Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Dezember 2005
 

10.4. Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs Klaus Wiegerling (Stuttgart) / Christoph Hubig (Stuttgart)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Virtualisierung der Wahrnehmung

Klaus Wiegerling (Stuttgart)
[BIO]

 

Obwohl mit dem Begriff der Virtualität tatsächlich eine Vielzahl handfester philosophischer Probleme verbunden sind, soll hier weitgehend auf eine ausdrückliche Erörterung dieser Probleme verzichtet werden.(1)

Im gegenwärtigen allgemeinwissenschaftlichen und öffentlichen Gebrauch wird der Begriff in einen Gegensatz zu den Begriffen der Realität und der Wirklichkeit gebracht. Virtualität kommt vom Lateinischen virtus = Kraft, Vermögen und bezeichnet etwas, was einen ontologisch uneindeutigen Status hat. Man konstatiert mit dem Begriff meist eine Wirkung ohne den Realitätsgehalt dessen, von dem die Wirkung ausgeht, modal oder ontologisch zu klassifizieren. Der Begriff taugt wenig zur Unterscheidung von der physikalischen Realität, da auch in ihr Virtualität waltet. Im Gegensatz zur Virtualität zeichnet sich Realität durch ontologische Eindeutigkeit aus. Realität kommt vom Mittellateinischen realis, was soviel heißt wie sachlich, dinghaft. Realität ist also sachlich bestimmt.

Komplizierter ist das Verhältnis von Virtualität zu Wirklichkeit. Im Begriff der Wirklichkeit liegt wie im griechischen Begriff der energeia eine Betonung auf der Wirkung, die von einem sachlich Gegebenen ausgeht. Wirklichkeit ist in gewisser Weise ein umfassenderer Begriff wie Realität, insofern das Wirken eines sachlich Gegebenen auf Zustandsveränderungen und deren Verknüpfung geht. Der Begriff der Wirklichkeit steht insofern dem Begriff der Virtualität näher als dem der Realität. Virtualität intendiert in gewisser Weise Ähnliches wie Wirklichkeit, wobei im zweiten Fall der Sachgehalt bestimmt ist, im ersten Fall nicht. Die Sachhaltigkeit einer Gegebenheit kann in unterschiedlichster Weise gegeben sein, als taktile, visuelle, olfaktorische und auditive, sie kann in unterschiedlichen Verknüpfungsreihen gegeben sein, etwa im Sinne einer physikalischen, physiologischen, informatischen, mythologischen oder einer psychischen Gegebenheit. Wirklichkeit dagegen übersteigt die sachhaltige Gegebenheit, stellt diese vielmehr in einen Horizont. Wirklichkeit ist nun nicht etwas isoliert Gegebenes, sie ist vielmehr selbst eine Horizontordnung. Es kommt hier also nicht auf das einzelne Realitätsstück an, als vielmehr auf dessen Funktion innerhalb eines relationalen oder symbolischen Zusammenhangs. Das heißt, ein Phänomen ist uns innerhalb einer Ordnung gegeben, in der wir es anschließen und zuordnen können. Und diese die sachliche Gegebenheit transzendierende Ordnung macht das aus, was wir Wirklichkeit nennen.

Doch damit ist Wirklichkeit noch nicht vollständig bestimmt: Zu einer vollständigen Bestimmung gehören noch folgende Faktoren:

In Bezug auf die Wahrnehmung verstehe ich nun unter Virtualisierung folgendes:

Die Wahrnehmung wird in gewisser Weise in einen optionalen Zustand überführt. Wir orientieren uns in der Wahrnehmung also weniger an einer konkret und widerständig vorgegebenen Sache, sondern an möglichen Wirkungen, die von der Sache ausgehen können. Die Sache in ihrer konkreten Gegebenheit bzw. Widerständigkeit verschwindet dabei aus dem Blick, dafür treten Wirkungsmöglichkeiten einer vermeintlichen, aber nicht klar bestimmten Sache ins Zentrum. Die Wahrnehmung orientiert sich also weniger an der Widerständigkeit der Sache als vielmehr an Möglichkeiten, die in einer angenommenen bzw. konstruierten Sache liegen.

