Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Mai 2004
 

9.1. Kulturtourismus Kultur des Tourismus: eine Verbindung von Kulturen?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Ingo Mörth (Universität Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Zeitreisen und Reisezeiten. Zur Magie realer und virtueller Grenzüberschreitungen

Andreas Obrecht (Wien)

 

Abstract

Die letzten 500 Jahre europäische Geschichte lassen sich auch als globale territoriale Vereinnahmung lesen. Dem (kolonialen) Überschreiten der Räume folgten die Verwissenschaftlichung der "ganzen Welt", auch die Psychologisierung und Anthropologisierung des Menschen selbst und seiner Kulturen. Mit der "grenzenlosen" Erweiterung des europäischen (angloamerikanischen) Herrschaftsbereiches korrespondiert auch die Universalisierung von "Zeiten": Heute, in den sogenannten Mobilitätsgesellschaften, wird die "ganze Welt" nicht nur physisch, sondern auch per "Mausklick" für Hunderte Millionen Menschen verfügbar gehalten. Es gibt scheinbar keine Orte in die nicht jederzeit interveniert werden kann: Politik, Wirtschaft, Tourismus scheinen im wahrsten Sinne des Wortes "grenzenlos" geworden zu sein. Die umfassende Rationalisierung, welche die Konstituierung der Moderne begleitet, weckt aber auch - seit zumindest Mitte des 18. Jahrhunderts - Sehnsucht nach "Natur", "Wildheit", Unentfremdetheit", und die umfassende Säkularisierung lässt uns nach "Orten" Ausschau halten, die noch von Magie, Mythen und den "Irrationalismen" der "Archaik" bevölkert sind. Wir finden sie gefahrlos in den "Games" der virtuellen Welt und wir glauben sie auch noch in den Reisen zu jenen "exotischen" Destinationen zu finden, die von uns - den Europäern - schon vor geraumer Zeit "entzaubert" worden sind.

 

Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist weltweite Mobilität nicht nur eine Lebensform von Menschen mit reichlich vorhandenen materiellen Ressourcen, sondern auch das Prinzip der globalisierten Ökonomie.(1)

Sowohl der mobile Mensch als auch die globalisierte Ökonomie verdanken ihre Existenz der "christlichen" Seefahrt - so eigenartig dies auch klingen mag. Sie hat durch die Eroberung des Raumes die Verzeitlichung weltweiter Beziehungen vorbereitet, deren immanente Beschleunigung - von den Verkehrs- und Transportwegen bis zur Informationsübertragung mit Lichtgeschwindigkeit - zu einer relativen und absoluten Entzeitlichung geführt hat. Relativ da, wo weitere Beschleunigung zumindest theoretisch noch möglich, absolut dort, wo diese - wie im Falle elektromagnetischer Wellen - nicht mehr möglich ist. Nicht nur unsichtbare Informationsträger, sondern auch physische Körper rasen zwecks Berichterstattung, Kommunikation, Planung und Realisierung von "zukünftigen" Bewegungen über den Planeten. Die "Reichweiten" haben sich entgrenzt. In der prinzipiell weltweiten Verfügbarkeit von Wissen, Ressourcen und auch individuellen Lebensstilen ist das Reisen, als modernes Nomadisieren, zu einem Strukturprinzip des mobilen Menschen geworden.(2)

Eigentlich ist der Begriff der Reise per se schon anachronistisch, weil es das Reisen im Sinne der mühevollen Fortbewegung faktisch nicht mehr gibt, sondern integrierter Bestandteil des mobilen "normalen" Lebensvollzugs ist - entweder als Teil des Erholungs- oder als Teil des Berufsprogrammes. Bevor freilich die effiziente Organisation des modernen Nomadisierens im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zu dem weltweit profitabelsten Wirtschaftszweig geworden ist, war Reisen immer mühevolle Fortbewegung: denn im Wesentlichen ging es dabei um das Durchschreiten von Räumen auf eigene Gefahr und damit verbunden um eine den Menschen fordernde Auseinandersetzung mit Neuem, Fremdem und damit - zwangsläufig auch - mit sich selbst. Auch das Reisen ist in das Sicherheit und Risikominimierungsprogramm der Moderne integriert worden. Fraglos folgt der Reisende den ihm vorgegebenen Routen und richtet sein Handeln an den Koordinaten aus, die andere - jene nämlich, welche die Reise versichern - für ihn erdacht haben. Dies steht auch in hoher funktionaler Relation zur allgemeinen Raserei auf dem Planeten. Denn mühevolle Fortbewegungen erfordern Zeit, die der mobile Mensch deshalb nicht hat, weil er mit all seinen Bewegungen ununterbrochen Zeit sparen muss, um die Zeit, die er dann doch nicht hat, zu nutzen.

Der Genuese Christóbal Colón, besser bekannt unter dem Künstlernamen Columbus, der im Auftrag der spanischen Königin Isabella mit seiner ersten Atlantiküberquerung das Zeitalter der radikalen europäischen Welteroberung einleitete, musste noch seine Reise wissentlich verlangsamen um nicht eine Meuterei seiner Mannschaft zu provozieren: er fälschte die Eintragungen in das Logbuch, um ihr die tatsächlich zurückgelegten Distanzen vorzuenthalten.(3)

Gemäß den heute unvorstellbaren Härten und Risken der Seefahrt waren diese Seemänner "rohe" und "ungebildete" Leute, die tief im mittelalterlichen Weltbild verhaftet waren: das Meer war von riesigen Seeungeheuern bevölkert und die Erde eine Scheibe, von der aus ins Nichts zu stürzen mit jeder gesegelten Meile wahrscheinlicher wurde. Und doch war die Wahrscheinlichkeit damals, von der Scheibe Erde zu stürzen, geringer - nämlich null - als heute mit dem Flugzeug abzustürzen - diese bewegt sich im Promille-Bereich. Skorbut, Gewalttaten, Schiffbruch, Piraterie - die eigentlichen Risken der rauen Seefahrt - ängstigten die Matrosen weitaus weniger, denn diese kannte man ja. Es waren die Dinge, die man bloß glaubte zu wissen, die panischen Schrecken verbreiteten: Das Ende der Zeit, des Raumes - das Ende der Welt!

