Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | April 2005 | |
8.1. Intercultural Education Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Erna Nairz-Wirth (Institut für Allgemeine Pädagogik und Philosophie an der Wirtschaftsuniversität Wien)
Die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte und der damit einhergehende Anstieg der Bildungsbeteiligung hat nichts daran geändert, dass immer noch eine Ungleichheit des Bildungszugangs in Bezug auf den Bildungsstatus der Eltern sowie deren sozio-ökonomische Situation zu beobachten ist. Die studentische Population in Österreich ist bereits das Ergebnis einer sozialen Auslese, die über die gesamte Schulzeit hindurch stattgefunden hat. Diese manifestiert sich im tertiären Bildungssektor als ungleiche Zugangschancen: Die an der Hochschule am stärksten vertretenen Klassen(1) sind in der Bevölkerung am schwächsten vertreten.(2)Diagramm 1 verdeutlicht, dass das Schulsystem eine um so stärkere Selektion vornimmt, je 'bildungsferner' die Klassen sind (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 20).
Diagramm 1: Bildungsherkunft der StudienanfängerInnen im WS 2002 versus Bildungsabschlüsse der Vätergeneration in Österreich
Erstimmatrikulierende mit der höchsten Bildungsherkunft (hier operationalisiert am höchsten Bildungsabschluss des Vaters(3)) stellen 26,1 % der gesamten Population von Erstimmatrikulierenden dar, während die entsprechende Vätergeneration in unserer Bevölkerung lediglich 7,7 % ausmacht. Subtile Prozesse der kulturellen Kapitalvermittlung innerhalb der Familie sind - neben der Verfügung über ökonomisches Kapital - mitbestimmend für Schullaufbahnentscheidungen und Bildungsprivilegien (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 20; Baumert & Schümer 2001). Der sozioökonomische Status der Eltern (Bildungsstand, beruflicher Status, Einkommen) steht tendenziell in einem engen Zusammenhang mit dem Ausmaß an jenem kulturellen Kapital, welches - nach Bourdieu - Bildungshandeln und Bildungserfolg beeinflusst.
In der PISA-Studie wurde ein relativer starker Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und der Leistungen der SchülerInnen gemessen. So kommen die schlechtesten 10 % der SchülerInnen überproportional stark aus den niedrigeren sozioökonomischen Schichten. In Österreich liegt der sozioökonomische Status der Eltern der 15-/16-Jährigen SchülerInnen ohne Migrationshintergrund deutlich höher als bei Eltern von SchülerInnen derselben Altersgruppe mit Migrationshintergrund (vgl. Haider 2002b, S. 71, 72 und 74). Insgesamt erreichen nur ca. 25 % der MigrantInnen den durchschnittlichen sozioökonomischen Status der ÖsterreicherInnen. Die Differenz zwischen den beiden Gruppen bezogen auf den höchsten Bildungsabschluss der Eltern ist besonders im Bereich der niedrigen Schulbildung groß. Während der Anteil an Müttern oder Vätern von deutschsprachigen SchülerInnen, die als höchsten formellen Bildungsabschluss eine Volks- oder Sonderschule vorweisen, 3 % beträgt, verfügen 12 % der Väter bzw. 22 % der Mütter von anderssprachigen SchülerInnen über einen solchen Abschluss (eine grobe Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse wird hier angenommen).
Knapp 7 % der in der PISA-Studie befragten SchülerInnen sprechen normalerweise zuhause nicht die Testsprache. Die größte nicht-deutsprachige Gruppe nimmt 2,5 % der Befragten ein und spricht in der Familie eine Sprache aus dem ehemaligen jugoslawischen Staatsgebiet (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch)(4). 1,8 % der befragten SchülerInnen sprechen zuhause Türkisch. Die verbleibenden anderen Sprachen (Polnisch, Rumänisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch) machen jeweils 0,5 % aus (vgl. Haider 2002b, S. 69-70).
