Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht
Herausgeber | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)

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Ironie und Geschichte in Eisensteins "Oktober"

Judit Bárdos (Budapest)
[BIO]

 

Nach Kierkegard gibt es Zeiten, die Pathos erfordern: Ergebnisse statt Nachdenken, Überzeugung statt Wahrheit, Herzensergüsse statt Emotionen. Es gibt außerdem Zeiten, in denen alle Mängel der Vergangenheit ersichtlich werden, und das ironische Subjekt erscheint, für das die gegebene Wirklichkeit ihre Geltung völlig verloren hat. "In der Ironie - sagt Kierkegard - ist das Subjekt  n e g a t i v f r e i", "um so sicherer und unvermeidlicher ist auch der Untergang der Wirklichkeit, um so größeres Übergewicht hat der ironische Einzelne über die Wirklichkeit, die er vernichten will, und um so freier ist er auch."(1)

Revolutionen sind pathetisch. Oft faszinieren sie Künstler, die von den Geschehnissen direkt beeinflusst, das Erlebnis einer unmittelbaren Mitgestaltung der Geschichte ausdrücken wollen. Mit der Zeit verändert sich aber die Perspektive: Das Subjekt, der Künstler sieht und beschreibt sein Zeitalter aus einem anderen, höheren Blickwinkel, was auch einer ironischen Darstellung Raum gibt. Sein späterer Leser oder Zuschauer, der durch eine größere Distanz von seinem Zeitalter immer freier wird, projiziert noch mehr Ironie ins Werk, er interpretiert es ironischer, als der Schöpfer selbst oder seine Zeitgenossen.

1927 wurden Eisenstein und Pudowkin beauftragt, Filme anlässlich des 10. Jubiläums der russischen Revolution von 1917 zu machen. Eisenstein drehte den Film Oktober - zehn tage, die Welt erschütterten, Pudowkin Das Ende von St. Petersburg.

Ein hervorragender Interpret von Eisensteins Film schreibt wie folgt: "Der Oktober" ist ein Werk von fast überall einheitlich hohem Niveau, aber unumgänglich zerstückelt, da er zu gleicher Zeit der Gattung der rekonstruierten Filmchronik und der der symbolischen, triumphalen Dithyrambe entsprechen musste. Unter seinen Episoden ist der Sturm auf den Winterpalast besonders mythologisch gestaltet: Der Sitz der Interimsregierung der schlummernden Alten, die von perversen weiblichen Soldaten verteidigte Festung, wandelt sich im Gebet von Kerensky und in der Götterbilderreihe danach in eine Festung der Hölle, in den Palast von Dis um, dessen Herr und Bewohner niemand anderer ist als der Hauptfeind der Revolution und der Menschheit, der in der Reihe der Götzen dargestellte Gott. Der entflohene Kerensky und die gestürzte Regierung sind nur Diener dieses obersten Tyrannen."(2)

Es leuchtet ein, dass während der vergangenen Jahrzehnte der Filmchronik-Charakter des Films immer mehr verblasste, und es nach dem Ende des Sowjet-Systems gänzlich unmöglich geworden ist, den Film, den zeitgenössischen Erwartungen entsprechend als eine "rekonstruierte Filmchronik" zu betrachten. In den Stummfilmen von Eisenstein, Pudowkin, Dowzenkho und Wertow nehmen wir heutzutage eher die Stilisierung, die Ähnlichkeit des Denkens, der Montagemethode und der visuellen Mittel wahr, als die Identität der geschichtlichen Ereignisse. In der Geschichtsauffassung von Eisenstein kommt auch eher die Ironie zur Geltung, sein Pathos wirkt auf uns weniger.

Natürlich sind beide in jedem seiner Filme präsent. Im Allgemeinen wird die Darstellung der neuen Welt von Pathos begleitet, z. B. die auf dem Deck aufgezogene Fahne und die Bilderreihe der sich bäumenden Löwen in Panzerkreuzer Potemkin (1925), die Inbetriebnahme des Milchseparators in Der Kampf um die Erde (1926-29) (obwohl sich auch komische Elemente dazu mischen, denken wir nur an das Bild der befruchtenden Kraft des Bullen des Kolchos), die alte Welt wird dagegen ironisch dargestellt, wie zum Beispiel das Pars pro toto des Zwickers des Sanitätsoffiziers in Panzerkreuzer Potemkin. Durch die Vergrößerung, die ungewöhnt niedrige Stellung der Kamera und den schrägen Blickwinkel wird zum Beispiel der dicke Nacken des sich abkühlenden Kulaks, der riesige Bierkrug neben ihm, der Wackelkinn seiner Frau und die Überschmückung der Tür ihres Hauses ironisch dargestellt. In einer anderen Szene wird die Bürokratie der alten Welt, die aber im neuen Sowjet-System weiterlebt und blüht, mit ähnlichen visuellen Mitteln lächerlich aber zugleich fürchterlich gemacht (die riesige Schreibmaschine, und die sich dahinter auftürmende Sekretärin). Diese Bilderreihen sieht man auch aus dem subjektiven Blickwinkel der Bauern, die um Hilfe bzw. um Erlaubnis bitten, trotzdem erwecken sie nicht nur eine angsteinflößende, sondern auch eine komische Wirkung. Man pflegt, die in diesem Film oft vorkommende Montage-Art als emotionell, die für den Streik (1924) charakteristische als Attraktions-, an anderen Stellen als Assoziationsmontage usw. Zu bezeichnen.(3)

