Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
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Kulturelle Vielfalt: Eine Herausforderung für Europa
Situation und zukünftige Entwicklungen wahrnehmen

Beate Winkler (EUMC, Wien)

 

"Welche Anforderungen stellt die Globalisierung an uns, wenn es um das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land geht? Welche Maßstäbe gilt es dabei zu beachten? Wie können wir selbst, aber auch andere Menschen und Institutionen mit kultureller Unterschiedlichkeit kompetenter umgehen? Welche Möglichkeiten haben Kulturpolitik und kulturelle Praxis, um diese Fähigkeit zu unterstützen?"

Diesen Fragen müssen wir uns stellen, denn zukünftige Entwicklungen - aber auch die Situation jetzt - machen deutlich: Neue Ansätze und ein anderes Bewußtsein sind in der Kulturpolitik gefordert, wenn es um das Zusammenleben zwischen einheimischer Mehrheit und zugewanderten Minderheiten, zwischen Migrantinnen und Migranten geht. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, daß aufgrund der weltweiten Wanderungsbewegungen von Ost nach West, von Süd nach Nord und aufgrund der demographischen Entwicklung immer mehr zugewanderte Minderheiten leben werden - Menschen, die oft geprägt sind von einem unterschiedlichen kulturellen Verständnis und ethischen Werten.

Neben vielen positiven Entwicklungen in Europa, dem selbstverständlichen alltäglichen Zusammenleben, ist das Verhältnis von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung vielfach geprägt von Verunsicherung und Rückzug. Die Angst vor einer weiteren Islamisierung ist in den letzten Jahren gewachsen. Die Angst vor steigendem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit hat bei den Migrantinnen und Migranten stetig zugenommen, ebenso konnte ein Anstieg anti-semitischer Tendenzen beobachtet werden.

Die gleichberechtigte rechtliche Teilhabe der Migrantinnen und Migranten am gesellschaftlichen Leben fehlt nach wie vor - und ist doch unerläßliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Ausgrenzung stärkt die Ethnisierung der Minderheiten und unterstützt fundamentalistische Entwicklungen. Gerade deshalb ist es besonders wichtig, ethnischen Minderheiten zu vermitteln, daß sie gleichberechtigter Teil der pluralen Gesellschaft sind. Durch Flugzeug und Fernsehen aus dem Herkunftsland per Satellit wird es immer einfacher, kulturell fast ausschließlich im Herkunftsland verhaftet zu bleiben. Was dies für die kulturellen Fragen des Zusammenlebens bedeutet, ist kaum bewußt.

Chancen, Widersprüche und Defizite aufgreifen

Neue Konzeptionen sind erforderlich, die einer weiteren Polarisierung zwischen Migrantinnen und Migranten einer Bevölkerung entgegenwirken. Doch gibt es nur wenig Ansätze in Praxis und Politik, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kompetenz, mit kultureller Unterschiedlichkeit sensibel und verantwortungsvoll umzugehen, zu stärken. Nach wie vor wird die Einwanderungssituation nicht genug angesprochen, und eine klare politische Aussage zu dem Zusammenleben fehlt zu oft. Auch dies hat dazu geführt, daß notwendige Konzeptionen und Strategien kaum erarbeitet wurden.

Dieses Defizit ist auch vor dem Hintergrund zu erklären, daß die kulturellen Fragen des Zusammenlebens zwischen einheimischer Mehrheit und zugewanderten ausländischen Minderheiten häufig widersprüchlich erfahren und beurteilt werden: Handelt es sich um eine Kultur, die weder westeuropäisch noch nordamerikanisch geprägt ist, wird sie von vielen Menschen in unserer Gesellschaft als bedrohlich empfunden. Von der Sehnsucht nach Eindeutigkeit und "Homogenem" werden viele Menschen bestimmt. Die Angst, kulturell "überfremdet" zu werden, ist nach wie vor die Furcht, die am häufigsten in Europa bei Umfragen genannt wird. Nicht wahrgenommen wird dabei, daß das Fremde aber auch das Exotische, Faszinierende, Anziehende sein kann.