Seitdem die Welt grenzenlos geworden ist, sind Reisenden Ängste aller Art so weit wie möglich genommen. Es braucht nicht verlangsamt, es darf beschleunigt werden. Das "Überfliegen" von Zeit und Raum, die massenhafte Verbreitung des Reisens als Teil der Mobilitätskultur hat unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum entscheidend beeinflusst: Für Millionen Menschen gibt es keine Räume mehr auf dieser Welt, die außerhalb ihrer Reichweite liegen. Von dieser Tatsache bis zu der Vorstellung des "global village" ist es dann bloß ein kurzer Schritt. Durch das massenhafte Reisen wird im Kollektiv jene grundlegende Erfahrung von Raumerweiterung und Weltverkleinerung gefahrlos reproduziert, die für die europäische Weltvereinnahmung Jahrhunderte lang symptomatisch gewesen ist. Denn mit jedem neu durchmessenen und vermessenen Raum, und mit jeder Möglichkeit, ein Stückchen weiter zu gelangen, sind die Räume dieser Welt näher zusammengerückt. Ursprünglich "elitäre" Reiseunternehmungen, die im Zeichen der Entdeckung, Missionierung, Kolonialisierung, Bereicherung und Glückssuche standen, wurden durch Massentransportmittel - von der Bahn über das Dampfschiff bis zum Flugzeug - "egalisiert".

Jeder moderne Mensch, sofern er am Reichtum, der durch die globale Weltvereinnahmung entstanden ist, partizipiert, ist sein eigener "Entdecker" - dies freilich ohne sich Gefahren, Mühsal oder den Risken einer persönlichen Veränderung der Wahrnehmung oder Denkungsart auszusetzen. Auch reist der mobile Mensch sicher durch "virtuelle, abgesicherte, künstliche" Räume und erlebt so die Welt als eine Welt. Mit dem Jet-lag hat er umzugehen gelernt, dafür gibt es Pillen oder Ruheräume in den Flughäfen, und wie mit etwaigen "lokalen Besonderheiten" umzugehen ist, wird dem Reisenden in "zeit- und nervensparenden" Kurzinfos als Teil des umfassenden Fortbewegungs-Services mit auf den Weg gegeben. Wie der Reisende "Fremdem" zu begegnen hat, steht von vornherein fest. Die Muster der Interpretation sind Teil der effizienten Fort-Bewegung, die durch nichts gestört werden soll. Dem freilich war nicht immer so, denn es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich ein spezifischer europäischer Umgang mit sogenannten außereuropäischen Kulturen herausgebildet und damit die Standards der Wahrnehmung und damit die "Bilder", durch die Fremdes gesehen wird, bestimmt hat.

Rücken die Räume im Sinne ihrer Erreichbarkeit näher zusammen, so erscheint die Welt als etwas eigen Erfahrbares, als das Eigene, das jederzeit in die eine oder andere Richtung genutzt werden kann. Durch diese Wahrnehmung wird eine Wirklichkeit gesetzt, die territoriale Grenzen aufhebt. Damit sind auch keine kulturellen, sozialen und ökonomischen Grenzen verbindlich. Überall wird jederzeit Intervention möglich, weil der Eingriff in andere Welten nicht mehr als Eingriff erlebt wird. Die andere Welt gibt es in der Wirklichkeit des Intervenierenden gar nicht mehr, sie ist ein längst überholtes Modell einer vormals begrenzten und dem Menschen zeitliche und räumliche Widerstände entgegensetzenden Welt. In der Wahrnehmung mobiler Menschen hat sich der gesamte Globus ihren weitverzweigten Anliegen bereits widerstandslos ergeben. Denn der Fortschritt, den die Mobilität verkörpert, ist das universale Konzept der Menschheit geworden.

Technische Apparate - von Telefon über Fax bis zum E-Mail und Satelitten-Handy - vermitteln ständig und immer eindringlicher - weil immer klarer, schneller, bildhafter etc. - diese Vorstellung der vereinheitlichten Welt, in der es raum-zeitungebunden um offensichtlich ähnliche Fragestellungen, Probleme und Interessen geht. Wir kommunizieren mit der Welt in der Annahme, dass für die Welt die Art wie wir und die Inhalte, die wir kommunizieren ebenso relevant sind wie für uns selbst. Millionen "Selbst im Gehäuse" erzählen einander so jederzeit und allerorts verallgemeinerbare Geschichten. Und tatsächlich: Die Rationalität und die Lebenserfahrung, die diesen Geschichten zugrunde liegen, werden von immer mehr modernisierten, zumeist städtischen Menschen auf der ganzen Welt geteilt. Die Geschichte der europäischen Weltvereinnahmung hat sich in der weltweiten Modernisierung - d.h. in der Art und Weise wie modernes Leben "kulturunabhängig" gedacht und gelebt wird - fortgeschrieben. "Standardcharaktere" von Modernität und Mobilität finden sich von Grönland bis nach Fidschi, von Dakar bis nach Papua Neuguinea. Begleitet wird diese kulturelle Universalisierung durch den technologischen Fort-Schritt, in dem die ehemals koloniale Weltvereinnahmung eine sowohl soziale als auch ökonomische "Verlängerung" findet.