In der Darstellung der alten Welt dominiert die Ironie auch in Oktober - zehn Tage, dieWelt erschütterten (1927): Die Hinweise auf Napoleon, auf die Religion, auf die Restauration, auf die leeren Phrasen der Menschewiken (ihre Darstellung einmal mit Harfe, einmal mit Balalaika), und diese gehen hauptsächlich mit intellektuellen Montagen einher. Im Folgenden mache ich den Versuch, sie einer Analyse zu unterziehen. Gleichwohl ist in diesem Film auch das Pathos vorhanden. Es ist unmöglich, das suggestive Bild der geöffneten Brücke nicht pathetisch zu nennen, auf der sich langsam und würdevoll die Leichname von zwei Opfern emporsteigen: der einer Frau mit langen, blonden Haaren und der eines Pferdes. Der Augenblick des Sieges der Bolschewik-Revolution wird von der Uhr-Montage pathetisch gemacht: Die einzelnen Ortszeiten zeigenden Uhren drehen sich immer schneller um die Uhr, die die Zeit von Petrograd zeigt - es ist ein historischer Augenblick. Es gibt aber auch hier ein komisches Moment: In der Duma döst ein alter Bauer. Die Nachricht des Sieges und der Applaus wecken ihn, er beginnt auch zu applaudieren. Heute besitzen die ironischen Teile mehr evokative Kraft als die pathetischen.

In der zweiten Hälfte der 20-er Jahre war Einsenstein mit dem Gedanken beschäftigt, wie man im Stummfilm eine immer höhere Abstraktionsebene erreichen, und durch den Anblick im Zuschauer Begriffe hervorrufen könnte. Wie? Durch intellektuelle Montage.(4) Er experimentierte damit in Oktober - zehn Tage, die Welt erschütterten (1927), und auf einer theoretischen Ebene in seinen Analysen des Films Oktober.(5) Das berühmteste Beispiel der intellektuellen Montage ist die Bilderreihe der Götter im Oktober. Der nachträglichen Interpretation des Theoretikers/Regisseurs zufolge vermag die Montage der Symbole der einzelnen Religionen (pravoslawischer Dom, islamische Moschee, eine Statue aus dem Fernen Osten, heidnische Götzen) den abstrakten Begriff der Religion im Zuschauer hervorzurufen. Es ist nicht üblich, die Interpretation eines Regisseurs über seine eigenen Werke kritiklos anzunehmen, aber sie kann im Falle Eisensteins auch nicht außer Acht gelassen werden. Er war ein äußerst bewusster Künstler, und auch als Theoretiker zählt er zu den bedeutendsten. Ich muss jedoch hinzufügen: Es ist nicht sicher, dass der Zuschauer auf diese Ebene der Verallgemeinerung, der Abstraktion, also bis zum Hervorrufen des Begriffs der Religion gelangt, und es ist auch nicht sicher, dass er die aus visuellen Elementen zusammengesetzte Vorstellung mit Wörtern verbindet. Diese individuellen Unterschiede schaffen für den Rezipienten eine Interprätationsfreiheit - innerhalb eines bestimmten Bewegungsraumes. Außer den ersten zwei bis drei Jahren seiner Tätigkeit hat Eisenstein die Wichtigkeit dieser Freiheit immer wieder betont, zum Beispiel als er die Eigentümlichkeiten der Vorstellungsbildung, des sensuellen Denkens, des inneren Sprechens und der schöpferischen Arbeit des Schauspielers und des Regisseurs analysierte.(6)

Eisenstein hat die Götterbilderreihe als Programm seiner Kunst bestimmt, so dass er damit den abstrakten Begriff der Religion wachzurufen bestrebt ist. Zugleich bemerkt er in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, dass die Bilderreihe grundsätzlich von einem visuellen Erlebnis inspiriert war. "Wie dem auch sei, ich bilde eine ähnliche Kette aus dicht zusammenhängenden Kettengliedern, mithilfe von unmittelbar visuellen Mitteln. Dem roh geschnitzten Holzklotz des Giljaken-Götzen folgt die prunkvollste Darstellung der Gottheit, wofür ich zahllose Beispiele unter den Denkmälern des St. Petersburger Barocks finden konnte. Letzteres Bild verschmilzt gleichsam plastisch mit dem Ersteren. Rundherum gingen von dem barocken Christus goldene Strahlen aus, und deshalb fiel er in seinen Umrissen fast mit dem ihm folgenden mehrarmigen indischen Gott zusammen. Das schreckliche Antlitz dieses Gottes ging in ein anderes indisches Gesicht über, dessen Silhouette an die Kuppel der Moschee am Kamennoostrowski-Prospekt erinnert. Diese Kuppel wiederum entsprach in ihren Konturen der Maske der japanischen Göttin Amaterasu (der Legende zufolge ist sie die Begründerin des orientalischen Theaters). Sie wurde von dem bösen Schnabel einer geringeren Gottheit des nipponischen Olymps abgelöst. Dieser nun fiel in Farbe und Form mit der aus Afrika stammenden Maske eines Negergottes (joruba) zusammen. Von hier aber blieben bis zum letzten Giljaken-Klotz nur noch zwei Sprünge, dazwischen irgendeine Gottheit der Eskimo-Schamanen mit hilflos baumelnden hölzernen Pfoten."(7)

