Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
  Plenum | Plenary Session | Séance plénière  DEUTSCH | ENGLISH | FRANCAIS

Betrachtungen über das Exil

Edward Saïd (in memoriam)
[BIO]

 

[...] Ich möchte nicht so verstanden werden, als implizierte ich, daß man einer ehemals kolonisierten oder benachteiligten Minderheit angehören müsse, um interessante und geschichtlich fundierte Literaturwissenschaft betreiben zu können. Wenn solche Vorstellungen eines Eingeweihtenprivilegs vorgebracht werden, muß man sie sofort als Fortsetzung jener Ausschließungen zurückweisen, die man immer als eine Art nachgeahmter Rassismus oder Nationalismus bekämpfen muß, etwas was ich an den angeblich privilegierten oder "objektiven" Beobachtern wie Naipaul und Orwell kritisiert habe, die beide für die Transparenz und "Ehrlichkeit" ihres Stils bekannt sind, aber auch an gesellschaftlich "Eingeweihten" wie Walter Lippmann. Wie jeder Stil muß "gutes" und transparentes Schreiben wegen seiner Mitschuld an der Macht, die ihm erlaubt, da zu sein, ob im Mittelpunkt oder nicht, entmystifiziert werden.

Darüber hinaus ist das Studium der Literatur nicht abstrakt, sondern unentschuldbar und unwidersprechlich in einer Kultur, deren historische Situation sehr viel von dem was wir sagen und tun beeinflußt, wenn nicht gar bestimmt. Ich habe durchgehend den Ausdruck "historische Erfahrung" benutzt, denn diese Worte sind weder technisch noch esoterisch, sondern suggerieren eine Öffnung weg vom Formalen und Technischen in Richtung auf das Gelebte, das Umstrittene und das Unmittelbare, zu dem ich in diesen Essays immer wieder zurückkehre. Ja, ich weiß so gut wie jeder, daß die Gefahr eines leeren Humanismus ganz real ist, daß man die Tugenden der klassischen und humanistischen Normen im Studium der Literatur nicht einfach bejahen kann, ohne eine Agenda zu unterstützen, die es darauf abgesehen hat, jede Erwähnung von transnationalen Erfahrungen wie Krieg, Sklaverei, Imperialismus, Armut und Unwissenheit auszurotten oder wenn möglich zu eliminieren, die die menschliche Geschichte entstellt haben - und den Humanismus diskreditiert haben, der die Verantwortung für diese Übel den Politikern und Anderen überlassen hat. In einem in Kürze erscheinenden Buch über den Humanismus in Amerika hoffe ich diese Gedanken weiterzuentwickeln und die fortdauernde Relevanz des Humanismus für unsere Zeit zu bejahen. Was ich hier sagen will ist, daß gegenwärtig das Studium der Literatur in zwei einander entgegengesetzte und meiner Meinung nach lächerlich tendenziöse Richtungen gegangen ist: einmal in einen professionalisierten und technizistischen Jargon, der von Strategien, Techniken, Privilegien und Wertungen nur so strotzt, das meiste davon rein verbal oder "postmodern" und ohne das geringste Engagement in der Welt, oder zweitens, in eine glanzlose, vogelstraußhafte und unreflektierte Pseudogesundheit, die sich "traditionelle" Wissenschaft nennt. Geschichtliche Erfahrung, und insbesondere die Erfahrung der Dislokation, des Exils, der Migration, und des Imperiums, öffnet beide Methoden der kräftigenden Präsenz einer ausgeschlossenen oder vergessenen Wirklichkeit, die in den letzten zwei Jahrhunderten die menschliche Existenz in vielfältiger Weise bestimmt hat. Es ist diese allgemeine und besondere Erfahrung, die meine Art von Kritik und Wissenschaft regenerieren, [...] verstehen und situieren will.

Mit Erlaubnis der Wylie Agency (UK) Ltd im Namen von Edward W. Said. Copyright (c) 2000 by Edward W. Said

Plenum | Plenary Session | Séance plénière


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu


For quotation purposes:
Edward Saïd (in memoriam): Betrachtungen über das Exil. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/said15DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 18.11.2003     INST