen Übersetzung zu schildern. Er sagt: "Chaque langue ayant son atmosphère et son attraction propres, le préalable à la bonne traduction est d'échapper à cette atmosphère, de se libérer de cette attraction afin d'évoluer en toute liberté dans la langue de la traduction. C'est un problème analogue à celui de la mise sur orbite d'un "spoutnik" qu'il faut pour cela arracher à l'attraction de la terre." (12)

Die Problematik der Beziehungen zwischen Kultur und Übersetzung hat Vladimir Nikolayevich Toporov in seinem oben erwähnten Aufsatz wie folgt dargestellt, indem er betont, dass das Übersetzen eine "Schlüssel"- und "Grundstein"funktion innerhalb einer Kultur hat: "The point is that translation is not merely an important fact and motive force of culture, an impulse and at the same time a method of "fostering" culture, but it is a key principle of culture itself, its solid foundation. Wherever that principle does not work, culture dies, becomes degraded, or gives way to another culture. This being so the approach to any of the two poles - extreme isolation from everything "alien" and autarchy (the absence of translations), i.e., "no-translation" versus "all-translation," signals a danger, a disruption of the functioning of translation in its natural framework and consequently a crisis of culture in its very core due to the deformation of the principle of that culture, i.e., translation from an alien idiom into one's own and from one's own into a foreign one." Diesen Formen der Gefahr gegenüber reagieren laut Toporov die Kulturen in zwei Richtungen: "Fortunately, the majority of cultures when faced with such threatening situations manage to make the principle of "translation" and its mechanisms work on a scale that ensures normal functioning of culture (by normal we mean a certain minimally sufficient level). In one case culture rescues itself from isolation by assimilating the "foreign" through translation; in the other case it seeks salvation from the bondage of "foreign" by constituting the native." (13)

Diese Analyse Toporovs scheint in vielen Fällen bzw. in verschiedenen Epochen der Entwicklung der Länder tatsächlich zu stimmen. Es gibt aber auch Meinungen, die diesbezüglich weit auseinander gehen und sogar die Verständigungsmöglichkeiten in Frage stellen, da sie einander widersprechen, so wie es Peter Newmark knapp formuliert hat: "Taken to their extremes, the universalist thesis is that since men have common thoughts and feelings, they should have no difficulty in communicating with each other, whatever language they use. The relativist thesis is that men's thoughts and feelings are predetermined by the various languages hence cultures they are born into, and therefore communication is not possible." (14)

Gerade hier, d.h. aus dieser Dualität her, wollen wir uns Ferit Edgüs Roman "O" zuwenden, der den zweiten Band einer Trilogie bildet. (15) Dieser einzige Buchstabe ist als Titel unübersetzbar, weil er semantisch zu reich dasteht. Aber seine Vieldeutigkeit in der Ausgangssprache - also in der Muttersprache des Autors - führte Ferit Edgü dazu, das LX. Kapitel des Buches diesem Buchstaben zu widmen, damit der Leser, also der einheimische Leser (für den es auch ein Rätsel bedeutet), dieses "O" versteht; diesen Fall möchte ich hier - der Zeit und der Bequemlichkeit wegen - in der deutschen Übertragung von Sezer Duru anführen:

LX/ O
Das zehnte Buch des Assyrers. Der Umschlag ist aus einer gealterten Rehhaut. Es wurde am Vormittag aufgeschlagen.
Auf der ersten Seite ein
O
Ist es ein Buchstabe? Oder eine Zahl? (Null? Fünf? Oder elf?)
Oder ein Zeichen? (Das O von Orto oder von Sauerstoff?)
Oder das O, das im phönizischen Alphabet das Auge bedeutet?
Oder eine geometrische Form? (Peripherie? Kreis?)
Oder ein Symbol?
Oder ein Nichts? O - nicht existierend?
Ein Ausruf?
Oder die dritte Person in meiner Sprache?
Oder ein Pronomen? (Der in der Ferne. Der Abwesende.)
Oder die Welt?
Ich weiss es nicht.
Das Buch des Assyrers, dieses O, ist in Wirklichkeit kein Buch. Es ist ein Heft. Denn ausser dem O auf der ersten Seite ist es leer. Die Seiten sind leer. Sie sind zum Schreiben bestimmt. Sie sind poliert. Die Linien sind gezogen. Aber kein Wort (ausser O).
Warum gab mir der Assyrer dieses Heft als ein Buch?
Wollte er, dass ich die leeren Seiten fülle? (WiH,196/197.)

