Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
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Geschichte der Idee Europas - Die kulturelle Zukunft Europas

Erhard Busek (EU-Beauftragter, Wien)
[BIO]

 

Was lässt uns die Frage nach der "Vielfalt", ob Europa eine "kulturelle Zukunft" hat, stellen? Die Beantwortung zu verweigern ist "Einfalt" - Dummheit - genauso wie zu meinen, dass nicht die Vielfalt das konstituierende Element Europas ist, dass nicht die Frage "kulturelle Zukunft" die Existenz Europas entscheidet.

Es gibt eine Dichotomie, ja sogar Schizophrenie des Denkens. Wir sind stolz auf die Vielfalt der Kultur und gleichzeitig müssen wir erleben, dass eine Verweigerung der Akzeptanz des "anderen", des Fremden stattfindet. Dabei ist die kulturelle Landschaft so reich: horizontal, also gleichzeitig, erleben wir eine Vielfalt von Völkern, Sprachen und Ausdrucksformen. Wir kennen die Unterschiede in unseren Tälern genauso wie die der Mode, der Literatur und der Musik. Der Reichtum umfasst aber auch das Vertikale, nämlich die Abläufe der Epochen. Was ist doch nicht alles in diesem Europa seit der Antike, der jüdisch-christlichen Welt, dem Mittelalter, der Renaissance und der Aufklärung geschehen, bis wir bei der "Postmoderne" gelandet sind. Eigentlich ist der Begriff der Postmoderne eine Verlustanzeige. Wie überhaupt vom Verlust die Rede ist, wenn wir beklagen, wirklich Modernes nicht zu kennen oder die Werte zu vermissen. Haben wir das Selbstvertrauen verloren? Fehlt uns die Kraft zum Neuen? In der Tat: Zitate beherrschen uns und offensichtlich ist an die Stelle der Kultur eine Art von Weltzivilisation getreten, die sich durch außerordentliche Gleichförmigkeit - Einfalt - auszeichnet. Was die Satelliten uns an Programmen über alle Welt schicken, ist der Eintopf aus der Konserve, ist das "global village", jenes Weltdorf, das sich zweifellos durch seinen simplen Charakter auszeichnet.

Um die Identität der Europäer mache ich mir aber überhaupt keine Sorgen, sie sind jederzeit erkennbar und unterscheidbar - meine Landsleute sind im Ausland wohl oft infolge ihres Verhaltens zu rasch zu identifizieren. Dann gibt es wieder jenen Regionalismus, der gut verstanden grenzüberschreitend sein kann, wie das etwa rund um den Bodensee oder im Verhältnis der Suisse romande zum Nachbarn oder im Ticino ebenso der Fall ist: ein gemeinsames Gefühl, das grenzüberschreitend ist. Dann aber wieder sprechen die Kritiker von der steigenden Desintegration, wobei sich das Auseinanderfallen künstlicher Nationalstaaten als die Rache falscher Lösungen erweist. Denken Sie nur an die Trennung der Tschechen von den Slowaken, an die Tragik Jugoslawiens oder an den Zerfall der Sowjetunion. Aber auch westliche Nationalstaaten sind davor nicht gefeit, denn inzwischen ist die italienische Landschaft reich an Unterschieden und differenzierten Gefühlen, Spanien kämpft mit den besonderen Wünschen der Basken und Katalanen, ja selbst Frankreich zeigt da und dort Schilder, die in der "langue d'oc" beschrieben sind. Der, die, das "andere" wird als Bedrohung empfunden, dabei ist es ein Reichtum. Denken wir an primitive Dinge des Lebens wie die unterschiedliche Küche in Europa und die Faszination der Kultur oder auch an die Ausformungen des Glaubens. Wir tun uns mit dem Fremden schwer, dabei war das Wort für den Fremden in der Antike gleich mit dem des Gastfreundes - jemand der den Schutz genießt und gleichzeitig ein Objekt der Neugierde war.

