Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | November 2003 | |
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Milo Dor (Wien)
Mein lieber Sohn!
Da es sich hier um keinen konkreten, sondern um einen imaginären Brief handelt, nehmen wir an, es sei der letzte, den ich an Dich richte.
Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich mit meinem früh verstorbenen Freund Reinhard Federmann die Geschichten von Isaak Babel übersetzt. In einer dieser Geschichten kommt ein junger Jude vor, der in einer fremden Stadt in der Ukraine in ein unbekanntes Haus gerät und dort zunächst nach seinem Namen gefragt wird. Als er ihn nennt, wird er gefragt, was er eigentlich suche. Und er antwortet darauf schlicht: "Ich suche das Glück."
Dieser Satz von der Suche nach Glück umreißt alles, was ich Dir auf Deinen Weg, hoffentlich noch ein langer Weg, mitgeben kann. Wenn Du begreifst und Dich damit abgefunden hast, daß Du nur ein Zufallsprodukt auf dieser noch immer schönen Erde bist, wirst Du Dich etwas gelassener auf die Suche nach diesem verzwickten Glück begeben, unter dem jeder etwas anderes versteht.
Ich habe in meiner Jugend mein Glück im Allgemeinwohl gesucht und bin zu einer Zeit Kommunist geworden, in der das keineswegs bequem war. Im Gegenteil, wir waren die Verfolgten und Verfemten im damaligen königlichen und profaschistischen Jugoslawien. Die Machthaber dieses armseligen, durch die Gunst der Umstände aufgeplusterten Balkanstaats glaubten in den dreißiger Jahren mit der Zeit gehen zu müssen und verwandelten ihn in eine Militärdiktatur. Wir, die jungen Intellektuellen, gingen auch mit der Mode und waren in der Opposition. Wir demonstrierten gegen den Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich und in die Tschechoslowakei, gegen den Krieg und weiß Gott noch was. Wir wollten die Welt, die damals wirklich mies aussah, verändern und sie menschlicher machen, das heißt, sie unseren nebulosen Vorstellungen von einem idealen Sozialismus anpassen. Das einzige positive Ergebnis dieses radikalen Kampfes war der Sieg über den Nationalsozialismus, der die totale Unterwerfung Europas und die Vernichtung aller überlieferten humanen Werte erstrebt und beinahe vollbracht hat. Die meisten meiner Freunde haben diesen Tag der ersehnten Freiheit nicht erlebt. Viele von ihnen sind später bei den Auseinandersetzungen um den "einzig richtigen Weg" zum Sozialismus zugrunde gegangen. Ich war zum Glück nicht dabei, weil ich nicht weiß, für welche mögliche oder unmögliche Lösung ich mich unter dem Druck der Verhältnisse entschieden hätte. Ich bin noch während des Krieges, nach Gefängnis- und Lageraufenthalt, nach Österreich verschlagen worden, wo ich dann geblieben bin und im Lauf der Zeit eine zwar vertraute, wohlwollende, aber irgendwie doch distanzierte Beziehung zu meiner ursprünglichen Heimat, die sich bald auch vom sowjetischen Joch befreit hat, aufrecht erhalten habe.
Und da kommen wir zum Kern meiner Überlegungen. Es war für einen Balkanesen nicht leicht, sich den rauhen Sitten der Fremde anzupassen, da aber meine Vorfahren aus dem Banat schon unter Maria Theresia österreichische Untertanen waren, fand ich mich schließlich in Wien zurecht. Aus einem Fremden, selbst mit meinem Erbe, zu einem Heimischen zu werden, ging natürlich nicht von heute auf morgen. Diese zweite österreichische Republik, mit der ich vom Jahre Null an verbunden bin, mußte selbst einen langen Reifeprozeß mitmachen, um nach vielen Verirrungen in der Vorzeit endlich frei, unabhängig und selbständig zu werden.
Zur Bildung eines modernen Nationalbewußtseins, in dem die Fehler des untergegangenen Vielvölkerreichs sowie des sogenannten Ständestaates faschistischer Prägung zum Großteil überwunden worden sind, haben viele meiner Freunde aus verschiedenen demokratischen Lagern beigetragen, denen ich in den ersten Nachkriegsjahren in Wien begegnet bin. Mit ihrer Hilfe sowie mit Hilfe meiner im Lauf der Jahre erworbenen Erfahrung, vor allem aber mit Hilfe meiner Phantasie habe ich mir eine Philosophie zurecht gelegt, die mir ermöglicht, viele Enttäuschungen und Niederlagen zu überwinden, die in der Welt, in der wir leben, und noch dazu in meinem fragwürdigen Beruf, gang und gäbe sind.