Die virtualisierte Wahrnehmung stellt nun keine eindeutigen Relationen mehr zur Sache her, konstatiert keine eindeutige Distanz zur Sache, sondern bietet nur noch mögliche Relationen und Distanzen. Das heißt, die Wahrnehmung löst sich letztlich auch vom Leib und seiner konkreten Positionierung und Empfindung und wird zunehmend zum Produkt einer Konstruktion.

Die virtualisierte Wahrnehmung bestimmt Realität und Wirklichkeit in einer neuen Weise. Sie bestimmt die Sachhaltigkeit des Gegebenen als eine Option, die die Widerständigkeit des Gegebenen sozusagen eliminiert. Wirklichkeit wird so zu einer beliebig anwendbaren Spielform, in die ich jederzeit ein-, und aus der ich jederzeit austreten kann.

Der Begriff der Virtualisierung ist aber natürlich nicht aus der Philosophie in den modernen allgemeinwissenschaftlichen Gebrauch gelangt, sondern aus technischen Disziplinen, namentlich der Computerwissenschaft. Virtualisierungen finden nach diesem Verständnis durch die Anwendung medialer Zwischenschaltungen statt, wobei diese Zwischenschaltungen als apparativ-technische Dispositive zu verstehen sind.

Nun ist unsere Wahrnehmung schon immer durch mediale Zwischenschaltungen disponiert, wobei als Urmedium die Kultur gelten muß, die sogar das Medium des Leibes disponiert. Dieses Urmedium ist kein apparatives in modernem Sinne, wiewohl technische Implikationen und Zurüstungen von Anfang an unsere Kultur bestimmen. Das einfachste und einsichtigste Beispiel ist hier wohl die Schrift, deren Hervorbringung und deren Anwendung natürlich Technik erfordert. Dennoch erscheint es für’s erste sinnvoll, eine primäre kulturelle Disposition von einer sekundären apparativen Disposition zu trennen, da insbesondere die modernen apparativen Dispositionen eine gewisse kulturelle Unabhängigkeit und Eigenständigkeit erlangt und eine besondere Erweiterung unserer Wahrnehmung mit sich gebracht haben. Die technisch-apparative Disposition unsere Weltwahrnehmung hat bereits sehr früh eine - wenn auch metaphorische - Thematisierung erfahren. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß bereits 1559 Nikolaus von Kues einen einführenden Text in seine Lehre "De beryllo" nannte. Er schreibt dazu: "Der Beryll ist ein glänzender, weißer und durchsichtiger Stein. Ihm wird eine zugleich konkave und konvexe Form verliehen, und wer durch ihn hindurchsieht, berührt zuvor Unsichtbares."(3). Der Beryll steht also für ein Vergrößerungs- oder Fokussierungsglas, das uns in eine mit dem natürlichen Auge nicht einsehbare Welt führt. Erst mit technischer Hilfe können uns also bestimmte Dimensionen der Welt erschlossen werden. Wir hätten keine moderne Biologie und Astronomie ohne entsprechende Mikroskope bzw. Fernrohre.

Medien können nun Realität überhaupt erst in den Blick bringen, können sie aber auch verändern. Erst aufgrund photographischer Techniken konnten Einsichten gewonnen werden in die Flugbewegung eines Kolibris und in die Gehbewegung eines gallopierenden Pferdes. Mediale Techniken eröffnen somit erst den Zugang zu bestimmten Realitätsstücken. Andererseits verändern visuelle Medien auch entscheidend unsere Realitätserfahrung, wie nicht zuletzt die Erkenntnis der Quantenphysik belegt. Jede instrumentell bedingte Beobachtung im mikrophysikalischen Bereich bringt eine Veränderung dessen mit sich, was beobachtet werden soll.