Die Übersetzerin ins Deutsche hat als Titel für "O", in Ahnlehnung an den Titel des verfilmten Romans, der in Berlin den silbernen Bären bekommen hatte und auf Türkisch "Hakkâri'de bir Mevsim" hiess, "Ein Winter in Hakkari" gewählt, die Übersetzerin ins Französische hat ihrerseits - in Einverständnis mit dem Autor - den Titel des Filmes wortwörtlich zum Titel der französischen Übertragung gemacht "Une saison à Hakkari". Das ist auch insofern von Vorteil, als es eine Anspielung an "Une saison en enfer" ist. Wenn ich meine, das dieser alleinstehende Buchstabe die Hauptschwierigkeit der Übersetzung bildete, so ist das keine Übertreibung! (16)

Eigentlich ist - vom Inhalt her betrachtet - das ganze Werk im türkischen Original eine implizite Übersetzung, indem es sich um ein dauerndes Abrechnen des aus einer Kultur - der Türkischen - stammenden Ichs handelt, das mitten in eine andere im bergigen Grenzdreieck Türkei-Iran-Irak gelandet ist, wo es als Lehrer einer Grundschule den kurdischen Kindern einen Winter lang - dabei vier Monate durch den Schnee von der äusseren Welt abgeschnitten - das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen soll. Im Vor- und Nachwort heisst es: "Als ich mich eines Tages unter diesen Menschen fand und sah, dass sie meine Sprache kaum verstanden, habe ich ihnen nicht meine Sprache beigebracht (denn da hätte ich lange gewartet, und es hatte weder Sinn noch Notwendigkeit), sondern ich habe versucht, ihre Sprache zu lernen und zu sprechen. Haben nicht alle grossen Reisenden der Vergangenheit es so gemacht?" (WiH,14) Mit den Erwachsenen benutzt der Erzähler Dolmetscher wie den Dorfvorsteher, der aber von ihm verlangt, dass er den Kindern das beibringt, "das du hast und wir nicht. Du kannst eine Sprache, die meine Leute nicht können, die wir aber brauchen." (WiH,22) Das allererste Kapitel heisst "Ein Fremder unter Fremden" und im fünften, als der Lehrer in der Stadt ist und den einzigen Buchladen besucht, den es gibt, trifft er in der Person seines Besitzers wiederum eine ihm fremde Kultur: "Der alte Buchhändler sagte: Ich habe noch ein paar andere Bücher, die Sie interessieren würden, leider sind sie in unserer Sprache verfasst. Er sprach mit mir in meiner Sprache. Er hatte also eine andere Sprache. Eine eigene Sprache. Eine Muttersprache

Welches ist Ihre Sprache, fragte ich?
Er lachte: Die, die Sie nicht können.
Es gibt aber viele Sprachen, die ich nicht kann, sagte ich.
Eine von diesen, sagte er.
Offensichtlich hatte er seinen Spass an mir, der Alte.
Trotzdem, bitte sagen Sie: Welche ist es? Beharrte ich.
Assyrisch.
(...)
Assyrisch? Dieses Wort hörte ich das erste Mal.
Ja, Assyrisch, sagte er. Die kannst Du nicht, nicht war?
Nein, sagte ich. (Ich schämte mich, zu sagen, dass ich dieses Wort das erste Mal hörte.)
Das ist verständlich, sagte er. Sogar wir selbst haben sie fast vergessen. Ich meine unsere Kinder."(WiH, 36/37.)