Beide - Technik und Weltvereinnahmung - bedingen einander wechselseitig, denn zeitsparende Geräte und Maschinen reduzieren die Distanzen jener Räume, die durchmessen werden sollen. Dies gilt für die Schiffs- und Navigationstechnologie der "christlichen Seefahrt" ebenso wie für die elektromagnetischen Wellen, die Räume in Sekundenbruchteilen "zerlegen" und so die Übertragung von Information der menschlichen Wahrnehmung völlig entziehen. Heute sind wir an der "natürlichen" Grenze der Beschleunigung im Bereich der Informationsübermittlung und der Kommunikation angelangt. Die mit Lichtgeschwindigkeit übertragenen Signale reduzieren den Raum und die Zeit auf den schnellsten uns bekannten Weg zwischen Raum und Zeit. Somit ist eine wesentliche Funktion des Reisens zu einem faktisch punktuellen Ereignis geworden: Berichten, Informieren und Kommunizieren - egal aus welchen Teilen dieser Welt - bedarf unserer physischen Anwesenheit nicht mehr. Nahezu jeder Ort dieser Welt ist uns praktisch zu jeder Zeit medial zugänglich. Die nach Monaten gefahrvoller Reise in den Häfen und Metropolen Europas eingelangten Berichte der großen Entdecker, Raum- und Zeiteroberer lesen wir heute mit einer Mischung aus Staunen und vielleicht auch ein bisschen Neid: denn vielleicht entgeht uns doch etwas in dieser nahezu risikofrei und grenzenlos durchschreitbaren Welt ...

Die Weltvereinnahmung, die in der Verwissenschaftlichung der Natur und schließlich der Menschen ihre konsequente Verlängerung findet, spiegelt sich auch in diesen frühen Reisebeschreibungen, die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts generell als Beweismittel zur Rekonstruktion der "wahren Ursprünge" der Menschheit angesehen worden sind. Die Welt verkleinert sich auch in dem "Wissen" um andere Völker, denen vorerst mit Angst und Brutalität, dann mit Neugierde und Kuriosität und schließlich mit zunehmendem "wissenschaftlichen" und ökonomischen Interesse begegnet wird. Was ließ sich aus dieser "Begegnung" für die eigene Welt- und Selbst-Beherrschung lernen? Studiert man die einschlägigen historischen Dokumente - die in erster Linie aus Reiseberichten, Logbüchern, Tagebüchern von Seefahrern, Missionaren, Händlern oder Kolonialbeamten bestehen -, so lassen sich zwei Grundtendenzen der Darstellung erkennen: Einerseits wird der "Wilde" als unzivilisierter, unmoralischer, gefährlicher, ungesetzlicher "Barbar" betrachtet, andererseits wird er in der Vorstellung des "edlen Wilden" als naturverbunden, frei, glücklich und der "Last" jeglicher Zivilisation enthoben romantisiert.(4)

Der sich anbahnende, in Europa empfundene "Widerspruch" zwischen Natur und Kultur ist in die stereotype Interpretation - und auch Erstellung - der Reiseberichte hineingelegt. Ein Verlust von "Natürlichkeit" oder - im alten Sprachgebrauch - "Kreatürlichkeit" wird empfunden. Ist das der Preis, den man für eine voranschreitende Zivilisation zu entrichten hat? Ist das der Preis für die umfassende Rationalisierung aller Lebensbereiche, für den Verlust des "natürlichen", auch des magischen Denkens?

Weite Verbreitung findet die Reiseliteratur beim höfischen Publikum des ausgehenden 17. Jahrhunderts.(5)

Steht hier noch exotistisches Staunen über das Kuriose, Eigentümliche, Fremde und Außeralltägliche im Mittelpunkt, so wird die philosophische Auseinandersetzung mit anderen Lebens- und Daseinsformen ab dem beginnenden 18. Jahrhundert gleichsam zur intellektuellen Pflicht. Als das Ideal des "philosophe" in breiteren Kreisen um sich greift, wird die eigene gesellschaftliche und zivilisatorische Entwicklung zusehends anhand außereuropäischer Kulturen reflektiert, kritisiert und legitimiert. So erscheinen ethnologische Materialien wie Spiegel der europäischen Selbstreflexion - die sich der "pluralité des mondes" und damit der eigenen Relativität langsam bewusst werden.(6)

Die Berichte werden mit bekannten Dingen der eigenen Kultur verglichen und nach bestimmten Erkenntnisabsichten strukturiert. Dabei stehen immer die "Vorzüglichkeiten" oder "Nachteile" anderer Lebensformen im Vordergrund.(7)