Diese Unsicherheit ist durch ein Ereignis entstanden, mit dem wir bis heute nicht fertiggeworden sind. Die Veränderungen in Europa seit 1989/90 haben uns in Verlegenheit gebracht. Der kommunistische Internationalismus ist zerfallen, der Traum aus der Gleichheit der Menschen ein Paradies auf Erden etablieren zu können, hat sich als fataler Irrtum erwiesen. Der Kontinent erlebt wirklich "passages européens". Wie in einem Film zieht die neue/alte Vielfalt vorüber. Wir entdecken wieder die slawische Welt, die Prägung einer geistigen Landschaft durch die Orthodoxie, das alte Byzanz und das neue Moskau als Zentrum. Schmerzlich werden durch politische Konflikte und Kriege die Probleme von Nation und Staat deutlich, wie sie bereits das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert beherrscht haben und schließlich zu Weltkriegen führten. Wir stehen auch vor der Verlegenheit, dass wir nach langer Zeit in der Lage sind, ein Kontinent zu sein. Was ist aber die "finalité d'Europe"? Die Geographie wird dazu nicht reichen, etwa Europa mit dem Ural zu begrenzen. Was ist doch nicht alles aus Kleinasien, aus dem Vorderen Orient, aus Nordafrika zu uns gekommen? Auch das Konzept "Festung Europa" wird den europäischen Eigenschaften nicht gerecht, denn immer war dieser Kontinent offen und nie selbstgenügsam. Manchmal aggressiv, wie etwa im Kolonialismus, aber stets neugierig. Ein Europa der konzentrischen Kreise, wie es Jacques Delors vorgeschlagen hat, oder etwa die Vorstellung von einem Kerneuropa werden dem Kontinent nicht gerecht, denn schon wieder wird eine Teilung eingeführt. Der Begriff des Kosmos im Griechischen heißt Zierde, Schmuck, aber auch Vielfalt, denn Europa ist ein offener Kontinent und wir müssen die Frage beantworten, wie "europäisch" wir sind.

Dem Modernitätsmodell Europa querlaufende Teil- und Parallelkulturen finden sich überall, im Zentrum der Kapitalen Europas ebenso wie in seinen Regionen. "Multikulturalismus" im weitesten Sinne ist also eine Querschnittmaterie, das Eigene und das Fremde haben keine speziell reservierten Orte oder Reservate mehr. Die Konfrontation findet in unterschiedlicher Wucht und Stärke und in unterschiedlichen thematischen Feldern statt. Vielleicht ist diese Herausforderung Europas eine der wichtigsten, weil sie so etwas wie ein "Laboratorium des 21. Jahrhunderts" begründet.

Die Fragen, die sich an die Versuchsleiter und Experimentatoren stellen, sind nicht nur kulturelle, sondern auch eminent politische und wirtschaftliche: Wie kann das Eigene dem Fremden begegnen, ohne einen schleichenden Bürgerkrieg zu begründen? Soll man im Sinne von H.M. Enzensbergers "Aussichten auf den Bürgerkrieg" selbstbegrenzend und konfliktvermeidend in die wohlstandgestützte europäische Kernkultur zurückkehren und auf das "Andere" buchstäblich den Hut werfen? Oder soll man den sanften Dialog ohne nachdrückliche Artikulation der eigenen Interessen suchen? Soll sich die europäische Idee von Modernität und Fortschritt, so revisionsbedürftig und fragwürdig sie auch im Detail sein mag, in ein kritikloses Bekenntnis der allumfassenden Relativität von Theorie und Praxis auflösen? Soll die Auseinandersetzung aus militärisch gesicherten Festungen heraus unter Zuhilfenahme kulturell-politischer Emissäre erfolgen? Was ist mit den "Anderen" innerhalb der eigenen Mauern? Sollen sie sozialstaatlich abgefedert in eigens dafür geschaffene Reservate abgeschoben werden? Oder brauchen wir nicht sehr dringend neue politische und soziale Umgangsformen, die eine Auseinandersetzung von Kern- mit Parallelkulturen ermöglichen, welche reziproke Selbstbehauptung ohne Aggression, Respekt ohne die Flucht in den Relativismus und Heftigkeit der Kontroverse ohne Suspendierung demokratischer Formen und Legitimität ermöglichen?

