Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
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Stadtpolitik und transnationale Kulturprozesse

Andreas Mailath-Pokorny (Stadtrat für Kultur und Wissenschaft in Wien)
[BIO]

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich begrüße sie im Namen des Bürgermeisters der Stadt Wien, der heute leider nicht hier sein kann, und in meinem eigenen Namen als verantwortlicher Politiker für Kultur und Wissenschaft in Wien. Es ist mir vor allem eine besondere Freude, dass viele von Ihnen, sei es als Referenten oder als Teilnehmer, einen weiten Weg zurückgelegt haben und nun hier in Wien für einige Tage zu Gast sind. Nochmals ein herzliches Willkommen. Ich hoffe, sie fühlen sich auch abseits der Tagung in unserer Stadt wohl und machen von dem reichhaltigen kulturellen und gastronomischen Angebot Gebrauch.

Mein Vorredner, Präsident Peter Horn, hat soeben von der Sprache als gemeinsames Element der Kulturen gesprochen. Seinen Ausführungen ist voll und ganz zuzustimmen. Als ich mich vor einigen Tagen auf diese Konferenz vorbereitete und ich über das Thema ihrer Konferenz nachdachte, blieb ich bei meiner Zeitungslektüre bei genau diesem Thema, dem Thema der Sprache, hängen.

Die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" konfrontierte in einer ihrer letzten Ausgaben den Präsidenten des russischen PEN, den Schriftsteller Andrej Bitow, mit folgender Aussage: "Es gibt eine merkwürdige Landeskunde, nach der ist Frankreich für den Kopf, Deutschland für das Herz und Russland für die Seele zuständig." Und Andrej Bitows Antwort darauf lautete so: "Mir ist die Sprachkunde lieber: Englisch ist das Verb, Deutsch ist das Subjekt, und russisch ist das Adjektiv."

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn hier im positiven Sinn von einem sprachlichen Babylon die Rede ist, nämlich, dass es eine unmittelbare Verbindung zwischen Sprache und Kultur, zwischen Sprache und Kulturen gibt, ist es nicht weit zum Begriff der Stadt. Kommunikation findet nämlich dort statt, wo sich Menschen begegnen. Und das ist in allen Kulturen der urbane Raum, die Stadt, sei es nun die Millionenstadt oder sei es die Provinzstadt.

Stadt an sich ist ein widersprüchliches Gefüge. Städte sind naturgemäß Umschlagplätze des Austausches von Waren und Ideen aller Art. In Städten bietet sich in verdichteter Form die Möglichkeit, Ideen zu generieren, miteinander in Konkurrenz zu treten. Und letztlich ist es der urbane Raum, in dem das Publikum für das Neue oder Experimentelle gewonnen wird.

Wie existentiell die Kultur in diesem Zusammenhang ist, deutet uns der große französische Historiker Jacques le Goff, der meinte: "Europa wird entweder kulturell bestehen oder gar nicht". Ich stimme diesem Satz voll und ganz zu und füge hinzu, dass dies durchaus auch globale Gültigkeit hat.

Gleichzeitig leben wir im Zeitalter des Internet und einer mediatisierten Welt. Einer beschleunigten Welt, in der ein Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen vorherrscht. Gerade für den urbanen Raum gelten spezielle Parameter, die die Geschichte Europas schon seit der Antike prägen: Stadt ist ein kulturelles Soziotop, spätestens seit der humanistischen Welt der Renaissance gelten Städte als Treffpunkte der Welt und somit als Knotenpunkte für den Austausch von Wissen, Erfahrung, Bildung und Kunst.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann man sagen, dass Städte Seismographen für zeitgenössische Entwicklungen sind. Sie bieten uns Teststrecken für die Erprobung neuer zukunftsweisender Entwürfe. Städte funktionieren jedoch nicht abgehoben und isoliert von ihrer Umwelt. Mit dem Zuzug vom Land, aber auch aus anderen Ländern, sind die europäischen Metropolen groß geworden. Der kulturelle Reichtum, das geistige Potential einer Stadt wird wesentlich durch jene geprägt, die magnetisch von ihr angezogen werden und schließlich bleiben. Die Stadt ist der Humus für den Geist und den Intellekt.