Apparative Techniken wirken aber auch dann, wenn sie nicht in konkretem Einsatz sind. Das heißt sie wandeln unsere Wahrnehmung in grundsätzlicher Weise. Flusser spricht in seinem Artikel Bilderstatus davon, daß das Apperative die Bilderfahrungen unserer gegenwärtigen Epoche prägt: "Diese Apparate, die wir überallhin mitschleppen, müssen gar nicht mehr vor unseren Bäuchen baumeln. Wir haben sie alle bereits im Bauch, und sie knipsen, rollen und winden sich in unserem Innern."(4) Wir können die Welt also nicht mehr unvoreingenommen betrachten, sondern nehmen diese durch die Brille einer bestimmten apparativen Formung wahr. Dies gilt nicht nur für visuelle Wahrnehmungen. Die für die Jazzmusik charakteristischen Blue Notes resultierten aus Inkongruenzen von Hörgewohnheiten in der Begegnung mit anders skalierten Musikinstrumenten. Schwarzafrikanische Sklaven, die in Amerika erstmals mit europäischen Instrumenten konfrontiert waren, hatten extreme Zuordnungsprobleme von bestimmten Tönen, die sie von ihren zumeist pentatonischen Musikskalen nicht kannten. Aus dieser Unfähigkeit der Zuordnung resultierten die berühmten Blue Notes, die für die Jazzmusik typische Unschärfe.

Kurz und gut, unsere ganze Wahrnehmung ist medial disponiert. Auch apparative Medien erweisen sich dabei als Einbindungs- und Verknüpfungsinstanzen. Wenn ich eben davon sprach, daß man mit einem gewissen Recht apparative Medien vom Urmedium der Kultur trennen kann, dann hebt sich hier diese Trennung natürlich sofort wieder auf, insofern das Apparative zugleich wieder bestimmte kulturelle Präferenzen schafft und selbst wieder als ein kultureller, also auch historischer Ausdruck verstanden werden muß. Kultur und Technik sind sozusagen einander durchdringende Verknüpfungssysteme, die nicht streng voneinander geschieden werden können. So wie die durch die Schrift bestimmte Gutenberg-Welt unsere Weltwahrnehmung lange dominierte, indem sie die Welt sozusagen in eine lineare und historische Ordnung brachte, so stehen wir heute in einer Welt, die v.a. in der Weise akkumulierender Bilder gegeben ist. Und die Ordnung der sichtbaren Welt unterscheidet sich durchaus von der Ordnung, die die Schrift vermittelt.

Aus diesen kursorischen Ausführungen ergibt sich, daß jede Form der Wahrnehmung eigentlich eine extrapolierende, die reine Gegebenheit übersteigende, ja transponierende Leistung ist. Jede Wahrnehmung ist zugleich eine Weise der Zu- und Einordnung. Wir verfügen immer schon über Muster, nach denen wir das, was uns affiziert, zuordnen. Alles Wahrnehmen ist ein Überschreiten des Gegebenen. Man denke an die berühmten Bilder, die je nach Blickwinkel und wohl auch je nach Stimmung uns entweder eine alte Frau oder ein junges Mädchen sehen lassen. Wahrnehmen ist also nicht ein passives Aneignen eines Eindrucks auf einer inneren Belichtungsplatte, sondern eine aktive Weise der Zuordnung. Fakten sind uns also nie rein gegeben, sondern stehen immer schon in einer bestimmten Fügung. Dieses Phänomen faßt Ernst Cassirer mit dem Begriff der symbolischen Prägnanz.(5)

Wir sehen die Dinge nie isoliert, sondern immer in bestimmten Relationen stehend. Aber wir nehmen sie bisher dennoch in einem bestimmten Realitätsgehalt und in einer bestimmten Widerständigkeit wahr. Das heißt, die Dinge sind nicht ein beliebiges Variationsprodukt, sondern sie stehen in bestimmten und tatsächlich bestimmbaren Verknüpfungszusammenhängen. Halten wir für’s erste fest: Wahrnehmung ist immer schon ein Übersteigen des Wahrgenommenen, es ist eine Weise der Zuordnung des Gegebenen, sozusagen eine erste, kaum ausdrückliche Auslegung des Als.