Von Thomas Hobbes (1588-1679), Charles de Secondant Montesquieu (1689-1755), Francois Marie Arouet Voltaire (1689-1755), David Hume (1711-1776), Johann Gottfried von Herder (1744-1803) und Immanuel Kant (1724-1804) bis hin zu den großen Gesellschaftstheoretikern des 19. Jahrhunderts wie Auguste Comte (1798-1857), Karl Marx (1818-1883) oder Emile Durkheim (1858 - 1917) - die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen wird zu einem "Spiegel" für die theoretische Fundierung und Analyse der eigenen europäischen Gesellschaft, ihren Widersprüchen, Spannungen, Entfremdungen, aber auch Erfolgen und Zukunftsperspektiven. Gelehriger Kosmopolitismus wird spätestens seit Jean Jacques Rousseaus Descourse(8) aus dem Jahre 1755 zum ungeschriebenen Gesetz der Gelehrten. Diese surfen zwar nicht leibhaftig auf den Wellen der Ozeane, die sie zu fremden Kulturen bringen - dies wird erst ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts von jenen eingefordert werden, die über ethnologische Dinge schreiben und reflektieren wollen(9) -, aber die Folianten der Bibliotheken und Archive bieten reichlich Material zu weitläufiger Interpretation. Kulturskeptizisten finden Beschreibungen herrlicher Naturwelten, in denen die Menschen "friedlich und frei" ihre Tage verleben; Fortschrittseuphoriker hingegen finden Berichte über barbarische Welten, in denen man sich seiner selbst keinen Tag sicher sein kann, wodurch die europäische Zivilisation zur ultima ratio gesellschaftlicher und politischer Organisation stilisiert werden kann.(10)

Die Idee, dass Ungleichheit und das Kalkül der Berechenbarkeit den Menschen korrumpieren, ihn von sich selbst entfernen und ihn in einer "vermittelten" Welt letztlich zu einem "künstlichen" Wesen machen, beschäftigt, wie wir sehen, schon manche Gelehrte im 18. Jahrhundert. Rousseau postuliert sein "Zurück zur Natur" gleichsam als - sich in der weiteren Geschichte mit großer Regelmäßigkeit wiederholenden - "letzten" Aufschrei wider die "Gesinnungsdiktatur" der vermittelten Welt. Das, was normal scheint, ist schon lange nicht mehr normal. Die Ausnutzung der "künstlich" gemachten Ungleichheiten zwischen Menschen durch die Mächtigen der Zeit, hinterlässt in ihm das Bild eines zutiefst entwurzelten Wesens, das, einstmals sozial, kooperativ und frei, zu einem herumstreunenden, sich selbst kompetitiv zu Markte tragenden, egoistische Ziele verfolgenden "Wolf" geworden ist. Diesem sind die Mittel genommen, sich zu wehren, da er die "Logik" der Macht verinnerlicht hat. Der Kampf ereignet sich im Inneren des Individuums; Befriedung heißt, dass die äußeren Kriegsschauplätze sukzessive zu inneren werden.

Je mehr die Natur und der Mensch domestiziert und verfügbar gemacht sind, desto zerrissener wird der Mensch selbst. Natur wird "in Szene" gesetzt, und der Mensch wird "in Szene" gesetzt. Von den Parkanlagen der höfischen Kultur - in denen so mancher mondäne Aristokrat durch Rousseau inspiriert mit einer wohlgepflegten Ziege an der Leine spazieren ging - bis hin zu den Nationalparks in Ostafrika, in denen wir "Natur" effizient organisiert bestaunen: wir treten ihr als "Fremde" gegenüber, sind zwar sterblich, doch anders als das, was uns ursprünglich erscheint. Wir haben uns eine Welt nach eigenen Vorstellungen gebaut und sind von der Begegnung mit jenen Räumen der Welt, die noch nicht zur Gänze von uns gestaltet wurden, eigenartig berührt, ja manchmal sogar irritiert. Denn die Jagd des Löwen kommt uns vor wie ein atavistisches Ritual, das einer fernen Welt entstammt, die nicht mehr gemeinsam mit der unsrigen gedacht werden kann.

Die Wildheit, die Unberechenbarkeit, das Gefährliche in uns wird zeitgleich mit dem Wilden, Unberechenbaren und Gefährlichen um uns domestiziert. Von staatlicher Verfügungsgewalt bis hin zur subtilen pädagogischen Disziplinierung reicht das Spektrum der Mittel, die jahrhundertelang zum Einsatz gelangen, so lange bis wir unsere befriedete "Natur" als Wesen des Menschen selbst erkennen werden. Jede Aktion und Reaktion erhält eine Erklärung - der Anthropologisierung folgt die Psychologisierung; nur durch diesen Akt der Rationalisierung menschlicher Handlung kann das Programm der Sicherheit auch im Innenbereich des Menschen fest und stabil verankert werden. Wir reißen unsere Beute ohne Blutvergießen, der Mensch als Fleischfresser und Jäger wird aus dem Bewusstsein des zivilisierten Menschen verbannt. Nicht nur das Leben ist rationalisiert und domestiziert worden, sondern auch der Tod selbst, der doch Voraussetzung für jedes Leben ist.

So können wir mit unserem eigenen Tod und unseren eigenen Toten wenig bis nichts mehr anfangen.(11)

Herausgedacht aus den Zyklen der Welt haben wir uns unsere eigene Welt erschaffen - sicher und versichert, zumindest eine Zeit lang. Das bedrohte, verunsicherte Leben als risikoreiches und jedenfalls tödliches Unternehmen, hat in einer modernen Welt, deren Individuen sich zeitlos verewigen wollen, nichts zu suchen.(12)

Der zum Sprung ansetzende Jäger, dessen Bewegungen wir mit Interesse und vielleicht einem wohligen Schauer verfolgen, beinhaltet für uns dieselbe Romantik wie ein guter Roman über die Schrecken der "schwarzen Pest": in beiden Szenarien finden wir uns als mit Leib und Seele Betroffene nicht mehr wieder, genießen aber die ferne Bedrohung, deren Konsequenz uns nicht mehr, nie mehr erreichen kann. Denn wir sind fest davon überzeugt, nicht mehr Teil dieser Natur zu sein.