Und umgekehrt machen die Menschen die Stadt aus. Wien als Welthauptstadt der Musik wäre undenkbar ohne jene, die sich in ihr niederließen - denken wir nur an die Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler. Aber auch für die jüngere Geschichte trifft dies zu, ein guter Teil der Identität Wiens wird heute durch ein lebendiges Musikschaffen gespeist.

Noch bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat das Land, die Landwirtschaft die Welt geprägt. Heute lebt in Europa bereits ein überwiegender Teil der Bevölkerung in der Stadt, weltweit leben nach Schätzung der UNO mehr als 50% in mehr oder weniger urbanen Konglomeraten. Und selbst auf dem Land hat die Stadt bereits Einzug gehalten. Beispiele dafür sind die urbane Architektur in den Alpen, die veränderten Essgewohnheiten oder der Einzug des Internet in viele Bauernstuben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

was sagt uns der Begriff Stadt vor dem Hintergrund ihrer Tagung zum "Verbindenden der Kulturen"? Die Stadt war in den letzten Jahrhunderten Zentrum, in dem sich Geist und Intellekt, aber auch soziales Elend und Verarmungsprozesse vereinten. Wien war ein solches Zentrum, das wie andere Metropolen den Reichtum, aber auch die soziale Polarisierung kannte: "Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde" wie der österreichische Schriftsteller Jura Soyfer in den dreißiger Jahren in Wien schrieb.

Das Verbindende der Kulturen, das was den Mensch zum Menschen macht, steht im Zentrum ihrer Tagung. Einer Tagung, der Wien mit besonderer Freude ihre Pforten öffnet und die gut einhergeht mit dem grundsätzlichen Bekenntnis der Stadt Wien zu Offenheit und Dialog. Wir sind getragen von der verantwortungsvollen Idee, dass es nicht genügen darf, wenn einem der Andere bloß indifferent ist, einen nicht einschränkt.

Toleranz als Grundvoraussetzung für das Verbindende der Kulturen und für eine friedliche Koexistenz bedeutet nicht bloß Gleichgültigkeit und laissez-faire, im schlechtesten Fall laissez-vivre, sondern Kenntnis der Identität sowie Auseinandersetzung mit der Position des Anderen.

Toleranz in unserer heutigen Gesellschaft darf eben nicht bloß Duldung im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes "tolerare", also "erleiden" bedeuten. Dulden bedeutet bereits eine Form der Diskriminierung. Vielleicht gerade weil wir hier in Wien so unheilvolle Erfahrungen mit Diskriminierung und Vertreibung machen mussten, ist Wien heute eben anders.

Die Wiener und Wienerinnen haben mit der Politik der Ausgrenzung, vor allem auch der rassistischen Ausgrenzung, dramatische Erfahrungen gemacht. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der schlimmste Albtraum wahr. Krieg, Diktatur und Verfolgung führten direkt zur Zerstörung der Stadt und zu individuellem Leid, das heute kaum mehr vorstellbar ist.

Nach der Befreiung im Jahr 1945 versuchte die Stadt Wien aus den Folgen einer derartigen Politik zu lernen. Heute steht Wien für ein Klima der Weltoffenheit, des friedlichen Miteinanders und einer Toleranz in Denken und Handeln. Wien nahm und nimmt Strömungen auf, die Zuwanderer über die Jahrzehnte und Jahrhunderte nach Wien gebracht haben und bringen.

Man muss nicht gleich derselben Meinung sein, aber es gilt immer noch die aufklärerische Maxime von Voltaire, der sagte: "Ich bin zwar nicht ihrer Meinung, aber ich werde alles tun, dass sie sie aussprechen können."

Sehr geehrte Damen und Herren, ich wünsche Ihnen interessante und anregende Vorträge und Diskussionen in den nächsten Tagen. Ich begrüße abschließend die Idee, eine nächste Konferenz im Dezember 2005 wieder in Wien stattfinden zu lassen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

© Andreas Mailath-Pokorny (Stadtrat für Kultur und Wissenschaft in Wien)

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For quotation purposes:
Andreas Mailath-Pokorny (Stadtrat für Kultur und Wissenschaft in Wien): Stadtpolitik und transnationale Kulturprozesse. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/mailath15DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 19.11.2003     INST