Stellen wir nun die Frage, inwiefern durch neue informationstechnologische Möglichkeiten auch Fehlwahrnehmungen disponiert werden können. Unter Fehlwahrnehmungen ist dabei folgendes zu verstehen: Wir verkennen zum einen die Widerständigkeit des wahrgenommenen Objektes. Wir bestimmen zum zweiten den Sachgehalt der Realität falsch. Zum dritten verlieren wir den eigenen besonderen Zugang zu den Objekten unserer Wahrnehmung, insofern wir sozusagen durch die Apparatur eine Entindividualisierung und Entkontextualisuierung erfahren. Zuletzt verkennen wir den Verknüpfungs- und Einordnungszusammenhang, der von mir bestimmte Handlungen erwartet.

Ich versuche diese Phänomen an einer aktuellen und vielleicht besonders drastischen Form der Virtualisierung unserer Wahrnehmung zu beschreiben. In modernen informatischen Anwendungsformen, die mit den Begriffen Ubiquitous und Pervasive Computing umschrieben werden. Darunter faßt man die in Ansätzen bereits verwirklichte Idee einer totalen Ausstattung der natürlichen Umwelt mit Kleinstcomputern und Sensoren, die imstande sind jederzeit Informationen auszutauschen und jederzeit Informationen über den Gegenstand, an dem sie haften, zu geben bzw. Informationen über die nächste Umgebung zu liefern. Das Entscheidende aber ist, daß man den Cyberspace nun in sozusagen wieder in die reale Welt holt. Man ist, ausgestattet mit einem portablen Kleincomputer ständig vernetzt und navigiert in gewisser Hinsicht nun durch eine natürliche Welt, die ‚intelligent’ geworden ist, die mich also aufklären kann über meinen Standort, über die Gefahren, die an diesem Standort bestehen, die mich aufklären kann über die Nutzungsgeschichte des Gegenstandes, mit dem ich hantieren will usw. Die physische Welt erhält sozusagen ein eigenes Gedächtnis und ein eigenes Wahrnehmungsvermögen. Der Schlüsselbegriff, der diese neue Fähigkeit faßt, lautet Augmented Reality. Es geht also um eine Realität, die jetzt mehr ist als sie in ihrer physikalischen Gegebenheit ist. Es handelt sich um eine sozusagen informatisch und informell ergänzte Welt. Die Wand, vor der ich stehe, gibt mir nun Auskunft über Temperaturen, über Menschen, die an ihr vorübergekommen sind und über die lokale Umgebung, das Glas gibt mir Auskunft, wer wann aus ihm getrunken hat und wie oft es gespült worden ist.

Augmented Reality heißt also, daß ich mit einer vermehrten oder ergänzten Realität konfrontiert bin. Die sachliche Gegebenheit wird nun in besonderer, meist orientierender Hinsicht mit Informationen verknüpft. Die Frage ist nun, um was die Realität nun ergänzt wird? In aller Regel sind die Informationen, die mir die ‚intelligente’ Umwelt liefern kann, von Nutzerprofilen, also von standartisierten Umgangsweisen abhängig. Das heißt, die natürliche Welt begegnet mir nicht nur in ihrer physikalischen Gegebenheit, sondern auch in einer vorgedeuteten Weltsicht, und zwar vorgedeutet im Sinne bestimmter, oft ökonomischer Präferenzen.

Jetzt kann man natürlich mit einem gewissen Recht sagen, die Welt ist doch immer schon kulturell vorgedeutet, wir sehen ja im griechischen Olymp nicht mehr das gleiche wie die alten Griechen, oder im Busch nicht das gleiche wie der Buschmann. Die Frage aber ist, ob diese kulturelle Disposition nun das gleiche ist, wie diese neue apparative Disposition. Im Gegensatz zur kulturellen Disposition schränkt die apparative Disposition nun die Wahrnehmung der gegebenen Welt weiter ein, u.z. in Hinsicht auf bestimmte, letztlich zweckorientierte Handlungspräferenzen. Apparative Dispositionen sind in anderer Weise komplexitätsreduzierend als kulturelle. Kulturelle Dispositionen legen die Wahrnehmung zwar in einer bestimmten Weise fest, aber diese Festlegungen lassen sich nicht auf Nutzungsprofile reduzieren. Die apparative Disposition versucht ja gerade die kulturelle Komplexität auf bestimmte Aspekte einzuschränken. Beispielsweise klammert die apparative Disposition ästhetische Wahrnehmungsformen aus. Ästhetische, also selbstzweckhafte Wahrnehmungsformen können nicht erfaßt werden, weil sie nicht aufgrund von Standartisierungen und Zweckorientierungen zustande kommen und weil sie nur individuell und situativ vollzogen werden können.