Die PISA-Studie hat ebenso auf die starke Selektivität des österreichischen Bildungswesens hingewiesen, indem sie auf die hohe Korrelation zwischen erreichter Lesekompetenz mit den jeweiligen Schultypen herausgestellt hat. So konnte "die Leistung eines Schülers bereits durch die Kenntnis des Schultyps in dem er sich befindet, recht gut geschätzt werden" (Haider 2002a, S. 13). Auch andere nationale Studien belegen den Einfluss der sozialen Herkunft auf Bildungsentscheidungen; in Österreich zeigt sich dieser augenfällig bei der sogenannten "ersten Gabelung im österreichischen Bildungswesen": Eltern, die selber 'nur' über einen Pflichtschulabschluss verfügen, entscheiden sich sehr oft gegen den Besuch der Allgemeinbildenden Höheren Schulen ihrer Kinder. Eng damit zusammen hängt - wie gesagt - deren sozioökonomischer Hintergrund (vgl. Schwarz, Spielauer & Städtner 2002; Steiner 1998).
Die Entscheidung zwischen den beiden Schultypen Allgemein Bildende Höhere Schule und Hauptschule wird in Österreich - trotz der formellen sogenannten Durchlässigkeit des österreichischen Bildungswesens - bereits nach der vierten Schulstufe gefällt. Dies wirkt sich in der Folge stark selektiv auf weitere Bildungsentscheidungen aus. Die Folgen für die spätere Beteiligung an einem Hochschulstudium sind evident.
Der folgende Beitrag zeigt - vor dem Hintergrund der weitreichenden Konsequenzen der frühen Gabelung der Bildungswege - vergleichend die Verteilung von SchülerInnen mit nicht-deutscher und deutscher Muttersprache in den unterschliedlichen Schultypen der fünften Schulstufe in Österreich. Daran anschließend wird ein theoretischer Versuch unternommen, die Implikationen von Sprachkompetenz auf den Bildungserfolg, in Anlehnung an Bourdieus Ungleichheitstheorie, zu analysieren. Nicht verwechselt werden sollte dieser theoretische Zugang mit Erklärungsversuchen von unterschiedlichen Bildungserfolgen auf der Basis der sogenannten Defizithypothesen(5). Der Fokus der folgenden Analyse liegt vielmehr - hier schließe ich mich Bourdieu an - auf der Dimension der Macht, die in Sprachverhältnissen manifest wird und in der Bedeutung der Übertragung von "kulturellem Kapital" für zukünftige Bildungslaufbahnen relevant ist.
Verteilung der SchülerInnen mit nicht-deutscher und deutscher Muttersprache auf die unterschiedlichen Schultypen in der fünften Schulstufe
Diagramm 2 zeigt die unterschiedliche Verteilung der SchülerInnen auf unterschiedliche Schultypen der fünften Schulstufe, differenziert nach nicht-deutscher und deutscher Muttersprache.
Diagramm 2: Verteilung der SchülerInnen auf unterschiedliche Schultypen, differenziert nach deutscher und nicht-deutscher Muttersprache in der 5. Schulstufe.
Quelle: Österreichische Schulstatistik 2001/02. Eigene Berechnungen.
Zur besseren Veranschaulichung wurden von der prozentualen Verteilung nach Schultypen Indizes gebildet (Diagramm 3), durch welche die jeweiligen Anteile der SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache in den unterschiedlichen Schultypen in ein Verhältnis zur prozentualen Verteilung der SchülerInnen mit deutscher Muttersprache im jeweiligen Schultyp gesetzt wurden. Indexwerte über 100 repräsentieren eine überproportionale Vertretung der Gruppe der SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache im jeweiligen Schultyp. Umgekehrt deutet ein Index unter 100 auf eine unterproportionale Vertretung hin.
Diagramm 3: Proportionale Vertretung der SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache in den unterschiedlichen Schultypen im 5. Schuljahr (Indexdarstellung).
Quelle: Österreichische Schulstatistik 2001/02. Eigene Indexberechnung.