Uns alle beherrscht die Diskussion um die Zukunft der Europäischen Union, sie ist in einem großen Transitorium, denn eigentlich ist sie ein Produkt des West-Ost-Konflikts, der Versuch, die Kräfte der freien Demokratien zu konzentrieren. Heute ist die Frage gestellt, ob Europa eine eigene Kraft sein kann - wohl nur durch das Spiel zwischen Vielfalt und Einheit.

Antworten seien versucht, die ich als Spannungsverhältnisse darstelle:

Marktplatz und Tempel

Der Marktplatz bedeutet Leben, Gemeinschaft und Geschichte, Leistung und Wettbewerb, farbigen Wechsel, aber auch Egoismus bis hin zum Populismus. Marktschreierisch kann die Politik des Tages sein, das Hosianna und Cruzifige wohnen nahe nebeneinander. Der Markt ist aber auch der Ort der Demokratie, denn schließlich ist sie auf der Agora des alten Athen entstanden. Der Tempel wieder ist der heilige Ort der Werte und Ideale, der Ort des Besten. Die Hüter des Tempels sind eine Elite. Was muss es heute im Tempel geben? Wirtschaft allein wird nicht genügen, denn schon ringen wir in einem Bildungsprogramm der EU um den Rahmen. Religion ist heute der Säkularisierung unterworfen, was aber von ihr bleibt, ist eine Kultur des Zusammenlebens wie etwa die Menschenrechte und Demokratie. Das "anything goes" von Paul Feyerabend scheint manchmal zur Regel geworden zu sein, es kann aber nicht sicherstellen, dass wir unsere Welt humanisieren und kulturell besser gestalten. Der Theologe und Naturwissenschafter Teilhard de Chardin hat davon gesprochen, dass die menschliche Geschichte nichts anderes ist, als die "Hominisation", die Menschwerdung. Nicht als Menschen sind wir geboren, sondern unser Streben als Person, aber auch als Gemeinschaft ist darauf ausgerichtet, zum Menschen zu werden - ein Idealzustand, den wir erst in der Vollkommenheit erreichen.

Dagegen steht die Politik für die Massen, wie sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war, die uns Diktaturen aller Art beschert hat und dann zur Politik der Massen geworden ist. Diese Situation wieder provoziert einen Fundamentalismus, denn man verlangt Orientierung, es fördert die Emotion, weil die Masse als Einheit geführt werden will. Differenzierung ist aber notwendig, wir brauchen Eliten, Qualität. Es muss dagegen auch wieder die Politik als heiligen Moment geben. Die Frage nach der politischen Kultur ist die Frage nach der Politik für die Zukunft. Nicht so sehr Technologie und Informationsgesellschaft wird es sein, die unsere Zukunft bestimmen, sondern Erziehung und Bildung, die schöpferische Kraft des Menschen. Carlo Mongardini meinte, dass zu einer vorhandenen "politique des industriels" eine "politique des intellectuels" kommen muss, eine "politique pour la culture".