Ein weiteres Problem liegt nun darin, daß der in die natürliche Welt geholte Cyberspace der natürlichen Welt nur scheinbar ihre Widerständigkeit nimmt. Im Cyberspace sind Widerständigkeiten konstruierte Widerständigkeiten, die jederzeit wieder dekonstruiert oder variiert werden können. Die Welt im Cyberspace kann jederzeit für den Nutzer passend gemacht werden. Die natürliche, sozusagen wesensmäßig widerstädige Welt paart sich also mit einer ihr letztlich widersprechenden Welt. Die Widerständigkeit der Welt ist nicht einfach ein Konstrukt, sondern eben die grundlegende Erfahrung einer sich meinem Formwillen entziehenden Welt. Damit ist noch nichts über die sachliche Gegebenheit der Welt gesagt, aber etwas über die prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen einer konstruktivistischen Weltsicht.

Die natürliche Welt bzw. auch die kulturelle Welt läßt sich zwar wandeln, aber nicht ohne weiteres smart gestalten, also im Sinne einer bestimmten Nutzungsabsicht umfingieren. Natürliche und kulturelle Welt können nicht ohne weiteres meinem Belieben angepaßt werden. Wandlungen dieser Welt sind letztlich auch soziale, ja kollektive Prozesse. Wir verhalten uns im apparativ disponierten Umgang mit der Welt also wie Regisseure, die sich in einer Spielwelt aufhalten, in der vorübergehend die Gesetze der Außenwelt außer Kraft getreten sind.

Ich versuche diese Ausführungen an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen. Als Mitte dieses Jahres in Singapur der Versuch unternommen wurde die beiden an den Schädeln zusammengewachsenen persischen siamesischen Zwillinge Ladan und Leleh Bijani zu trennen, orientierte man sich bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Operation wesentlich an Bildern, die mit Hilfe von Magnetresonanztomographien gewonnen wurden. Man stützte sich auf computergenerierte dreidimensionale Bilder, die den Operateuren sozusagen die Möglichkeit einer virtuellen Reise durch die verwachsenen Schädel ermöglichten. Das Problem, das bei dieser Reise durch die Schädel der Zwillinge unterschätzt wurde, war aber eben die Kluft zwischen Virtualität und Realität. In einem von Joachim Müller-Jung in der FAZ geschriebenen Artikel über den Fall heißt es dazu: "Die Ärzte vertieften sich in ihre mit Hochleistungsrechnern erzeugte, aus mathematischen Algorithmen konstruierte Hirnarchitektur, deren Grenzen man bei all zu intensiver Beschäftigung leicht zu übersehen bereit ist. Sie nahmen die Lücken auf den Digitalbildern nicht wahr, die von den Computern mangels Information mit Pixeln aufgefüllt wurden, die aber von den augenscheinlich diffizilen Verhältnissen im Schädel der Zwillinge offenbar meilenweit entfernt waren. Mit anderen Worten: Die Ärzte schenkten - blind für die keineswegs belanglosen Schwächen solcher bildgebenden Verfahren - offenkundig einem Computermodell Vertrauen, das die wahre Größe der von ihnen angenommenen Aufgabe nicht hinlänglich verdeutlichte."(6) Das grundlegende Problem, das hier angesprochen ist, ist daß selbst mit weiter verbesserter Technik ein 1:1 Weltmodell prinzipiell nicht möglich ist, selbst dann nicht, wenn dieses Weltbild nur einem eingeschränkten medizinischen Bereich fokussieren soll. Es gibt zwar mehr oder weniger gelungene Annäherungen an die fokussierte Sache, die Sache aber ist sozusagen unendlich ausdifferenzierbar, insofern eben auch prinzipiell nicht vollständig zu fixieren. Die Operateure unterschätzten also die Dichte und die Zahl der Querverbindungen zwischen den Gehirnen der Zwillinge.