Die Indexdarstellung verdeutlicht, dass SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache schwach überproportional in den Hauptschulen vertreten sind. Eklatant ist die überproportionale Verteilung in den Sonderschulen: SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache besuchen mehr als doppelt so häufig diesen Schultyp. Unterproportional vertreten sind SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache in den Allgemein Bildenden Höheren Schulen.
Eine Untersuchung der Repräsentation der SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache in den weiterführenden Schulstufen ist mangels verfügbarer Daten leider nicht möglich. In der österreichischen Schulstatistik werden lediglich jene SchülerInnen in der Kategorie "nicht-deutsche Muttersprache" geführt, die nicht mehr als sechs Schuljahre in Österreich absolviert haben.
Eine differenzierte Analyse der Schülerpopulation in den Sonderschulen nach unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten ergibt, dass Kinder mit einer türkischen, serbischen und montenegrischen Staatsbürgerschaft proportional am stärksten vertreten sind. SchülerInnen mit einer bosnisch-herzegowinischen Staatsbürgerschaft sind dort nicht häufiger vertreten als österreichische SchülerInnen. Polnische und chinesische SchülerInnen und SchülerInnen gehen weniger häufig in Sonderschulen als österreichische Kinder. (Bundesministerium für Bildung 2002, S. 314-325, Eigene Berechnungen)
Obige Ausführungen belegen, dass SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache insgesamt häufiger niedrigere Schultypen besuchen. Eine differenzierte vergleichende Analyse der Bildungslaufbahnen von Kindern unterschiedlicher staatlicher Herkunft hinsichtlich der Transformation des kulturellen Kapitals ihrer Familien ist allerdings noch ein Forschungsdesiderat.
Für Bourdieu ist Sprache nicht nur ein einfaches verbales Kommunikationsmittel. Dies hatten bereits Wilhelm v. Humbodt und seine nachfolgende Schule dargelegt. Der neue Akzent, den Bourdieu gesetzt hat, war der Hinweis, dass sprachliche Verhältnisse immer Verhältnisse der symbolischen Macht sind. Durch sie werden die Machtverhältnisse zwischen den SprecherInnen und ihren jeweiligen sozialen Gruppen aktualisiert. (vgl. Bourdieu 1996, S. 177-181.) Auch ist die sprachliche Kompetenz sowohl eine sachliche als auch eine statusgebundene Fähigkeit. Für Bourdieu ist der Zugang zur 'legitimen' Sprache(6) nicht für alle Gruppen im sozialen Raum unserer Gesellschaft in der gleichen Art und im gleichen Umfang möglich. Ungleichheiten in der sprachlichen Kompetenz werden in der alltäglichen Interaktionen in der Schule manifest (vgl. ebd., S. 181). Das bedeutet, dass nicht alle sprachlichen Formulierungen im schulischen Feld auf gleiche Weise akzeptiert werden. Der Zugang zur 'legitimen' Sprache, die auch Tür und Tor für schulischen Erfolg öffnet, ist nach Bourdieu ein völlig ungleicher und wird von Subjekten einer relativ kleinen Gemeinschaft monopolisiert.
SchülerInnen, die zuhause nicht die Unterrichtssprache sprechen, erlernen die 'legitime' Unterrichtssprache primär im schulischen Kontext(7). Die 'korrekte', oder besser: die 'korrigierte' Sprache des Unterrichts unterscheidet sich mitunter radikal von der in der Familie erlernten Sprache (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 115-116; s. auch das weite Feld der soziolinguistischen Forschung). Mit großer Wahrscheinlichkeit - Kinder aus der Oberschicht bilden eine Ausnahme, wie es sich bei schulerfolgreichen Kindern aus der persisch-iranischen Oberschicht gezeigt hat - verstärkt sich diese Benachteiligung bei Kindern mit Migrationshintergrund und nicht-deutscher Muttersprache(8). Damit ist nicht gemeint, dass das pädagogische Dilemma bei Schülerinnen und Schülern aus restringiertem deutschsprachigen Sprachcode-Milieu übersehen werden darf (vgl. Bredel 2003, Heusinger 2004).
