Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. März 2004
 

10.7. Kreative Kontexte
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Simone Griesmayr (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Kreative Kontexte

Simone Griesmayr (Linz)

 

Was haben "Ökonomische Theoriebildung" und "Freie Radios" gemein? Auf den ersten Blick wahrscheinlich nicht allzu viel. Beide jedoch sind kreativ und zu einem Gutteil kulturelle Prozesse, oder sollten dies (zumindest einer idealen Vorstellung zufolge) sein. Kultur, so wird vielfach angenommen, trägt viel zur Funktionsweise von Milieus oder Netzwerken bei, beeinflusst daher auch Innovationsprozesse maßgeblich, aber ist schwierig operationalisierbar. Um dieses diffuse "Etwas" Kultur, das sich der Rekonstruktion zu verweigern scheint, zu deklarieren, werden häufig Begriffe wie "gemeinsame Werte", "Synergien", "das über seine Einzelteile hinausgehende Ganze", oder "Superorganismus Kultur" und ähnliches eingefügt.

Das Gemeinsame an der Verwendung der Variablen "Kultur" besteht in den unterschiedlichen Theorien mehr in der Syntax, als in der Semantik des Begriffes. Die Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten und darin subsumierbarer Phänomene wirkt sich dabei negativ auf Trennschärfe sowie Prägnanz des Begriffes und die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Konzepte oder Studien aus. Kultur und Kulturwissenschaften sind so weitläufig, dass fast jeder Aspekt des Daseins auch ein kultureller ist. Symbole zum Beispiel, als Kommunikationsmedien und damit kulturell geprägte Prozesse, umfassen (bestimmten Begriffsdefinitionen folgend) das gesamte Wahrnehmungsspektrum.

Jedes Erklärungsmodell benutzt dabei jeweils an bestimmten Aufgaben orientierte Kulturbegriffe, meist abgestimmt auf den jeweiligen Betrachtungsausschnitt. Oftmals jedoch ohne zu berücksichtigen, dass Kultur selbst dynamisch ist, sich verändert und verändert wird, sowohl eine individuelle als auch eine inter- und superpersonale Dimension aufweist. Von einer Betrachtung der Institutionen, deren Organisation, Aufgabenteilung und Erfüllung beispielsweise, können keine vereinheitlichenden Wertorientierungen oder Eigenschaften bzw. kulturelle Einflüsse auf die Wissensproduktion abgeleitet oder schlüssig begründet werden. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahrzehnten die Verbindungen und Aufgaben der einzelnen Institutionen immer umfangreicher und komplexer. Außerdem bewiesen die am Wissensproduktionsprozess beteiligten Institutionen eine bedeutend höhere Wandlungsfähigkeit, als angenommen wurde. Wird daher "Kultur" mit gemeinsamen Werten oder Synergien gleichgesetzt, wirft dies nicht nur epistemologische Fragen auf (wie dies oben kurz angedeutet werden sollte), sondern auch kulturtheoretische Ungereimtheiten, die mit der beschriebenen terminologischen Besonderheit zusammenhängen.

Um die Frage, welche Rolle Kultur und damit einhergehend Kreativität in Innovationsprozessen oder Wandel ausüben, zu bearbeiten, scheint ein Vergleich unterschiedlicher Erklärungsmodelle daher einerseits extrem schwierig (aus oben genannten Gründen), andererseits als zu ausufernd sollte das umfangreiche Bedeutungsspektrum des Begriffes Berücksichtigung finden. Die eingangs gestellte Frage sollte daher eher lauten: "Was trennen "Ökonomische Theoriebildung" und "Freie Radios"? Bourdieu betrachtet Kultur und Wissenschaft als getrennte Felder in denen die Akkumulierung verschiedener Kapitalsorten zur Distinktion beitragen. Distinktion bildet das wesentliche Kriterium im Kampf um Anerkennung, Prestige oder auch ökonomischen Erfolg. Was distinktiv ist, unterscheidet sich von Feld zu Feld (Felder sind Politik, Wissenschaft, Kunst...), und wechselt auch über die Zeit (vgl. Fröhlich 1997). Distinktion meint nicht nur sich von einer Masse abzuheben, sondern dies auch strategisch einsetzten zu können. Dies ist aber nur zu einem gewissen Grad individuell zu steuern. Bourdieu unterscheidet zwischen vier Kapitalsorten, deren Akkumulierung zum Grad der Distinktion beiträgt.