Demgegenüber wird von Teilen der Gesellschaft anerkannt, daß Kultur in besonderer Weise die Möglichkeit eröffnet, das Zusammenleben positiv zu beeinflussen: Kultur in all ihren Ausprägungen entsteht aus der Auseinandersetzung mit "Fremdem", gibt die Chance, Vielfalt positiv zu erfahren und kann die Fähigkeit unterstützen, mit Widersprüchen und Gegensätzen umzugehen. Wichtige persönliche Kompetenzen können durch Kulturarbeit gestärkt werden: Toleranz, Neugierde, die Fähigkeit zu unkonventionellen Problemlösungen.

Diese Kompetenzen sind gerade bei der Lösung von wichtigen Zukunftsaufgaben gefragt. Kultur kann in einer gesellschaftlichen Situation, die durch Modernisierungsschübe und Verlust an Bindungen besonders anfällig für einfache, radikale Ideologien ist, durch gemeinsame, positive Erfahrungen neue Bindungen mit Menschen anderer kultureller Herkunft schaffen. Aus der Gesellschafts- und Kulturgeschichte wissen wir zudem, daß gerade in der Auseinandersetzung und Verarbeitung von unterschiedlichen kulturellen Einflüssen oft die stärksten Quellen kreativer Erneuerung gelegen haben.

Anderes kommt hinzu: Kultur unterstützt die zugewanderte Bevölkerung bei ihrer Selbstfindung im neuen Lebensumfeld und gibt ihr eigenen, vertrauten Raum, der notwendig ist, um das Neue, Fremde zu verarbeiten. In der Kulturpolitik wird es daher auch darauf ankommen, eine "Politik der Anerkennung" zu formulieren und umzusetzen. "Politik der Anerkennung" bedeutet, "den anderen" in seiner Identität, in seiner jeweiligen und kulturellen Prägung zu achten und das "Recht auf kulturelle Differenz" anzunehmen. Das Recht auf kulturelle Differenz kann jedoch zu einem Kulturkonflikt führen, wenn dadurch Menschenrechte verletzt werden. Es gibt zur Zeit noch kein "Weltethos", dem sich alle Völker, alle Nationen gleichermaßen verbunden fühlen. Der Fall Rushdie zeigt dies beispielhaft. Meinungsfreiheit und Toleranz sind keine Werte, die weltweit akzeptiert werden. Daß dies anzustrebende Zielvorstellung ist, zeigt die immer stärker werdende Diskussion um Weltethos und transkulturelle Ethik - eine Zielvorstellung, die immer größere politische Bedeutung bekommt. Nach Auschwitz gibt es für unsere Gesellschaft keine Alternative zu dem Grundsatz "Vorrang der Menschenrechte vor den Leitwerten anderer Kulturen". Es kann nicht unsere Antwort auf den Massenmord an den europäischen Juden sein, die Menschenrechte für beliebig zu erklären. Die Frage nach den Grenzen von Toleranz, nach dem, was anerkannt wird und nach dem, was nicht anerkannt wird, bemißt sich nach den Menschenrechten.

Chancen vermitteln und Kulturpolitik gestalten

Die positiven Aspekte müssen deutlicher ins öffentliche Bewußtsein rücken. Zu einseitig stand die öffentliche Diskussion unter dem Aspekt "gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Rechtsextremismus" und damit unter negativen Vorzeichen. Die kulturellen Impulse, die Kreativität, das Irritierende, das Lebendige, das Konfliktreiche, aus dem eben auch neue Ansätze erwachsen, wurden allzu oft mit einem "grauen Mäntelchen" bedeckt. Die Chance, Kultur als Brücke und Verständigungsfaktor zwischen Mehrheit und Minderheiten zu nutzen - auch um Bedrohungsängsten entgegenzuwirken - muß deutlicher wahrgenommen werden. Um angemessen auf die Einwanderungssituation zu reagieren und sich einer gleichberechtigten Teilhabe zu nähern, heißt es, den Kulturbetrieb in allen europäischen Mitgliedstaaten stärker für ethnische, kulturelle Minderheiten zu öffnen.

Neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln

Die positiven und negativen Erfahrungen müssen gebündelt und so aufbereitet werden, daß sie an anderen Orten und in anderen Politik- und Lebensfeldern auch genutzt werden können. Die Frage der Vermittlung und Umsetzung von kulturellen Erfahrungen und kulturpolitischen Konzeptionen und Strategien an Politik, Gesellschaft und Medien ist ein Kernproblem. Zu stark bleiben viele gesellschaftliche Gruppen unter sich und suchen das Gespräch mit Menschen aus anderen Berufsgruppen und Lebenszusammenhängen zu wenig. Kultureller Transfer und notwendige Vernetzung werden dadurch erschwert. Stärker sollte bewußt sein, daß es sich bei den Fragen des Zusammenlebens zwischen zugewanderten Minderheiten und einheimischer Mehrheit um sehr komplexe Fragestellungen handelt, die komplexe Antworten erfordern. Entscheidend wird es bei der Auseinandersetzung mit der Globalisierung darauf ankommen, daß Menschen mit unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsbereichen, unterschiedlichen Sichtweisen und Wahrnehmungsformen gemeinsam neue Ansätze gewinnen. Bei der Entwicklung von neuen Konzeptionen, Strategien und Projekten gibt es keine fertigen Antworten, sondern es heißt, sich auf eine ständige Suchbewegung einzulassen und Fragen zu stellen: Wie können wir die Fähigkeit stärken, mit kultureller Unterschiedlichkeit sensibler und verantwortungsvoller umzugehen? Wie kann es uns gelingen, den Blickwinkel zu verändern und die eigene Wahrnehmungsform und Erkenntnismöglichkeit nicht als " Nabel der Welt" zu betrachten? Ist es uns möglich, den anderen anders sein zu lassen - ohne Trennendes und Fremdes zu verwischen, ohne ihn zu vereinnahmen oder abzuwerten?

Durch die Auseinandersetzung mit dem anderen erfahren wir eine Veränderung und urteilen in der Regel nicht mehr nach unseren ursprünglichen Wertmaßstäben. Neues kann entstehen. Dabei ist die Zusammenarbeit von einheimischer Mehrheit und zugewanderten Minderheiten, von Migrantinnen und Migranten bei der Entwicklung von Konzeptionen, Strategien und Projekten grundlegende Voraussetzung.

Bei einer langfristigen Zusammenarbeit würden sowohl Probleme als auch Chancen der Globalisierung und des Kulturaustauschs deutlicher wahrgenommen und positiv aufgegriffen werden. Nicht zuletzt könnten Konflikte deutlich und als positive Herausforderung für die Weiterentwicklung erfahren werden. Ein verändertes Konfliktverständnis kann zu neuen Ansätzen führen; denn zu wenig wird die positive Kraft gesehen. Konflikte, die aus unterschiedlichen Sichtweisen entstehen, können zwar zu qualvollen Situationen führen. Sie können aber auch umgeformt werden in kreative Prozesse - in einen produktiven Dialog zwischen den Kulturen. Auf diesen sind Politik und Gesellschaft angewiesen, wollen sie ihrer kulturellen Vielfalt in demokratischer Weise gerecht werden.

Fazit

Die Globalisierung erfordert es, den interkulturellen Dialog zu verstärken und die großen Chancen, die im Kulturbereich für das Zusammenleben liegen, verantwortungsvoll zu nutzen - ohne die Probleme zu verschweigen. Unverständlich und unverantwortlich ist es, wenn die Angst vor kultureller Überfremdung von Politikern - wie es vielfach geschieht - noch unterstützt oder sogar geschürt wird. "Homogenität" eines Volks, die vielfach beschworen wird, gibt es nicht und hat es nicht gegeben.

Kulturpolitik und kulturelle Praxis sind herausgefordert, dem entgegenzuwirken: in theoretischer Entwicklung und praktischer Umsetzung. Erfahrungen werden dabei gebündelt, neue Formen der Zusammenarbeit erprobt und ein Konzept sowie politische Maßnahmen sollten ausgearbeitet werden. Statt einen Zusammenprall der Kulturen zu beschwören, heißt es, die großen Chancen der kulturellen Vielfalt und des interkulturellen Dialogs durch die Globalisierung zu nutzen. Die Zukunftsperspektiven für Europa liegen in unserer kulturellen Vielfalt und in einem interkulturellen Dialog.

© Beate Winkler (EUMC, Wien)

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For quotation purposes:
Beate Winkler (EUMC, Wien): Kulturelle Vielfalt: Eine Herausforderung für Europa. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/winkler15DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 18.11.2003     INST