Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

11.2. "Schreiben für den Frieden?"
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Reinhold Schrappeneder (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Experiment und Krieg
Erfahrungsbericht und Fragen

Anna Kim (Wien)

 

Vorerst möchte ich erklären, was ich meine, wenn ich von einem "Erfahrungsbericht" spreche. Erfahrung bezieht sich in meiner begrifflichen Verwendung ausschließlich auf das Erlebte, Gebrauchte - konkret: Der Begriff "experimentelle Literatur" als historische Phase der modernen Literatur mit der Blüte in vor allem der Nachkriegszeit bis ca. 1975 und mehreren Phasen, u.a. der konkreten Dichtung, wird von mir in dieser Bedeutung hartnäckig vernachlässigt. Spreche ich von "experimenteller Literatur", meine ich, und hier zitiere ich die Süddeutsche Zeitung, die experimentellen Randzonen aktueller Schreibweisen.(1)

Allerdings bezieht sich meine Vernachlässigung nicht auf die Theorie, die hinter der Entwicklung der nunmehr historischen experimentellen Literatur steht. Ihr Erbe, der Wunsch, adäquate literarische Mittel zur Erfassung der Realität zu finden, gilt heute noch. Die Frage: "Können heutige Romane in der gleichen Art und Weise gestaltet sein wie schon vor vielleicht hundert Jahren?" ist als eine Überschreitung des Möglichen, sogar Noch-Möglichen falsch. Oder um Adorno zu bemühen: Man braucht nur die Unmöglichkeit sich zu vergegenwärtigen, dass irgendeiner, der am Krieg teilnahm, von ihm so erzählte, wie früher einer von seinen Abenteuern erzählen mochte.

Bleiben wir bei Adorno: Er verlangt letztlich einen Anti-Realismus in der Literatur. Dieser sei realistischer als der konventionelle Realismus. Was aber ist Realismus? Nelson Goodman antwortet folgendermaßen: Die normale Ansicht von Realismus sei die, dass ein Bild in dem Maß realistisch ist, in dem es den Beschauer täuschen kann, sprich: für den Betrachter eine gelungene Illusion darstellt: Der vorgeschlagene Maßstab für Realismus besteht mit anderen Worten in der Wahrscheinlichkeit der Verwechslung von Repräsentation und Repräsentiertem(2). Wichtig sei hierbei nicht die Genauigkeit des Duplikats der Wirklichkeit, sondern inwieweit Bild und Gegenstand (unter angemessenen Beobachtungsbedingungen) zu den gleichen Reaktionen und Erwartungen führen.

Nun erhebt sich bei dieser Begriffsbestimmung die Schwierigkeit, daß das, was täuscht, von dem zu beobachtenden Gegenstand abhängt, der seinerseits mit Interessen und Gewohnheiten verbunden ist, sowie von einem dazu passenden Rahmen. Wenn es nämlich zu keiner Verwechslung mehr zwischen den Gegenständen kommen kann, sprechen wir von Identität, nicht von Repräsentation. Täuschung, so Goodman, sei insofern kein adäquater Test für Realismus, da sich die Täuschung der Tricks bediene, die Rahmen und Hintergrund ausblenden, wodurch selbst das unrealistischste Bild täuschen könne. Auch der Informationsertrag sei kein Test für Realismus. Hier, so Goodman, sei es notwendig, zwischen Treue und Realismus zu unterscheiden: Nicht alles, was dem gegenüber, was es repräsentiert, treu sei, sei auch realistisch.