Was hier kulturell und psychisch bemerkenswert ist, ist das Verhalten des Buchhändlers, der zögert, seine Identität diesem Fremden preiszugeben. Als er es getan hat, spricht er seine Traurigkeit darüber aus, dass das aus Mesopotamien stammende Aramäische von der jüngeren Generation der Assyrer nicht mehr gepflegt wird. Der alte Mann bereitet dem Lehrer noch einen anderen kulturellen Schock, indem er ihm ein Siegel schenkt, worauf die "alte Schrift" verwendet wird - das bedeutet die arabische Schrift, mit der das Türkische, hiezulande Osmanisch-Türkische genannt, bis zur Gründung der Republik geschrieben wurde. Er sagt: "Das ist ein Siegel. Ein magisches Siegel. Sie können wahrscheinlich auch die alte Schrift nicht lesen, ist es so? Hätten Sie's gekonnt, es hätte nichts geändert. Denn das sind Symbole. (Er hielt einen Moment inne, dann: ) Nein, wenn Sie die alte Schrift lesen könnten, könnte ich Ihnen das handgeschriebene Buch geben, wo die Interpretation dieser Symbole steht." (WiH, 41) Er fügt sogar hinzu: "Das ist Ihr Glück, die Landkarte und dieses Siegel sollen mein Geschenk an Sie sein, sagte er. Auch wenn Sie ihre Sprache nicht verstehen können, es ist nicht wichtig. Vielleicht lernen Sie sie eines Tages. Oder jemand, der diese Sprache kennt, hilf Ihnen, und Sie lösen die Magie." (WiH, 41) Somit wird der Lehrer in dieser entfernten bergigen Landschaft seiner Heimat mit drei ihm fremden Sprachen konfrontiert, die alle zusammen leben; eine Bemerkung zum Alltag: das Alttürkische mit arabischer Schrift können nur noch die Leute über achtzig Jahre oder die in Geschichte, Orientalistik oder Kunstgeschichte Ausgebildeten. Damit bleiben viele Werke der Vergangenheit einem breiten Leserpublikum verschlossen, falls sie nicht in der Transkription neu aufgelegt wurden.

Unter den vielen kulturellen Gegenüberstellungen im Roman möchte ich hier eine aus dem Kapitel XLV hervorheben, die eigentlich die Spiegelung der Sitten auf dem Lande in einer feudalen Gesellschaft darstellt und dem Lehrer, dem Städtler also, als Begründung eines Verbrechens erklärt wird:

"Weisst du, wir sind ohne Eltern aufgewachsen, mein Lehrer. Zazi und ich. Auch meine anderen Geschwister. Ich kannte meinen Vater überhaupt nicht. Man hat ihn umgebracht, als ich noch in der Wiege war.
Meine Mutter habe ich auch nicht gekannt. Man sagt, sie sehe Zazi ähnlich.
Die Mutter unseres Aga hat mich gesäugt. Also bin ich der Milchbruder meines Aga.
Ich bin bei meinem Aga aufgewachsen.
Dem Vorsteher dieses Dorfes gab mein Aga Zazi zur Frau.
Wie kann ich bei alldem irgend etwas verweigern, was man von mir verlangt?
Wie könnte ich Fragen stellen?
Wie könnte ich sagen: Warum?
Wie könnte ich sagen: Ich tu'es nicht?
Ich tat alles, was man verlangte.
Denn ich bin eine Weise.
Dadurch bin ich hörig seit meiner Kindheit." (WiH, 171.)