Voraussetzung für die rationalistische Perspektive der Moderne war die umfassende, auch gewalttätige Zerschlagung magischer Weltbilder und magischer Interpretationen. Magie, als Allbeseelung der Natur, die durch "unsichtbare" Mächte und Kräfte in diese eingreift, sie manipuliert und gestaltet, hat in einer "künstlich" erschaffenen Welt nichts mehr verloren. Die Ängste sind andere geworden: wir haben keine Angst mehr vor fliegenden Hexen oder dem Fluch eines Zauberers, wir haben vornehmlich Angst, unser eigenes Leben als Befriedigungsszenario und als "Ort" der Erfüllung unterschiedlichster Zeitnutzungsoptionen zu versäumen. Die Gefahr, der wir ausgesetzt sind, geht in erster Linie von uns selbst aus. Und obgleich das Fremde, Unberechenbare in uns selbst domestiziert erscheint, suchen wir dennoch nach jenen "anderen", "exotischen" Orten, die uns kurz vergessen lassen sollen, dass es in unserer Perspektive - jener der Weltvereinnahmung - kaum noch ein Abenteuer geben kann, dass diese Etikettierung tatsächlich verdient. Denn wirkliches Abenteuer heisst "ausgesetzt" sein - unversichert und auf sich selbst zurück geworfen, ohne die Instant-Lösung für die sich ergebenden Probleme bereits in der Tasche zu haben. Geblieben ist - gemäß unserer eigenen Pazifizierung - nur mehr die Simulation des Abenteuers in komfortabler Gefahrlosigkeit.

Die virtuelle Welt ist die vorläufige Vollendung des gefahrlosen Abenteuers. Durch Galaxien fliegen, mit Monstren kämpfen, Flüsse befahren - Aug in Aug mit Krokodilen und Nilpferden, Außerirdischen und wilden Eingeborenen. Vergessen geglaubte Mythen und Erzählungen tauchen in den Games wieder auf, atavistische und futuristische Szenarien - verbunden durch viel Gewalt und eine lebenswichtige Eigenschaft: Schnelligkeit, zwar simuliert, aber immerhin. Man muss blitzschnell aufs Knöpfchen drücken, um sein virtuelles alter ego noch einmal über die Runden zu bringen. Der virtuelle Raum, in dem sich das "Game" ereignet, zwingt den Spieler in eine ziemlich schonungslose zeitliche Ordnung: er ist Gejagter und Jagender in einem, "lernt" er dabei schnell, eröffnen sich ihm weitere Räume. Mobile Menschen sind Raum-Durchschreiter und bleiben es erst recht in der Simulation vor dem Monitor. Für das Durchschreiten der Räume sind Grenzen und Widerstände nötig; es ist kein Zufall, dass diese in einer entgrenzten und entzeitlichten Welt artifiziell reproduziert werden. Gefahren zeigen Grenzen an, sie nötigen dem Menschen Reaktion und Bewegung ab - eine gefahrlose Welt ist eine leblose Welt. Der virtuellen Gefahr zu begegnen und an dieser Begegnung Spaß zu haben, setzt für mich - so eigenartig dies auf den ersten Blick scheinen mag - ein zentrales Motiv der generellen Pazifizierung und Befriedung der äußeren Lebensbereiche fort: das der Romantisierung und Ästhetisierung. Romantisierung - und damit auch der "gefahrlose Kitzel des Gefährlichen" - ist eine bildliche Reintegration bedrohlicher Aspekte dieser Welt in eine als amüsant oder schön oder spannend erlebte Gesamtheit nach der zeitlichen und räumlichen Zergliederung, Verwissenschaftlichung und Befriedung eben dieser Welt. Das, was die manische Wissensanhäufung prinzipiell verhindert, setzt die Romantisierung "in Szene": sie lässt der Phantasie freien Lauf, ohne den Phantasten in seiner Unaufmerksamkeit gegenüber den realen Dingen zu gefährden.

In einer wissenschaftlich nicht erklärten und technisch nicht manipulierten Welt gibt es keine Romantisierungen. Die Möglichkeit zur Romantisierung setzt die Realisierung des Programms der Sicherheit durch Weltvereinnahmung bereits voraus. Gefahrloses Abenteuer und Schönheit sind miteinander eng verwandt. Ein wirklicher Fluss, der lebt - der bedrohlich anschwellen kann, in dem tatsächlich Krokodile lauern, der Leben nimmt, aber auch gibt, weil er voll Nahrung ist, das Wasser zum Trinken spendet etc. -, kann in der Wahrnehmung der an, mit und durch ihn Lebenden nicht schön sein. Die "Schönheit" der Natur oder einer Reise oder des Menschen stellt eine Kategorie der Wahrnehmung und des Erlebens nach erfolgter Pazifizierung dar. Sie setzt ein Lebensgefühl voraus, das schon Rousseau eindringlich beschrieben hat: den von der Natur durch Instrumente, Technik und viel Rationalisierung getrennten Menschen. Die "Schönheit" setzt voraus, dass der Mensch keine Gegenwart mehr hat, weil die Zukunft als Programm der Lebensabsicherung in jedem Augenblick der Gegenwart bereits begonnen hat.