Hier kommt nun die Gewohnheit ins Spiel: Laut Goodman hat die Praxis (...) die Symbole so transparent werden lassen, daß wir uns einer Anstrengung oder irgendwelcher Alternativen oder der Tatsache, daß wir interpretieren, überhaupt nicht bewußt sind. Genau hier liegt, denke ich, der Prüfstein für Realismus: nicht in der Quantität der Informationen, sondern in der Leichtigkeit, mit der sie fließt. Und dies hängt davon ab, wie stereotyp der Modus der Repräsentation ist, wie gebräuchlich die Etiketten und ihre Verwendungen geworden sind.(3) Demnach sei Realismus relativ. Er werde durch Repräsentationssysteme festgelegt, die für eine gegebene Kultur, Gesellschaft oder Person zu einer gegebenen Zeit die Norm sind. Realismus hänge davon ab, welcher Rahmen oder Modus gerade die Norm sei. Er sei insofern die Frage nach der Beziehung zwischen dem im Bild verwendeten Repräsentations- und dem Standardsystem. Realismus ist somit eine Frage der Gewohnheit. Was also ist Anti-Realismus, und was bedeutet es, wenn es heißt, Literatur müsse anti-realistisch sein?

Gewohnheit und Realismus bilden eine Gemeinschaft. Adorno sieht es als Aufgabe der Literatur, den vordergründigen Zusammenhang zu durchschlagen und das Darunterliegende, die Negativität des Positiven auszudrücken.(4) Besitzt diese Forderung noch Gültigkeit, oder ist sie überholt? Was können wir gewinnen, wenn wir dieser Forderung nachkommen? Warum sollten wir uns - Gewohnheit ist bequem - überfordern? Was sind die Vorteile eines Anti-Realismus? Der entscheidende Vorteil des Adorno-Postulats liegt in der Möglichkeit der politischen Arbeit, die Literatur gegeben wird. Politisch wirksam zu sein heißt hier nicht, für eine Partei Reden zu schmieden, auch nicht, Mißstände anzuprangern (wenngleich auch das eine politische Handlung wäre), sondern Denkmuster, Gewohnheiten zu sprengen. Darin liegt das politische Element der Literatur, die Möglichkeit, zu verändern. Denkmuster, Gewohnheiten können gesprengt werden, indem man sie hinterfragt, Absurditäten aufdeckt, Ungereimtes. Dies zu bewerkstelligen, ist das Experiment mit dem Ausgangspunkt Gewohnheit und dem Ziel Ungewohntes, Anderes, Fremdes. Ein Beispiel: Ich überlege, wie ich einen Pfirsich beschreiben könnte. Sage ich, er ist behaart, rund, gelb und rosa, bleibe ich innerhalb der Konvention, und kein Experiment hat stattgefunden. Sage ich (und hier zitiere ich aus einer Zeitung) der Pfirsich sei wie ein Apfel mit Teppich, entziehe ich jeder Gewohnheit den Boden. Die erste Hypothese lautet daher: Das Mittel zur Aufdeckung der Realität ist das Experiment als adäquates Mittel der Subversion.

Nun wird gerade der zeitgenössischen experimentierfreudigen Literatur vorgeworfen, sie sei zu kopflastig, ihr vorrangiges (möglicherweise auch ausschließliches) Thema sei die Sprache, was die Bewältigung von Wirklichkeit zunehmend auf das Problem der Bewältigung von Sprache reduziert. Existenzprobleme werden [so zunehmend] zu semantischen Problemen(5). Die nächste Frage lautet demnach, ob eine solche Literatur gesellschaftskritisch wirksam werden kann. Weitere Probleme: Die experimentelle Literatur richtet sich primär an eine gebildete Schicht. Ihre Inhalte sind - weil eine Form von Meta-Literatur - meist nur durch vorhergehende Studien erfassbar. Insofern ist jede experimentelle Literatur auf gewisse Weise elitär.

Außerdem muss die Frage gestellt werden, ob es überhaupt möglich ist, wenn man davon ausgeht, dass man sprach-, form- und inhaltsbezogen experimentieren kann, über bestimmte Inhalte zu experimentieren. Experimente setzen ja zumindest einen gewissen Wissensgrad und eine Eingeweihtheit in die Materie voraus. Nehmen wir das Beispiel Krieg. Sicher ist es nicht möglich, über eine Kriegserfahrung so zu schreiben wie über ein Abenteuer in der Wildnis. Ist es aber möglich, über eine Erfahrung von dieser Konsequenz zu experimentieren? Ist es möglich, über den Tod, das Sterben zu experimentieren? Gibt es da Grenzen, Grenzen des Geschmacks, des Respekts, die man nicht überschreiten sollte? Kann man überhaupt Inhalte experimentell verändern, die unaussprechlich sind? Es gibt sicherlich Inhalte, die sich dem Experiment entziehen, da es an sich schon Experiment ist, diese Inhalte zu formulieren. Die zweite Hypothese lautet daher: Es ist gerade für unaussprechbare sowie unausgesprochene Inhalte notwendig, eine eigene Sprache zu finden.