Im Türkischen heisst der letzte Satz eigentlich: "Seit der Wiege voll Schulden." Damit wird die totale Unterworfenheit desjenigen ausgesprochen, der in einer totalen Abhängigkeit grossgezogen wurde, und da er diese materielle Schuld nicht begleichen kann, verschreibt er sich mit Leib und Seele dem Aga, d.h. dem reichen Land- und Dorfsbesitzer. Nur die Beschlüsse des Aga gelten auf dem Gebiet, das ihm zu eigen ist - der Staat mit seinen Gesetzen wird ganz und gar ignoriert. Halit, eine Figur des Romans, habe zum Beispiel zusammen mit einem anderen zwei Iraner erschossen, um die Ware der Taschen dem Aga zu bringen. Von einer Strafe ist keine Rede. Halit erklärt im obigen Abschnitt, dass sein Gewissen sich nicht sträuben darf, nicht fragen darf, nicht rebellieren darf. Alles würde für ihn selbst den Tod bedeuten. Dem Stammesvorsteher "schuldet" er absoluten Gehorsam, da er als Waisenkind vom reichsten Herr in der Gegen aufgezogen wurde. Der Text selbst bietet ausser "O" keine sprachliche Schwierigkeiten. Die Hauptaufgabe bildet die richtige Übertragung der kulturellen Realität in ihrer Differenz.

Um die neue Verortung festzuschreiben, stellt der Erzähler im Kapitel XV Regeln auf - in der Form von Zehn Geboten. Sie bieten einen Einblick ins Leben in einer fremden Umwelt:

"1.BESTIMME ALS ERSTES DIE STELLE, WO DU DICH BEFINDEST. MARKIERE SIE AUF DER KARTE.
Die Stadt H.: Kurs Südost. Dorf:P. Höhe: 2100. Genügt das?
2.ERKENNE, WER DU BIST. MACH DIR KLAR,WAS DU BESITZT.
Ich weiss nur eins: Ich habe eine Schule. Ich bin der Lehrer und der Schüler dieser Schule.
3.LASS DAS TRAEUMEN. HALTE DICH AN DIE WIRKLICHKEIT.
Soll ich die Meere, die alten Geliebten, die alten Worte, das Gestern, das Morgen vergessen?
4.EINSAMKEIT IST VERBOTEN.
Wo warst du, als ich auf den Meeren weilte, zwischen dem Himmel und der See, auf den schwankenden Wogen, inmitten der Hoffnungslosigkeit?
5.SUCHE DIR KEINE ANDERE HEIMAT.
Bin ich hier geboren? Werde ich hier sterben?
6.LERNE EINE NEUE SPRACHE. SCHAFFE DIR EINE NEUE SPRACHE.
Darf es nicht die Sprache anderer sein? Die Sprache des Lebens, eine gemeinsame Sprache?
7.LERNE DIESEN ORT KENNEN. VERSTEHE IHN. DIE SPRACHE DIESER MENSCHEN HIER, DAS KLIMA, DÝE PFLANZEN, DIE TIERE, DIE WÖLFE, DIE WAFFEN, DEN TOD HIER.
Um mich zu vergessen? Meine Herkunft? Meine Bekannten?
8.WENN DU DEINEN GLAUBEN AN GOTT VERLOREN HAST, GLAUBE AN DIE MENSCHEN. WENN DU KEIN VERTRAUEN IN GOTT HAST, VERTRAUE DEN MENSCHEN.
Soll ich auch Vertrauen in mich haben?
9.WAS IMMER DIR ZUSTÖSST, WO IMMER DU BIST, FÜHRE DEIN LEBEN WEITER.
Ist das wirklich das Wesentlichste?
10.STELLE KEINE UNNÖTIGE FRAGEN.
Das Glück scheint dort zu beginnen, wo die Fragen aufhören. Ist das so?" (WiH, 96/97)