Was also wird wovon getrennt, wenn die "neue Zeit" das europäische Programm zur Dienstbarmachung von "Natur" von "Welt überhaupt" in den Köpfen der Menschen - gleich wo auf diesem Planeten - verankern will? Geht dabei vielleicht etwas verloren, was wir in den Strukturen der neuzeitlichen Wirklichkeit niemals mehr wiederfinden können, weil wir keine Worte für das Verlorengegangene haben, weil die "alte" Wirklichkeit aufhört zu sein, in dem Moment, wo sie nicht mehr bezeichnet ist?(13)

Wir können noch so viele "außereuropäische Kulturen" und "exotische Orte" bereisen, auf der Suche nach einer Magie - einer "anderen" Welterklärung -, die unserer "künstlichen" Welt nicht nur abhanden gekommen ist, sondern deren allmähliches Verschwinden Voraussetzung für das Entstehen "unserer" Welt war; wir können noch so viele Masken, magische Fetische, Objekte "vergangener" Wirklichkeiten in unsere Museen stellen und noch so viele Bibliotheken mit gelehrigen Abhandlungen über sie füllen - Wissen und damit Wirklichkeit stirbt, wenn es nicht mehr von atmenden, denkenden, fühlenden, letztlich sterbenden Menschen gelebt und weitergegeben wird.

Wissen und Wirklichkeit sind - entgegen den Prinzipien "manischer Wissensanhäufung" - organische Prozesse, gebunden an sie tragende und durch sie die Welt erschaffende Individuen. Nicht die Abstraktion, das von dem Erklärungszusammenhang herausgelöste Objekt zählt, sondern nur die Beziehung des Menschen zu der von ihm und durch seine Sprache geschaffenen Objektwelt. Diese Beziehung ist etwas Lebendiges, sie ist etwas Subjektives, sie lässt sich auf nichts anderes als auf gelebte Zeit reduzieren. Der Zeitreichtum sogenannter armer Gesellschaften setzt dem Programm der Zeitverknappung Widerstände entgegen, dennoch sterben ethnisches Wissen und damit magische Wirklichkeiten in rasantem Tempo. "Modernisierung" ist ein irreversibler Prozeß. Auch wenn sie sich nicht im Sinne der Mobilitätsgesellschaften weltweit durchzusetzen vermag, so verändert sie doch die kulturellen Strukturen auf allen Ebenen. Neue Synthesen entstehen in neuen Leben, die nicht die europäische Vorstellung von Welt reproduzieren, aber sich dennoch qualitativ von der Welt der "Alten" unterscheiden. Subsistenzwirtschaftliche Orientierung, ökonomische Umverteilung und magische Weltinterpretation zeichnen alle ethnischen Gesellschaften aus, denen wir auf unseren "exotischen" Reisen noch begegnen können. Wir fühlen, dass wir dem Erbe einer im Verschwinden begriffenen "archaischen" Welt begegnen, aber - sofern wir uns wirklich an diese annähern wollen - fühlen wir auch, wie fremd sie uns geworden ist. Trotzdem wir ihre Sprache nicht mehr sprechen, sehnen wir uns dennoch nach ihr. Welchem Manko in uns versuchen wir dadurch zu begegnen?

Es scheint uns, als wären Kultur und Natur, Ich und Gesellschaft, Freizeit und Arbeitszeit, Spiritualität und Alltag in diesen Gesellschaften noch nicht voneinander getrennt! Wir erleben eine schwer zu identifizierende und schwer zu beschreibende Fülle an Vitalität, "Unkompliziertheit" und Zeitreichtum. Wir sind in ein anderes kulturelles Bezugssystem gestellt und können endlich die Hast, den Materialismus und die trotz langer Lebenserwartung von fast allen gespürte "Flüchtigkeit des Lebens" in unserer "Herkunftskultur" relativieren. Wir sehnen uns nach weniger Druck, mehr Raum und mehr Zeit. Und wir glauben all dies immer wieder an exotischen Orten zu finden, die nicht nach den Zeigern unserer Uhren und nach den Sachzwängen unserer Rationalität ticken. Und weil wir all das glauben, die Verweildauer in den jeweils "anderen Welten" kurz ist, das Rückflugticket keinesfalls verfallen darf und wir unsere Suche nach dem "Verlorengegangenen in unserer eigenen Kultur" ja auch sinnvoll interpretieren müssen, neigen wir dazu, heftigst zu romantisieren. Wir sehen Schönheit und Freiheit und Ganzheit. Alles Begrifflichkeiten, die zentrale gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen unserer eigenen Kultur voraussetzen. Wir neigen also dazu, das in "unentfremdeten" Kulturen zu erblicken, was verhindert, das wir selbst wirklich Anteil an ihnen und ihrer Lebensweisen nehmen können. Und deshalb, Lemmingen gleich, brechen wir immer wieder zu "exotischen" Orten und außereuropäischen Kulturen auf - um etwas zu "lernen", auch wenn wir dadurch bloß unsere eigene Vorstellung von Fülle und Manko bestätigen.