"In verschiedenen sozialen Feldern (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik) sind unterschiedliche Kapitalsorten hoch im Kurs, sind also unterschiedliche Handlungsressourcen von großem Wert: Neben dem klassischen ökonomischen Kapital unterscheidet Bourdieu Sozialkapital (die Handlungsressourcen, die wir aus der Teilhabe an Beziehungsnetzen ziehen), Kulturkapital - und zwar einverleibtes kulturelles Kapital (Wissen, praktische Fähigkeiten), in Büchern, Musikinstrumenten, technischen Geräten etc. vergegenständlichtes kulturelles Kapital, und institutionalisiertes Kulturkapital, die Bildungstitel. Die Creme der Creme der Kapitalsorten ist für Bourdieu das symbolische Kapital: Ehre, Prestige, Anerkennung, Reputation" (Fröhlich 1997).

Die Betonung von Differenzen bei Geertz zum Beispiel, oder Distinktion bei Bourdieu weisen auf ein Medium Kultur hin, das weniger den Anschein eines allumgebenden Cocons hat, eines allgegenwärtigen "roten Fadens", oder eines Geflechts, Netzes das "alles" umhüllt. Gemeinsame Werte, Synergien usw. werden in den Bereich der Sonntagsreden verwiesen und stellen lediglich eine oberflächliche Verwobenheit dar. Das Agieren in diesem Medium ist geprägt durch ein Manövrieren zwischen Gegensätzen, feindlichen Lagern, strategischem Einsatz von Ressourcen / Kapitalia, und dem Knüpfen von (Zweck-)Allianzen. Rivalität und Opposition sind dabei nicht nur individuell, sondern beziehen sich auf gegensätzliche Lager, konkurrierende Schulen usw. (Collins 1998, S. 6) oder Interessens- und Lobby Gruppen.

Diesem Ansatz folgend, versuchten die TeilnehmerInnen der Sektion diese Gegensätze und Fronten aufzuspüren. Diese verlaufen aber nicht - wie dies bei Bourdieu dargestellt wird - zwischen den Feldern, sondern durch diese hindurch und verbinden dadurch oftmals unterschiedlichste. "Das wissenschaftliche Feld", als Beispiel, wird keineswegs durch gemeinsame Werte oder Normen gekennzeichnet. Was Ökonomie, Betriebswirtschaftslehre und Soziologie verbinden soll, beschreibt eher die oben dargestellte "Sonntagsredenidylle" als wissenschaftlichen Alltag. Ebenso verhält es sich mit dem künstlerischen und kulturellen Feld. Konkurrenten und Komplizen, Ressourcen oder Interessensgruppen sind nicht auf unterschiedliche Felder aufgeteilt, sondern agieren - so hat es den Anschein - entlang stabiler Gräben, die vielleicht als kulturelle Differenz bezeichnet, eine transzendente Ordnung aufrechterhalten. Clifford Geertz hat dies folgendermaßen beschrieben:

" [...] es ist nicht die tiefgreifende Einmütigkeit über tiefgreifende Angelegenheiten. Eher ist es so etwas wie die Wiederkehr vertrauter Unterscheidungen, die Hartnäckigkeit von Auseinandersetzungen und die bleibende Präsenz von Bedrohungen - die Überzeugung, dass, was immer passieren mag, die Ordnung der Differenzen aufrechterhalten bleiben muss" (Fröhlich/Mörth, S. 17).

Die Arbeit in der Sektion "Kreative Kontexte" erarbeitete zu dieser Problemstellung Kristallisationspunkte, die sich auf eine Betrachtung kultureller Barrieren und deren Überschreitung und Veränderung (sowohl konzeptuell als auch aus praktischer Perspektive), der Grenzen der Konzeptualisierbarkeit und kultureller Blockaden zwischen scheinbar homogenen Modellen konzentrierten. Dabei wären ethische Problemstellungen und die Verbindung mit wissenschaftlicher Praxis bzw. Theoriebildung oder das Spannungsfeld Partizipation und Kontrolle als Hauptthemen der Diskussion zu erwähnen.

© Simone Griesmayr (Linz)

Literatur

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change. The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge 1998.
Fröhlich (a), Gerhard: Optimale Informationsvorenthaltung als Strategem wissenschaftlicher Kommunikation. In: Zimmermann/Schramm (Hg.): Knowledge Management und Kommunikationssysteme; UVK Universitaetsverlag, Konstanz 1998; Onlinequelle: http://www.agmb.de/mbi/8/mb8.pdf
Fröhlich (b), Gerhard; Mörth, Ingo: geertz@symbolische-anthropologie.moderne. Auf Spurensuche nach der "informellen Logik tatsächlichen Lebens". In: Fröhlich/Mörth: Symbolische Anthropologie der Moderne. Kulturanalysen nach Clifford Geertz. Campus, Frankfurt a. M. 1998. http://soziologie.soz.uni-linz.ac.at/sozthe/staff/moerthpub/EinleitungGeertz.pdf
Geertz, Clifford: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhundert; Passagen Verlag, Wien 1996.

10.7. Kreative Kontexte

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For quotation purposes:
Simone Griesmayr (Linz): Bericht: "Kreative Kontexte". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_7/griesmayr_report15.htm

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