Der Verinnerlichungsprozess beim Erlernen einer Sprache und eines bestimmten Sprachstils nimmt viel Zeit in Anspruch, welche ausschließlich von den Lernenden selbst investiert wird. Es ist banal, daran zu erinnern, dass der Spracherwerb nicht an eine fremde Person delegiert werden kann. Sprache ist somit eine Form von verinnerlichtem (inkorporiertem) kulturellen Kapital und an eine ganz bestimmte Person gebunden.(9) Wer am Erwerb von Bildung, d.h. auch an differenzierter Sprachaneignung arbeitet, arbeitet an sich selbst, er bildet sich. Das setzt voraus, dass man mit seiner Person - nach der Terminologie Bourdieus - 'bezahlt' (vgl. Bourdieu 1992, S. 55). "Man investiert vor allem Zeit, aber auch eine Form sozial konstruierter Libido, die libido sciendi(10), die alle möglichen Entbehrungen, Versagungen und Opfer mit sich bringen kann" (ebd., S. 55). - Freilich sollte nicht vergessen werden, dass diese Versagungen dann zu Kompetenzen führen, die diese Bürden kompensieren und sogar zu einer Art von Funktionslust führen können.
Inkorporiertes (verinnerlichtes) kulturelles Kapital bleibt - nach Bourdieu - geprägt von den Umständen seiner ersten Aneignung und ist auf verschiedenste Weise mit dem Individuum in seiner Einzigartigkeit verbunden (vgl. ebd., S. 57). Durch die Zuordnung eines 'typischen' Sprachstils zu einer Klasse(11) oder Region wird auch der jeweilige Wert des kulturellen Kapitals mitbestimmt.
Der Sprachstil ist immer mitbestimmend für den Bildungserfolg, implizit oder explizit auf allen Bildungsstufen und in allen Unterrichtsfächern (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 133). Zudem ist die Sprache nicht - wie bereits oben ausgeführt - lediglich ein Kommunikationsmittel, sie liefert neben einem bestimmten Wortschatz auch ein System von mehr oder weniger komplexen Kategorien (wie es besonders im Neu-Humboldtianismus betont wird). D.h. die Fähigkeit, komplexe logische oder ästhetische Strukturen aufzuschlüsseln und anzuwenden, ist von der Komplexität der 'mitgebrachten' Sprache abhängig.
Das sprachliche Milieu der Herkunftsfamilie beeinflusst die Chancen für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn positiv oder negativ, je nachdem, ob sich ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung jene kultivierte Sprache aneignen konnte, die im Bildungswesen in unterschiedlichen Graden gefordert wird.
Somit beschränkt sich die Dauer des Bildungserwerbs - wie am Beispiel der Sprache gezeigt wurde - nicht allein auf die Dauer des Schulbesuchs (vgl. Bourdieu 1992, S. 56). Auch die Primärsozialisation in der Familie muss als gewonnene Zeit oder als negativer Faktor, d.h. paradoxerweise doppelt verlorene Zeit in Rechnung gestellt werden. Dies bedeutet einmal einen Vorsprung, ein anderes Mal Kompensation der negativen Folgen eines Bildungsdefizits, weil zusätzliche Zeit eingesetzt werden muss, um dieses Defizit auszugleichen. Dieser zeitliche Aspekt - so interpretiere ich Bourdieu - bedeutet allerdings nicht eine naive Erneuerung der Defizithypothese, weil er nicht direkt auf einen klar definierten sogenannten Mangel hinweist, sondern auf die Ökonomie der Zeit, die ihren irreversiblen Charakter nie abschütteln wird: SchulanfängerInnen, welche die Unterrichtssprache schlecht beherrschen, sind somit doppelt benachteiligt, denn die Zeit, in der sie versuchen, ihre Defizite auszugleichen, fehlt ihnen für die Aneignung anderweitiger Fähigkeiten. SchülerInnen oder Studierende aus privilegiertem sprachlichen Milieu haben im Gegensatz dazu einen, für weitere Schullaufbahnentscheidungen entscheidenden, Bildungsvorsprung. Dies mag vielleicht kontrovers, jedoch kurzschlüssig von der interkulturellen Pädagogik gesehen werden, wenn sie die Pointe Bourdieus als Wiederholung des Defizit-Ansatzes bei Migrantenkindern mißversteht.(12). Für Bourdieu würde die Unterschlagung der zeitlichen Dimension jedoch eher ein Wunschdenken aufgeklärter ForscherInnen darstellen.