Auf der Suche nach unseren Vorstellungen und "verloren" geglaubten Gewissheiten begegnen wir Welten, in denen magische Weltbilder noch ungebrochen sind, mit der Neugierde von Kindern, die sich - wider besseren Wissens - den Weihnachtszauber nicht verdrießen lassen wollen: Fliegende Schamanen, heilende Herbalisten, unentfremdete Naturmenschen, selbstversorgende Freiheitsliebende. All diese Bilder tragen die Kriterien der Beurteilung unserer Welt in sich, denn die Inhalte, die sie ansprechen, haben im ethnischen Kontext jeweils eine andere Bedeutung. So ist es auch mit den Ängsten. Dass Magie Welt ordnet, regelt, kontrolliert, manipuliert, lebbar und verstehbar macht, wird in der romantisierenden Sprache über sie regelmäßig negiert.(14)

Sie erscheint dann als Exotikum, das Dinge möglich macht, die in der "gemachten" Welt nicht mehr möglich sind. Das stimmt zwar, aber die "geheimnisvolle Wirkkraft" der Magie ist aus sich heraus nicht begründbar, sie funktioniert aufgrund der sozialen und religiösen Ordnung, die ihr Bedeutung verleiht. In der moderneren Welt wird Magie weitgehend ineffektiv, nicht weil ihre "geheimnisvolle Wirkkraft" verschwunden ist, sondern weil die Ordnung der Dinge in der "gemachten" Welt dieser Wirkkraft nicht gehorcht. Magie entfaltet dann ihren Einfluss, wenn die Wirklichkeit, in der sie wirkt, durch sie entstanden ist. Dort wo Flugzeuge fliegen brauchen Schamanen nicht mehr zu fliegen!

Das gleiche gilt für die durch Magie freigesetzten Ängste. Ängste normieren und regeln soziale Beziehungen. Menschen ethnischer Gesellschaften haben keine Angst "etwas zu versäumen", keine Angst vor Übergewicht oder Herzinfarkt - dafür haben sie Angst vor Hexerei. Sie können aber auch Unglück magisch abwenden, sie können heilen, mit ihren Toten kommunizieren und Welt nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten von Sein denken und somit leben. Alle ethnischen Gesellschaften stellen magische Systeme dar, innerhalb derer die Wirklichkeit durch magisch-rituelle Praxis beeinflussbar wird, weil die Konstruktion der Wirklichkeit einem magischen Grundprinzip folgt: dem der Beseelung, dem des Lebens, dem des Zeitreichtums, dem des Subjekts und nicht dem des Anorganischen, dem des Objekts, dem der Zeitbeschleunigung, dem der technischen Reproduzierbarkeit! Magie ist ein ehemals an den Ethnos gebundenes Universum - in der zeitverknappten, objektzentrierten Warenwelt individueller "Erfüllungsversessenheit" wird man nach ihr vergeblich suchen.

Auch deshalb begeben wir uns auf die Reise zu "außereuropäischen Kulturen" und "magischen Orten": wir suchen eine "Ganzheit", die unserer Vorstellung von "Trennung" spiegelt und wir suchen ein spirituelles, "unentfremdetes Leben", das an unsere Vorstellung von Säkularisierung und "Entfremdung" gebunden ist, die "Antithese" zu dieser darstellen soll. Teils finden wir das, was wir suchen, auch wenn das, was wir durch diese eurozentrische Form der Suche gefunden haben, keine Entsprechung in der Wirklichkeit jener Menschen und Kulturen hat, denen wir glauben unsere kurzweiligen und jeweils von neuem austauschbaren "Erkenntnisse" und "Erfahrungen" zu verdanken.

© Andreas Obrecht (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Teile der nachfolgenden Absätze sind erschienen in Obrecht, A. J. (2003): Zeitreichtum Zeitarmut. Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit. Frankfurt.

(2) Vgl. dazu: Obrecht, A. J. (et al.) (Hg.) (1992): Kultur des Reisens. Notizen, Berichte, Reflexionen. Wien.

(3) Vgl. dazu Granzotto, G. (1988): Christoph Kolumbus. Reinbek; sowie Madariaga, S. de (1992): Kolumbus. Bern, München.

(4) Eine Fülle historischen Materials zu diesen Stereotypisierungen findet sich in Bitterli, U. (1976): Die "Wilden" und die "Zivilisierten". Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München.

(5) Vgl. dazu Adkinson, G. (1922): An Extraordinary Voyage in French Literature 1700 to 1720. Paris, S. 10f

(6) Friedrich Jonas dazu: Zahllose Reisebeschreibungen konfrontieren den Gebildeten an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit der pluralité des mondes. Hier zeigt sich nicht nur die Relativität .... der gesellschaftlichen Einrichtungen, hier zeigt sich zudem, dass die bessere Welt, von der man lange Zeit geträumt hat, eine irdische, reale Möglichkeit ist, die zu ihrer Verwirklichung anscheinend nur des guten Willens bedarf. Jonas, F. (1980): Geschichte der Soziologie. Band I, S. 22f. Opladen

(7) Vgl. dazu die gelungene Darstellung in Bitterli, U. (1976): ebd., Kap.4: Kulturgeschichtliche Betrachtungsweise: Die Weitläufigkeit aufgeklärter Wissenschaft. S. 269-324

(8) Der "Discours sur les sciences et le arts" war Rousseaus Antwort auf die von der Akademie zu Dijou gestellte Preisfrage nach den Ursprüngen der gesellschaftlichen Ungleichheit und erschien erstmals 1755. Der französische Ethnologe Claude Levi Strauss nennt Rousseau den Begründer der modernen Ethnologie.

(9) Erst ab den Zwanziger-Jahren wird die Feldforschung also das Studieren außereuropäischer Kulturen "aus erster Hand" paradigmatisch eingefordert. Das "Feldforschungsparadigma" wird gern und nicht zu unrecht mit dem berühmten Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski (1884-1942) in Zusammenhang gebracht, der um als Pole einem australischen Internierungslager während des ersten Weltkriegs zu entgehen ab 1917 intensive Forschungen in der melanesischen Inselwelt durchgeführt hat. Vgl. dazu: Malinowski, B. (1975): Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze. Frankfurt.