Der nächste Schritt muss nun sein, zu klären, was zeitgenössische experimentelle Literatur eigentlich ist. Hier spreche ich aus meiner Erfahrung bzw. erläutere meine eigene, subjektive Sicht, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch universale Gültigkeit erhebt. Weder im weitesten noch im engsten Sinn ist experimentelle Literatur die einzig sinnvolle, sage ich, um zu provozieren, aber nicht nur. Die Sprache ist nicht das Einzige, mit dem experimentiert werden sollte, gerade und vor allem Inhalte sollten in die Betrachtung, Behandlung, in das Experiment eingebunden werden. Vielleicht ist Literaturgeschichte, sind Theorien hier nebensächlich - es sollte möglich sein, einen Inhalt in der Weise literarisch aufzubereiten, dass ihn wahrscheinlich nicht alle, aber doch viele verstehen. Unterhaltung braucht nicht zu kurz zu kommen. Experimentelle Literatur sollte keine Gattung sein, wie sie es momentan fast ist, an den Rand geschoben, wie gesagt: Randzone aktueller Schreibweisen, exklusiv oder Minderheitenprogramm.

Experimentell kann jede Form von Literatur sein, die zum Denken anregt, das Denken fördert, doch nicht nur das Mitdenken und Nachdenken, sondern vor allem das Querdenken, den Widerspruch. In diesem Sinn beschränkt sich experimentelle Literatur nicht nur auf die sogenannte hohe Literatur, sie ist - eigentlich - allen Literaturen als ungenutztes Potential immanent. Mit Experiment ist in diesem Sinn auch das Nonkonformistische gemeint, der Mut, die eigene Haltung auszudrücken. Meine dritte Hypothese lautet demnach: Experimentieren bedeutet Mut zur eigenen Meinung, auch gegen das Gängige, Übliche.

Insofern kann Literatur meiner Ansicht nach auch etwa Anti-Kriegsarbeit leisten. Sie arbeitet im Unsichtbaren bzw. im erst allmählich sichtbar Werdenden. Sie leistet politische Arbeit, indem sie zur eigenen Meinung anstiftet. Jedoch ist es nicht nur Literatur allein, die diese Arbeit leistet, jede Form von Kunst, jede Form von gerade populärer Kunst könnte ihren Beitrag leisten. Dass die Mechanismen, wirtschaftliche und kulturelle, gesellschaftliche, die der populären Kunst zugrunde liegen, diese Form von politischer Arbeit verhindern, möchte ich in diesem Kontext nur anreißen. Was hier geleistet werden muss, um der Literatur im engeren Sinn, Kunst im weiteren Sinn, die politische Bedeutung zu geben, die sie besitzt, kann ich nur skizzieren: Es beginnt sicherlich bei einem reformierten Bildungsprogramm und endet bei differenzierter Medienarbeit. Schließlich muss ich meinen Überlegungen einen gewissen Idealismus und eine gewisse Naivität unterstellen.

Doch was meine im Kontext dieses Vortrags formulierten Hypothesen betrifft, so liegt die Verifizierung letztlich bei Ihnen.

© Anna Kim (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Theodor W. Adorno, "Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman" in: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften 11, Frankfurt/Main, 19964, S. 42

(2) Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main, 1997, S.43.

(3) Ebd., S.45.

(4) Adorno, ebd., S. 46

(5) Manfred Durzak, "Experimentelle Prosa" in: Die deutsche Literatur der Gegenwart, Stuttgart, 1976, S. 231


11.2. "Schreiben für den Frieden?"

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For quotation purposes:
Anna Kim (Wien): Experiment und Krieg. Erfahrungsbericht und Fragen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/11_2/kim15.htm

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