Wie ersichtlich, sind die vom Erzähler aufgestellten Lebensregeln jeweils als innerer Monolog mit einem eigenen Kommentar versehen. Wüsste der Leser nicht, wo die Handlung spielt, könnte er diese Lebensweisheiten fast als allgemein gültig auffassen, überall zutreffend, was vom Autor auch bezweckt ist, denn diese "saison" der Kontaktlosigkeit mit dem Rest der Welt (ausser einiger Briefe) wird hier vom Ich-Erzähler auch dazu benutzt, um über sein eigenes, mitten in einer abgeschlossenen Gesellschaft sich befindenden Ich zu reflektieren. Die Wintermonate auf 2100 Meter Höhe bedeuten für die Bevölkerung eine Todesgefahr, weil kein Arzt hingebracht werden kann, keine Hebamme kommt, keine Medikamente die Kindermortalität verhindern können. Die Konfrontation , die im Roman geschildert wird, ist nicht nur eine kulturelle, wie wir schon erwähnt haben, sie ist eine existentielle, ja sogar eine Konfrontation mit dem Tod - besonders für die Neugeborenen oder die Kleinkinder. Die Hilflosigkeit der Bergdörfler deprimiert den dorthin verschlagenen Städler, der materiell, d.h. wegen derSchneehöhe, Frost und des schwierigen Geländes ebenso hilflos dasteht. Ausserdem bleibt er seelisch isoliert, da er als vorübergehend dort Lebender nicht in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wird. Sogar Halit, der aus einem anderen Dorf stammt, zählt hier als "Fremder" (WiH, 87).

Als der Winter vorbei ist, kommt ein Inspektor zum Lehrer, um ihm mitzuteilen, dass er gehen darf und staunt darüber, dass er inzwischen die Sprache des Dorfes gut genug gelernt hatte, um sich verständigen zu können. Beim Abschied von den Kindern spricht der Erzähler/Lehrer eine bei ihm aus Erfahrung entstandene Wahrheit aus, die eine Gegenüberstellung zweier Lebensauffassungen, zweier Weltanschauungen darstellt - der westlichen und der östlichen: "Nichts ist Schicksal, meine Lieben. Das ist alles. Das ist die einzige Wahrheit, die ich euch sagen möchte."(WiH,221) Diese Mitteilung und Empfehlung wenden sich an die heranwachsende Generation, die ein besseres Leben haben möge.

Vergleicht man die deutsche und die französiche Übertragung des Romans mit dem Original, so stellt man fest, dass die türkischen Wortspiele nicht als Wortspiele, sondern semantisch übersetzt wurden. Um nur ein Beispiel zu geben: das Wort "düs" im Türkischen bedeutet "Traum" bzw. "rêve". Wenn Ferit Edgü als Titel seines LVIII. Kapitels "BIR DÜS-ÜS" (O, 164) schreibt, so evoziert es beim einheimischen Leser den "Fall", "la chute", nur die Graphie also "düþ" Bindestrich "üþ", das als Wort selbstständig nicht existiert, macht die Anspielung auf "Traum"/"rêve" sichtbar. Die _bersetzerin ins Deutsche benutzte als Überschrift des Kapitels "Ein Traum-Sturz" (WiH, 191), die Übersetzerin ins Französische "Un rêve-chute" (SàH, 188) mit folgender Fussnote: "Il est impossible de rendre le jeu de mots du titre car "düs" signifie rêve et "düsüs" chute, et le titre original est "düs-üs". (N.d.T.)"