Ausmaß und Dauer, die Kinder zur Verfügung haben, um sich 'anerkanntes' kulturelles Kapital anzueignen, hängt primär von der jeweiligen Kapitalausstattung innerhalb der Familie ab (vgl. Bourdieu 1992, S. 58-59). Daraus resultieren unterschiedliche Fähigkeiten der Kinder, den kulturellen Anforderungen eines langandauernden Aneigungsprozesses in der Schule gerecht zu werden. Ein Kind hat nur die Möglichkeit, die Zeit für die Akkumulation von kulturellem Kapital so lange auszudehnen, wie ihm seine Familie freie, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit zu garantieren in der Lage ist. Zeit ist somit auch das Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital.
Jeder Sprechakt oder Diskurs ist in seiner jeweiligen Konstellation - nach Bourdieu - "das Produkt des Zusammentreffens eines sprachlichen Habitus und eines sprachlichen Marktes, das heißt eines Systems von sozial konstituierten Dispositionen auf der einen Seite [...] und eines Systems von Verhältnissen der symbolischen Macht auf der anderen Seite, die über ein System von spezifischen Sanktionen und Zensurmaßnahmen durchgesetzt werden [...]." (Bourdieu 1996, S. 180). Sprachlicher Habitus kann unter anderem beschrieben werden als eine bestimmte Ausdrucksweise, eine bestimmte Art des Sprechens, d.h. auch als eine bestimmte Sprachkompetenz. Dazu gehört die soziale Fähigkeit zum adäquaten Sprachgebrauch in gegebenen Situationen (vgl. ebd).
Charakteristisch für SchülerInnen und Studierende aus weniger privilegierten Milieus ist der Umstand, dass sich diese um sprachliche Sicherheit bemühen müssen, um sich den Sprachnormen der Schule anzupassen (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, 114-115). In der Distanz von Muttersprache und der in der Schule geforderten Sprache liegen auch die Wurzeln der unterschiedlichen Einstellungen zur 'Bildungssprache' überhaupt (vgl. ebd., S. 112). Diese Einstellungen zur 'Bildungssprache' "bilden eines der eindeutigsten Kennzeichen für die soziale Stellung des Sprechenden" (ebd., S. 112).
SchülerInnen und Studierende aus privilegierten sprachlichen Milieus haben die Fähigkeit erlernt, sich 'ungezwungen', sicher und differenziert auszudrücken. Zwischen der Einstellung der privilegierten Klassen zur Sprache und zum Bildungswesen besteht nach Bourdieu eine eindeutige Affinität: "Das Bildungswesen verlangt die Verbalisierung der Erfahrung und damit genau die Einstellung zur Kultur, zu den Erfahrungen und der sie ausdrückenden Sprache, die für den Bildungsbegriff jener Klassen konstitutiv ist." (Ebd., S. 115).
Sprachliche Verhältnisse sind immer Verhältnisse der symbolischen Macht (vgl. Bourdieu 1996, S. 177). Es ist nach Bourdieu nicht möglich, einen Kommunikationsakt allein anhand einer reinen sprachlichen Analyse zu interpretieren. Dieser wird nämlich mitbestimmt durch die jeweiligen Machtverhältnisse zwischen den KommunikationspartnerInnen. Jeder sprachliche Austausch ist zugleich mit ein Produkt eines komplexen Netzes von historischen Machtverhältnissen, nämlich der Art der Autoritätsbeziehung zwischen den Sprechenden (z.B. zwischen der Position der Lehrenden und der SchülerInnen).