Es war also die Immersion und die durch die angewendeten technisch-virtualisierenden Verfahren angeregte Imagination der Ärzte, die letztlich zu einer Fehleinschätzung des Sachverhaltes führte. Die Widerständigkeit der Sache läßt sich also prinzipiell selbst durch eine perfekte virtuelle Technik nicht aufheben.

Das heißt nun, daß eine Technik, die nicht nur den Fokus auf eine Sache verstärkt, wie es bei Mikroskopen und Fernrohren der Fall ist, sondern durch selbständige Berechnungsvorgänge die Sache erweitert und in spezifischer Weise in Sonderbeziehungen setzt, die Widerständigkeit der Sache selbst marginalisiert. Für das Ubiquitous und Pervasive Computing heißt das, daß zum einen die Unausschöpflichkeit der widerständigen Sache sozusagen durch eine ergänzende Realität auf bestimmte Optionen hin angelegt wird. Das Problem, das dabei entsteht ist, daß die Widerständigkeit der Sache dabei unterschätzt wird, daß es u.U. zu Fehlwahrnehmungen kommt, also zu Fehlzuordnungen von Erfahrenem. Gerade wenn die informatische Durchdringung der natürlichen Welt selbstverständlich geworden, also Teil unserer Lebenswelt geworden ist, also neben der kulturellen Disposition auch noch eine apparative Disposition unserer Weltwahrnehmung tritt, dann vergrößert sich die Gefahr einer Virtualisierung und damit eine Auflösung der Wirklichkeit.

Gernot Böhme schreibt in seiner Theorie des Bildes: "Das Bild ist (...) ärmer an Möglichkeiten, aber es übertrifft das Original gewissermaßen an Wirklichkeit. Das Bild ist eindeutiger, bestimmter, entschiedener als die Realität."(7) Dies heißt nun, was die computergenerierten Bildangebote anbetrifft, daß sie uns u.U. sogar stärker beeinflussen als Erfahrungen im physikalischen Raum, insofern sie uns präziser auf eine Perspektive festlegen, was im Fall der Operateure von Singapur offensichtlich der Fall war.

Möglicherweise werden wir bestimmte Dinge zukünftig nicht nur sehen wie sie sind, sondern wie sie sein könnten, wir werden die Welt also mehr denn je als ein Stoff der Gestaltung erfahren, weniger als etwas, das unserem Gestaltungswillen Widerstand bietet. Die Widerständigkeit gegen unseren Gestaltungswillen wird aber ein grundlegendes Moment unserer Welt bleiben. Solange wir Leibwesen sind, wird diese Widerständigkeit nicht überwunden werden können. Wir sind keine Computersimulationen wie in The Matrix(8) oder in Fassbinders Welt am Draht(9). Der Raum wird in einer smart gewordenen Welt also im wahrsten Sinne des Wortes weicher und unser Verhältnis zu den Dingen im Raum wird distanzierter. Die Begegnung mit Raumphänomenen wird in gewisser Weise unwirklicher. Der Abstand zwischen der äußeren Wirklichkeit und den Bildern schrumpft sozusagen. Die äußere Wirklichkeit wird zum Material für computergenerierte Bilder. Wir werden in einer eigenartigen Weise Herrscher über die äußere Wirklichkeit, aber zugleich vollkommen von ihrer apparativen Umfingierung Beherrschte. Herrscher insofern wir sie jeder Zeit virtuell umgestalten können, also ähnlich wie in The Matrix umkodieren. Beherrscht werden wir durch sie, insofern von dieser smart gewordenen Welt permanent Aufforderungen ausgehen, insofern wir von dieser Welt permanent beobachtet und registriert werden. Diese Welt warnt uns und steuert uns zugleich. Die Umkodierung könnte tatsächlich nur noch spielerische Effekte haben, eben nur noch den Schein einer vermeintlichen Autonomie vermitteln. Die neue Welt smarter Gegenstände wird uns genauso viel Autonomie nehmen wie sie uns möglicherweise neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen wird.