Gedächtnis und Geschichte

Kultur ist abhängig vom Gedächtnis, von der Tradition. Eine Bildungspolitik der jüngsten Vergangenheit meinte, nur vermitteln zu müssen, wie man technisch mit dem Wissen umgeht, wo man nachschlagen muss. Wer aber die Zusammenhänge nicht kennt, kann mit dem Lexikon, der Bibliothek oder Internet gar nichts anfangen. Wenn wir in die Zukunft gehen wollen, müssen wir wissen, woher wir kommen. Offensichtlich ist der Mangel des heutigen Bildungssystems die Ursache dafür, dass so viele Menschen die Museen aufsuchen. Es ist die Suche nach der eigenen Geschichte, wohl auch die Angst vor der Zerstörung des kulturellen Guts, die angesichts der technischen Möglichkeiten unserer Zeit jederzeit geschehen kann. Der unglückliche Francis Fukuyama hat vom Ende der Geschichte gesprochen, wir aber erleben die Rückkehr der Geschichte, denn ohne Geschichte ist kein Teil Europas mehr verständlich. Wir sind in die Gleichzeitigkeit der Ereignisse geworfen. Die Welt der Information vermittelt uns Kenntnis von allem in der ganzen Welt, dennoch müssen wir erleben, dass es nicht einen Neonationalismus, sondern jenen alten hässlichen Nationalismus gibt, der jetzt aus dem Eiskasten des Kommunismus genommen wird und seine Kräfte im Osten Europas in zeitlich verschobenem Ablauf auslebt. Deswegen muss es nicht den "Clash of civilisations" geben, wie ihn Sam Huntington voraussagt. Eine Begegnung der verschiedenen Kulturen dieser Welt ist möglich, vor allem wenn wir wissen, wer wir selber sind. Dazu braucht es die Kenntnis der eigenen Geschichte, das Wissen um jene Mythen und Erzählungen, die Parabeln fürs Leben sind. Ich werfe der älteren Generation unserer Zeit vor, dass sie zu wenig Geschichte und Geschichten weitererzählt haben, genauso wie wir in der Kultur zu wenig von den Erzählungen wissen, die unser Europa ausgemacht haben - anderes hat uns das Hirn gefüllt. Anderes sollte es füllen.

Der spanische Diplomat und Philosoph Salvador de Madariaga hat bereits 1952 sinngemäß darauf geantwortet - aus der bitteren Erfahrung der Welt des Zweiten Weltkriegs kommend, mit dem sicheren Gefühl, dass wir nicht nur eine neue politische Ordnung, sondern auch eine europäische Gemeinsamkeit brauchen, die nur durch die Kultur konstituiert werden kann:

"Vor allen Dingen müssen wir Europa lieben. Hier dröhnt das Gelächter eines Rabelais, hier leuchtet das Lächeln des Erasmus, hier sprüht der Witz eines Voltaire. Gleich Sternen stehen Europas geistigem Firmament die feurigen Augen Dantes, die klaren Augen Shakespeares, die heitern Augen Goethes und die gequälten Dostojewskis. Ewig lächelt uns das Antlitz der Gioconda zu, für ganz Europa ließ Michelangelo die Gestalten des Moses und des David aus dem Marmor steigen, schwingt sich die Bach'sche Fuge in mathematisch bewältigter Harmonie empor. In Europa grübelt Hamlet über das Geheimnis seiner Tatenlosigkeit, will Faust durch die Tat dem quälenden Grübeln entrinnen, in Europa sucht Don Juan in jeder Frau, die ihm begegnet, die eine Frau, die er nie findet, und durch ein europäisches Land jagt Don Quijote mit eingelegter Lanze dahin, um der Wirklichkeit ein höheres Sein abzutrotzen. Aber dieses Europa, wo Newton und Leibniz das Unendlich-Kleine und das Unendlich-Große maßen, wo unsere Dome, wie Alfred de Musset gesagt hat, in ihrem steinernen Gewande betend knien, wo das Silberband der Ströme Städte aneinander reiht, die die Arbeit der Zeit in das Kristall des Raumes meißelt... dies Europa muss erst entstehen. Erst dann wird es da sein, wenn die Spanier von 'unserem Kopenhagen' und die Deutschen von 'unserem Brügge' zu sprechen beginnen. Erst wenn dies erreicht ist, hat der Geist, der unser Tun lenkt, das schöpferische Wort gesprochen. 'FIAT EUROPA'!"

© Erhard Busek (EU-Beauftragter, Wien)

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For quotation purposes:
Erhard Busek (EU Representative, Vienna): History of the Idea of Europe - The Cultural Future of Europe. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
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Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.11.2003     INST