Das strukturelle Machtverhältnis zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen bleibt in unterschiedlichsten Kommunikationskontexten prinzipiell - ohne Unterschied zwischen Migranten-Kind oder nicht - erhalten: Auch wenn die Lehrperson im Unterricht, als Zeichen für ihr Bemühen, einen Sachverhalt in der Sprache des Schülers wiederholt, so verzichtet sie zwar vorübergehend auf ihre herrschende Position. Deren Ausklammerung bleibt fiktiv, auch wenn sie in humaner Zuwendung geschieht. Diese fiktive Ausklammerung des Machtverhältnisses profitiert gerade von diesem Machtverhältnis, weil sie auf deren Boden steht (vgl. Bourdieu 1996, S. 178). Dies mag für viele, die auf eine humanistische Psychologie bauen, hart klingen. Bourdieu läßt sich jedoch in seiner strukturellen Analyse nicht beirren und ebnet deshalb nicht die verschiedenen Positionen ein, deren Ungleichheit durch noch so intensives pädagogisches Bemühen nicht aus der Welt zu schaffen ist. Die weitaus häufigere Situation in der Praxis, ist natürlich nicht die oben beschriebene, sondern eine Situation, in der von den SchülerInnen verlangt wird, die Unterrichtssprache anzuwenden - diese ist sicherlich auch differenziert hinsichtlich ihrer regionalen Bindung und unterschiedlicher Nähe zur Hochsprache. Wenn der/die Schüler/in zudem restringiert spricht, ist sein/ihr sprachliches Kapital entsprechend entwertet. Und hier zeigt sich, daß die sprachliche Interaktion zwischen InländerInnen und AusländerInnen vom strukturellen Verhältnis ihrer jeweiligen Beherrschung des Deutschen, d.h. von ungleichgewichtigen Machtverhältnissen geprägt ist, wobei nicht geleugnet wird, daß es außerhalb des Unterrichts schulische Szenen geben kann, in denen aufgrund der Dynamik heterogener Gruppen zu einer Umkehrung der im Unterricht vorherrschenden Machtverhältnisse kommen kann.
Die Weitergabe und der Erwerb von Bildungskapital geschieht viel verborgener als dies beim ökonomischen Kapital der Fall ist (vgl. Bourdieu 1992, S. 57). Dabei wird meist verkannt, dass der Erwerb von sprachlichem Kapital primär in der Familie stattfindet und dass die Fähigkeit zum differenzierten Sprachgebrauch unter sehr ungleichen Voraussetzungen erworben wird. Der Besitz von kulturellem Kapital (z.B. einer elaborierten Sprechweise) kann zur Basis für weitere materielle und symbolische Profite werden.
Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Aneignung von Bildungstiteln wird - nach Bourdieu - mitbestimmt von dem in der gesamten Familie verkörperten kulturellen Kapital. Wie oben ausgeführt, beginnt die Akkumulation von kulturellem Kapital bereits in der frühesten Kindheit. Jene Art von nützlichen Fähigkeiten, die im Bildungssystem primär eingefordert werden, wird - ohne Verzögerung und Zeitverlust - nur in jenen Familien erworben, die über ein hohes Potential an kulturellem Kapital verfügen.
Nach Bourdieu ist die Übertragung von kulturellem Kapital zweifellos die am meisten verdeckte Form 'erblicher' Übertragung von Kapital (vgl. Bourdieu 1998, S. 35). Im Unterschied zu den anderen Kapitalformen (dem ökonomischen oder sozialen Kapital) hat kulturelles Kapital im Bildungssystem einen besonders hohen Wert, weil die Übertragung der anderen Kapitalformen hier sozial kontrolliert wird. Eine korrekte Analyse der Entstehung von Chancen(un)gleichheiten im Bildungswesen müsste somit bei der Entschleierung der 'Vererbungswege' von kulturellem Kapital ansetzen.