(10) Das Motiv der allgemeinen Barbarei in staatlich nicht regulierten Gesellschaften homo homini lupus - findet sich mit großer Regelmäßigkeit seit der gesellschaftsvertraglichen Konzeption von Thomas Hobbes wieder. Über die politische Organisation hinausgehend stellt es das Motiv zur generellen Regulierung des Menschen durch die pazifizierenden und disziplinierenden Einflüsse der "Zivilisation" dar auch durch die "willentliche" Unterwerfung unter einen Souverän. Vgl dazu Hobbes T. (1650/1992): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. V. I. Fetscher. Frankfurt.

Diese Grundidee findet sich auch in der Vorstellung von der zivilisatorischen Triebrestriktion wieder je "zivilisierter" eine Gesellschaft, desto "triebrestriktiver" etwa in der Kulturtheorie Sigmund Freuds: Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut diesen Satz zu bestreiten? Freud, S. (1981): Das Unbehagen in der Kultur. In: Abriß der Psychoanalyse. Frankfurt, S. 102

(11) Über den Verlust der "Ökonomie des Todes" und die "Ars moriendi" ist viel geschrieben worden, wobei es vornehmlich um die Ohnmacht des "modernen" Menschen geht Tod und Sterben sinnvoll zu interpretieren und in einen gesellschaftlich nicht tabuisierten Rahmen zu stellen. Unübertroffener "Klassiker" der historischen Thanatologie ist Ariés, P. (1987): Die Geschichte des Todes. München.

(12) Ein schönes Buch, das die Zusammenhänge zwischen zeitlicher Beschleunigung, individueller Erfüllungsversessenheit und Verneinung des Todes und der Sterblichkeit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene erhellt, ist: Gronemeyer, M. (1996): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnis und Zeitverknappung. Darmstadt.

(13) Norbert Elias beschreibt dieses erkenntnistheoretische Dilemma folgendermaßen: Die Struktur des Nicht-Wissens von Menschen in Worten von Menschen zu beschreiben, die bereits wissen, ist keine einfache Aufgabe. Alle diese Worte verkörpern ein Niveau der Synthese oder, wenn man will, der Abstraktion, das für eine spätere Stufe in einem Wissensprozeß repräsentativ ist. So mag man zum Beispiel fragen, wie Menschen früherer Gesellschaften die Natur erlebten. Da aber diese Menschen nicht alles wußten was wir wissen, nahmen sie Vögel und Elefanten, Bäume, Berge, Wolken und was immer sonst, nicht als einen einheitlichen Geschehenszusammenhang wahr, der in der Form mechanischer Ursachen und Wirkungen verknüpft ist und unpersönlichen Gesetzen folgt mit einem Wort nicht als "Natur". Sie hatten keine begrifflichen Symbole des sehr hohen Synthese- und Abstraktionsniveaus, das für Begriffe wie "Ursache", "Zeit" oder "Natur" charakteristisch ist. Wenn man daher fragt, wie sie die "Natur" erlebten, hat man die Antwort bereits vorentschieden. Elias, N. (1987): Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Frankfurt, S. 91

(14) Auch in der wissenschaftlichen Diskussion bleibt der normative Aspekt der Magie oft unterbelichtet: In einer Gesellschaft, in der es kein gesatztes Recht und keine an eine politische Zentralgewalt gebundene, rechtsdurchsetzende Institutionen gibt, werden normative Regeln großteils über den Kodex der Magie verinnerlicht. Im eurozentrischen Denken scheint dies obendrein bedenklich zu sein, da es kein "objektives" gesatztes Kriterium für Rechtssicherheit gibt. Diese Interpretation unterschätzt wiederum die Stringenz und den allgemein verbindlichen Charakter der magischen Sanktion. Jeder eklatante Normbruch, jedes Verbrechen setzt auch in einer Gesellschaft ohne Gefängnis, Psychiatrie und Schule die individuelle Zukunft des Delinquenten aufs Spiel, auch wenn die Art dieses "Zeitentzugs" so ganz anders eben magisch bis hin in den Tod beschaffen sein mag.

 

LITERATUR

Adkinson, G. (1922): An Extraordinary Voyage in French Literature 1700 to 1720. Paris

Ariés, P. (1987): Die Geschichte des Todes. München.

Bitterli, U. (1976): Die "Wilden" und die "Zivilisierten". Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München.

Elias, N. (1987): Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Frankfurt.

Freud, S. (1981): Das Unbehagen in der Kultur. In: Abriß der Psychoanalyse. Frankfurt.

Granzotto, G. (1988): Christoph Kolumbus. Reinbek

Gronemeyer, M. (1996): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnis und Zeitverknappung. Darmstadt.

Hobbes T. (1650/1992): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. V. I. Fetscher. Frankfurt.

Jonas, F. (1980): Geschichte der Soziologie. Band I, S. 22f. Opladen

Madariaga, S. de (1992): Kolumbus. Bern, München.

Obrecht, A. J. (et al.) (Hg.) (1992): Kultur des Reisens. Notizen, Berichte, Reflexionen. Wien.

Obrecht, A. J. (2003): Zeitreichtum - Zeitarmut. Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit. Frankfurt.


9.1. Kulturtourismus Kultur des Tourismus: eine Verbindung von Kulturen?

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For quotation purposes:
Andreas Obrecht (Wien): Zeitreisen und Reisezeiten. Zur Magie realer und virtueller Grenzüberschreitungen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/09_1/obrecht15.htm

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