Eine Abweichung zwischen beiden Versionen ist im Vor- und Nachwort festzustellen, und zwar liegt sie in der Interpretation des türkischen Wortes "derin", das als Homonym einerseits als Adjektiv "tief" bedeutet, andererseits als Substantiv "deine Haut". Im Türkischen wurde im ersten Satz des Werkes in der Anrede an die Stadt "Hak.", Abkürzung für Hakkâri, folgende Apposition als Kennzeichnung des Ortes: "Hak. Kentim/ çileli gözlerin/ cüzzamlý derin/ ve - kar ile devam eden adýn" (O, 9) verwendet. In der deutschen Version heisst es: "H.,meine Stadt/ deine leidgeprüften Augen/ leprös, tief/ und der Schnee trägt deinen Namen weiter."(WiH, 7), wobei sich "leprös und tief" auf die Augen beziehen, obwohl das Original das besagt, was im Französischem wiedergegeben wurde: "Ma ville de Hak/ tes yeux éprouvés/ ta peau de lépreux/ et ton nom continuant avec kar."(SàH, 7) Ausserdem trägt der Schnee den Namen der Stadt nirgendwohin, deshalb wurde im Französischen das türkische Wort "kar" beibehalten und in einer Fussnote folgendes Erklärung gegeben: "La première syllabe de Hakkâri, Hak veut dire "le droit" en turc; la deuxième, kar, "la neige"(N.d.T.)", denn die Anspielung des Autors ist hier für den türkischen Leser eindeutig und das kann für einen ausländischen Leser nicht so selbstverständlich wirken. Und Gallimard hat diese seltenen (insgesamt vier), aber notwendigen Fussnoten angenommen und veröffentlicht. Die deutschsprachige Ausgabe im Unionsverlag ist am Ende auch mit vier Worterklärungen versehen, die aber nichts Gemeinsames mit dem Gedankreis der Fussnoten im Französischen haben(WiH, 230).

Dies war nur ein Einblick, der weitergeführt werden könnte.

Der Autor Ferit Edgü ist zwar kein Übersetzer, auch kein Übersetzungswissenschaftler, aber im zweiten Teil seines Vor- und Nachworts äussert er eine Meinung, die ich als die Darstellung einer Methode bzw. einer Empfehlung im Rahmen unserer Diskussion zu Übersetzung und Kultur auffasse. Er schreibt nämlich:

"Comprendre suppose une langue commune.
Quant à la langue commune
Elle suppose vie commune / connaissances communes / passé commun / rêves communs
Et, parfois, chutes communes.
Si ce n'est commun, au moins proche / similaire, que sais-je." (SàH,13)
Zum Schluss in der deutschen Version:
"Denn zum Verstehen gehört die gemeinsame Sprache.
Und gemeinsame Sprache heisst
Gemeinsames Leben / gemeinsames Wissen / gemeinsame Erfahrung/ gemeinsamer Traum
Und manchmal auch gemeinsamer Fall.
Wenn nicht gemeinsam, so doch verwandt/ vergleichbar / ähnlich." (WiH, 12/13.)

© Gertrude Durusoy (Izmir)


ANMERKUNGEN

(1) Ferit Edgü, O , Ada Yayýnlarý, Istanbul, 1985, 4.Aufl.

(2) Ferit Edgü, Ein Winter in Hakkari, Aus dem Türkischen von Sezer Duru, Unionsverlag, Zürich,1987. Zitiert wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe mit der Abkuerzung WiH.

(3) Ferit Edgü, Une saison à Hakkari, Roman traduit du turc par Gertrude Durusoy, Gallimard, Coll. Du monde entier, Paris,1989. Diese Werk bekam den Pierr-François Caillé-Preis für Übersetzung 1990, in Paris. Zitiert wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe mit dem Vermerk SàH.

(4) Amadou-Mahtar M'Bow: Message, in: La traduction et la coopération culturelle internationale. Sofia,1981. S.40

(5) Marcel Schwander, Westschweizer Literatur in deutscher Übersetzung. in: Actes du Colloque sur la traduction littéraire. Colloquium Helveticum, Bd.3,1986, S.70

(6) Vladimir Nikolayevich Toporov, Translation: Sub Specie of Culture. In: Meta, XXXVII,1, 1992. Hier http://www.erudit.org/revue/meta/1992/v37/n1/004495ar.pdf Zugriff am 14.05.2003

(7) Itamar Even-Zohar, The Making of Culture Repertoire and the Role of Transfer. Veröffentlicht in: Target, 9 (2),1997. Hier wurde aber auf den Abdruck im Internet http://www.tau.ac.il/~itamarez/papers/rep_trns.htm am 13.05.2003 zugegriffen.