Ich schätze mich glücklich, in einem Land zu leben, das keine Großmachtallüren hat und sich deshalb nicht immer anstrengen muß, seine geschichtliche Präsenz unter Beweis zu stellen. Da wir nicht mehr vorhaben, Geschichte zu machen, wird es uns vielleicht eher gelingen, in sie einzugehen, und wenn nicht, macht es auch nichts. Wir Österreicher haben die große Niederlage hinter uns und wissen daher, wie vergänglich alle Macht und Größe auf dieser Welt sind. Wir sind also im Vorteil all den anderen Nationen gegenüber, die sie erst vor sich haben. Ich finde das höchst angenehm. Es ist viel anstrengender, in einem Land zu leben, das unter seiner eingebildeten Größe leidet und sie immer wieder bestätigen muß. Da gibt es zu wenig Raum für Muße und individuelle Spielereien, die das Leben lebenswert machen. Dort ist es eine ernste Angelegenheit, bei uns nicht immer.
Natürlich haben wir auch eine Menge Probleme, aber sie sind bei uns auf ein menschliches Maß reduziert, so daß sie leichter lösbar zu sein scheinen. Und wenn sie unlösbar sind, lassen wir sie links liegen. Irgendeinmal werden sie sich von selbst lösen - oder für immer unlösbar bleiben, was gar nicht so schlimm ist. Mit einem Wort, ich habe die Nonchalance gern, mit der man bei uns das Leben zu meistern versucht.
Du wirst also hierzulande keine große Karriere machen können, schon gar nicht in einem künstlerischen Beruf, dafür hast du aber die Chance, glücklich zu werden, wenn Du die kleinkarierte, provinzielle Seite eines Kleinstaats ignorierst, Dein Geld anderswo verdienst, zum Beispiel in Deutschland, und es hier sichtbar ausgibst. Deine Landsleute werden Dich dafür sehr schätzen. Wie Du siehst, hat das Leben unter lauter Lebenskünstlern auch seine Schattenseiten. Aber das soll Dich nicht verdrießen. Versuche, Deinen Mitmenschen, so liebenswürdig sie auch immer erscheinen, was immer sie auch zu tun vorgeben und was für ein Zeug sie dabei auch immer als Lebensweisheiten verzapfen, Widerstand zu leisten. Wer nachgibt, geht unter. Glaube vor allem keinen Propheten, die Dir das ewige Leben versprechen; sie lügen alle. Und außerdem sind sie lauter Nachahmer.
Die großen Nein-Sager haben am Kreuz, am Galgen, auf dem Scheiterhaufen oder im Irrenhaus geendet. Ihre Trabanten versuchen nur, ein Geschäft daraus zu machen. Sei deshalb vorsichtig allen sogenannten Weltanschauungen und deren Vertretern gegenüber. In diesem Leben - und ich hege starke Zweifel, daß es ein zweites gibt - zählt nur das, was einer tut, und nicht das, was einer redet. Hier und heute soll man beweisen, ob man es mit den vielen schönen Worten ernst meint oder nicht. Sei radikal in Deinem Zweifel und in Deiner Kritik. Solltest Du dabei scheitern, kannst Du Dich mit dem Gedanken trösten, daß Deine leiblichen und geistigen Vorfahren zuletzt auch gescheitert sind. Du bist der Nachfahre einer ganzen Reihe von Gescheiterten, und Du sollst stolz darauf sein. Die scheinbar Erfolgreichen, die Sieger, sind unsympathisch. Ihre angeblichen Siege haben sie ihrer menschlichen Eigenschaften beraubt. Sie wissen nicht, was wahres Glück ist, auf das es im Leben überhaupt ankommt.
Das Glück liegt im Detail und nicht im großen Aufriß. Es zu finden und mit Dir selbst ins reine zu kommen wünscht Dir von ganzem Herzen
Dein Vater
© Milo Dor (Wien)
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Milo Dor (Wien): Mein lieber Sohn! In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/dor15DE.htm