© Erna Nairz-Wirth (Institut für Allgemeine Pädagogik und Philosophie an der Wirtschaftsuniversität Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Trotz der vorgenommenen Trennschärfe des Klassifikationsbegriffs wird angemerkt, dass die daraus resultierenden "Klassen" theoretische Gruppierungen darstellen und nicht als real handelnde Kollektivsubjekte verstanden werden sollen. (Zum Klassenbegriff vgl. Bourdieu 1998, S. 23;27), (Pierre Bourdieu 1994, S. 182 - 187); zur Abgrenzung von der traditionellen Klassentheorie (vgl. Eder 1989, S. 15-18; Bourdieu 1994; Krais 2001, S. 31-37).
(2) Die Bildungsherkunft der StudienanfängerInnen wird in Österreich lediglich von allen Erstimmatrikulierenden an den Universitäten und Fachhochschulen und nicht von StudienanfängerInnen an den hochschulverwandten Lehranstalten erfasst. Die hier ausgewerteten Rohdaten werden von der Statistik Austria verwaltet. Eine erstmalige Auswertung der Bildungsherkunft nach Studienrichtungen wurde von der Autorin durchgeführt. Für die Bildungsherkunft der Vätergeneration (inländische männliche Wohnbevölkerung zwischen 40 und 65 Jahren) musste vorerst auf Daten des Mikrozensus 2001 aus dem Bericht zur sozialen Lage der Studierenden zurückgegriffen werden (vgl. Wroblewski 2003, S. 43), da aktuellere Daten zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels im April 2004 noch nicht zur Verfügung gestellt werden konnten.
(3) Selbstverständlich wäre eine Operationalisierung anhand der Bildungsherkunft der Mutter ebenso interessant. Aufgrund der bisher vorliegenden Studien (vgl. Wroblewski 2003, S. 51), ist jedoch anzunehmen, dass sich keine neue "Klasse" im Sinne Bourdieus ergeben würde: Ein Vergleich der Rekrutierungsquoten nach dem höchsten Bildungsabschluss der Väter mit dem der Mütter für das Jahr 2001 zeigte: niedrigere Quoten bei Müttern mit Fachschulabschluss sowie leicht höhere Quoten bei Müttern mit Matura bzw. Akademieabschluss und leicht niedrigere Quoten bei Müttern mit Hochschulabschluss.
(4) Bosnisch ist weitgehend identisch mit Kroatisch und Serbisch und wurde früher mit diesen zu "Serbo-Kroatisch" zusammengefasst. Seit dem Zerfall Jugoslawiens in verschiedene Staaten wurden die jeweiligen 'Dialekte' als verschiedene Sprachen anerkannt. Im Fragebogen der PISA-Studie war aus diesen vier vorgegebenen Kategorien eine auszuwählen.
(5) Basil Bernstein gilt als Klassiker der Defizithyothese, auf deren Basis die Forderung nach - kompensatorischer Erziehung - gestellt wird.
(6) Hier grenzt sich Bourdieu von der Soziolinguistik Bernsteins ab, indem er im besonderen auf dessen Vernachlässigung der sozialen Bedingungen bei der Produktion und Reproduktion des elaborierten Sprachcodes hinweist. (Näheres siehe Bourdieu 1991, S. 53) . Ähnlich kritisiert Bourdieu die Idealsierung der Sprechsituationen bei Chomsky und Habermas. (Näheres siehe Bourdieu 1990, S. 18-19)
(7) Selbstverständlich wird die Unterrichtssprache auch in anderen Kommunikationskontexten teilweise gesprochen, wie z.B. in den Medien.
(8) Unter Muttersprache versteht man die in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache.
(9) Zum den verschiedenen Formen des kulturellen Kapitals siehe Bourdieu 1992, S. 53-63 .
(10) Liebe zur Wissenschaft (Anmerkung der Verfasserin).
(11) Zum Begriff 'Klasse' s. Anm. 1.
(12) M.E. ist bei Bourdieu durchaus eine Brücke - auch in der behandelten Frage der Temporalität - zum monolingualen Habitus (s. Gogolin 1994) möglich.
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