(8) Martin Heidegger, Qu'est-ce que la metaphysique? Paris, 1951. S. 8 Aus der Einleitung, die Heideggers eigens auf Französisch verfasst hatte.

(9) Doris Bachmann-Medick, Cultural Misunderstanding in Translation: Multicultural Coexistence and Multicultural Conceptions of World Literature, EESE 7/1996. http://webdoc.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic96/bachmann/7_96.html . Zugriff am 17.03.2003

(10) Zafer Þenocak, Die Rollle der literarischen Übersetzung im Kulturaustausch, in:Übersetzer-Workshop, Ankara 1989, S.61

(11) Giovanni Pontiero, The Task of the Literary Translator, in: Çeviribilim ve Uygulamalarý, Ankara 1994, S.133

(12) Michel Tournier, Réflexions sur la traduction et le bilinguisme, in: Hommage à Hasan-Ali Yücel. La traduction: Carrefour des cultures et des temps. Istanbul, 1997, S.121

(13) Vladimir Nikolayevich Toporov, Translation: Sub Specie of Culture.In: Meta, XXXVII,1, 1992. Hier http://www.erudit.org/revue/meta/1992/v37/n1/004495ar.pdf Zugriff am 14.05.2003

(14) Peter Newmark, Approaches to Translation, Prentice Hall International, UK, 1988, S.68

(15) Ferit Edgü veröffentliche Kimse bei ADA Yayýnlarý, Istanbul 1976. O erschien das Jahr darauf, aber der dritte Band, obwohl verfasst, wartet beim Autor. Wie er mir sagte, handle es sich um die Veränderungen nach der Verbreitung des Fernsehens in der selben Geographie. Wer weiss, wie die Irak-Ereignisse die Inspiration des Schriftstellers formen werden.

(16) Das türkische Original lautet:

Und die französische Version erschien wie folgt:

LX. O
Le dixième livre donné par le Syriaque. Une reliure de peau de gazelle, usée. Un de ces matins, il fut ouvert .
A la première page un
O
Est-ce une lettre?
Est-ce un chiffre? (Zéro? Cinq? Ou onze?)
Ou alors un sigle? (Celui de l'Oxygène?)
Ou bien le O de l'alphabet phénicien signifiant l'oeil?
Ou encore une forme géométrique (Une circonférence? Un cercle?)
Ou un symbole?
Ou un rien? O - le néant?
Une mesure préventive?
Ou bien, en turc, le pronm personnel de la troisième personne du singulier?
Ou encore un adjectif démonstratif en turc? (Celui qui est loin. Celui qui n'est pas présent.)
Ou bien le monde?
Je ne sais pas.
Ce O que le Syriaque m'a donné comme livre n'en est pas un. C'est un cahier. Parce que sur la première page il n'y a rien d'autre qu'un O. Les pages sont vierges. Elles sont prêtes à être écrites. Elles sont toutes lisses. Les traits sont tirés. Aucun mot n!y est inscrit (sauf le O). Pourquoi le Syriaque m'a-t-il donné un cahier en guise de livre?
Ou alors s'attendait-il à ce que j'en remplisse les pages? (SàH, p.193/194 )

Im Französischen habe ich folgende Fussnote dem O der Überschrift des Kapitels hinzugefügt: "1. La traductrice a préféré garder le titre original "O" de ce chapitre, car "lui" en français ne pourrait pas englober tout ce qui est énuméré ici, tel le zéro ou le cinq arabe écrit comme un "O" , etc." (N.d.T.)


7.2. Translation and Culture

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Gertrude Durusoy (Izmir): Ferit Edgüs türkischer Roman "O" in der deutschen und der französischen Übersetzung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/07_2/durusoy15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.8.2004     INST