Die räumliche Ordnung wird also durch ubiqitäre und durchdringende Systeme eine Änderung erfahren. Sie wird mehr denn je eine kodierte und kodierbare Ordnung sein. Dies heißt nun, daß nicht nur der Geometer diese räumliche Ordnung in Zahlen zu fassen versucht, sondern daß Raumverhältnisse nun zu gestaltbarem Material in einer sozusagen zweiten, aber jeder Zeit einblendbaren Welt werden.

Die raumzeitlich gegebene Welt erfährt also eine Art Aufladung, die die raumzeitlich gegebene Welt aber natürlich nicht nur erweitert, sondern unseren Erfahrungshorizont und vor allem unseren kreativen Umgang mit diesen Dingen auch einschränkt. Die smarten Raumdinge, die sozusagen mit uns kommunizieren, steuern freilich auch unseren Umgang mit ihnen. Mehr denn je werden wir den Naturdingen abbildhaft begegnen, das heißt, wir werden sie in ökonomisch und apparativ festgelegten Perspektiven erleben.

© Klaus Wiegerling (Stuttgart)


ANMERKUNG

(1) Vgl. Wiegerling, Klaus: Virtuelle Realität. Handeln im Zeitalter der künstlichen Welterzeugung und Weltordnung. In: Rainer Born/ Otto Neumaier (Hg.); Philosophie Wissenschaft Wirtschaft. Wien 2001. S.735ff. Ebenso: Wiegerling, Klaus: Medienethik als Symboltheorie - Handeln im Zeitalter virtueller Welterzeugungen und Weltordnungen.In: Concordia Heft 1/2002.

(2) Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Bd.3. Darmstadt 1994 . S.238 ff.

(3) Nikolaus von Kues: De beryllo/Über den Beryll. Hamburg 1987. S.5.

(4) Flusser, Vilém: Bilderstatus. In: Derselbe: Die Rervolution der Bilder - Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim 1995. S.83.

(5) Cassirer, Ernst: Der Begriff der ‚symbolischen Form’ im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Derselbe: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994. S. 175f.

(6) Müller-Jung, Joachim: Verblutete Zwillinge - Eine Operation. Die nicht hätte stattfinden dürfen. FAZ 9.7.2003.

(7) Böhme, Gernot: Theorie des Bildes. München 1999. S.92.

(8) The Matrix (USA 1999, L. u. A. Wachowski)

(9) Welt am Draht (D 1973, R.W. Fassbinder)


BIBLIOGRAPHIE

Böhme, Gernot: Theorie des Bildes. München 1999. S.92.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Bd.3. Darmstadt 1994.

Cassirer, Ernst: Der Begriff der ‚symbolischen Form’ im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Derselbe: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994.

Flusser, Vilém: Bilderstatus. In: Derselbe: Die Rervolution der Bilder - Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim 1995.

Müller-Jung, Joachim: Verblutete Zwillinge - Eine Operation. Die nicht hätte stattfinden dürfen. FAZ 10.7.2003.

Nikolaus von Kues: De beryllo/Über den Beryll. Hamburg 1987.

Wiegerling, Klaus: Virtuelle Realität. Handeln im Zeitalter der künstlichen Welterzeugung und Weltordnung. In: Rainer Born/ Otto Neumaier (Hg.); Philosophie Wissenschaft Wirtschaft. Wien 2001.

Wiegerling, Klaus: Medienethik als Symboltheorie - Handeln im Zeitalter virtueller Welterzeugungen und Weltordnungen. In: Concordia Heft 1/2002.

FILMOGRAPHIE

The Matrix (USA 1999, L. u. A. Wachowski)

Welt am Draht (D 1973, R.W. Fassbinder)


10.4. Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur

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For quotation purposes:
Klaus Wiegerling (Stuttgart): Virtualisierung der Wahrnehmung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_4/wiegerling 15.htm

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