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Eisenstein, obwohl er ein theoretisch engagierter, bewusster Künstler war, der sich für die Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten von abstrakten Begriffen besonders interessierte, in erster Linie ein Künstler war, dessen Denken nach den Prinzipien der visuellen Logik funktionierte, und seine eigene Formenwelt aus bildnerischen Elementen gestaltete.

Die Götterbilderreihe in Oktobe r- zehn Tage, die Welt erschütterten enthält auch konkrete historische Hinweise auf die Religiosität von Kerensky, auf die wilde Division aus dem Kaukasus, auf die Äußerlichkeiten eines "islamischen Kreuzzuges" - auf eine Reihe von Ereignissen, die den Zeitgenossen noch vielsagend waren. Diese Art von Assoziationsbasis erschöpft sich mit der Zeit. Offensichtlich wirkte dieser Film anders auf die Zuschauer der damaligen Sowjetunion, die die Figuren erkannten und für die all diese Ereignisse bekannt waren, und natürlich anders auf die zeitgenössischen westlichen Zuschauer, und wieder anders wirkt er auf die Zuschauer von heute, die diese Hinweise nicht mehr verstehen. Unabhängig von den historischen und individuellen Unterschieden, also davon, was und wieviel der zeitgenössische und der heutige Zuschauer davon versteht, und wie er das Gesehene interpretiert, müssen wir in der Analyse in Betracht ziehen, wie sich diese Bilderreihe "grammatisch" in den Film fügt.

Es gibt im Film auffällig viele, nach oben bzw. nach unten gerichtete Bewegungen. Ist die Götterbilderreihe hier bestimmend? Ob man sie in dem Zusammenhang interpretieren soll (und kann), welcher aus dem Buch von Northrop Frye(8) bekannt ist? Wie das Weltbild der Schöpfungsmythen, der Bibel und der Religionen: Oben und Unten, Himmel und Hölle, Auf- und Abstieg, axis mundi? Ich denke, die ironische Geschitsauffassung von Eisenstein läßt uns eher die Natur der Macht in ihrer ewigen Auf- und Abbewegung sehen.

Die Kamera zeigt die Statue von Alexander dem Dritten von unten. Sie zeigt sie als sehr groß, aus einem ungewöhnlich schrägen Blickwinkel. Sie verweilt lange bei den Details: Jeweils bei den beiden Füßen, bei der Überschrift, bei dem Reichsapfel und dem Zepter in den Händen der Statue, bei den Adler-Statuen auf dem Fundament, und schließlich bei dem riesigen Kopf. Man lehnt eine Leiter an die Statue: Einzelne Menschen, die auf der Leiter schnell nach oben klettern, sind im Verhältnis zur Statue sehr klein. Sie winden ein Seil um den einen Fuß, dann um den anderen, dann windet ein Mensch ein Seil von oben, vom Kopf aus um seinen Hals herum. Von ihrem Blickwinkel, von oben, von der Statue aus gesehen, sind nur die nach oben gerichteten Waffen, die aufgerichteten Sensen zu sehen. Es gelingt ihnen langsam, die Statue von seinem Fundament zu stürzen. Ein Fuß fliegt ab, dann der andere, sein Kopf, sein Körper - das heißt, das Zarentum ist zu Ende. Es ist Februar 1917, die Interimsregierung hat die Macht ergriffen.

Soldaten an der Front, Warteschlangen für Brot, wieder steigernde Unzufriedenheit, Demonstration, die April-Wende. Danach kommt die Szene mit der geöffneten Brücke. Die Soldaten schießen in die Menge hinein. Auf der Brücke sind fliehende Menschen, ein Pferdewagen weicht zurück. Die Kamera schwenkt um den Brückenpfeiler am Ufer, um die Brückenkonstruktion, dann zeigt sie, aus einem merkwürdigen Blickwinkel, von unten, die langsame Erhebung des anderen Flügels der Brücke. Viele kurze Schnitte: Von dem Pfeiler aus gesehen die Erhebung des anderen Flügels, von dem sich erhebenden Flügel das sich senkende Ufer; die waagerechte Ebene hängt, wird schräg. Die Kamera folgt einer Frau von hinten, dann dem Pferd. Der Flügel der Brücke geht langsam hoch. Unter den vielen leblosen Körpern liegt auch der der Frau auf der Brücke, ihre langen blonden Haare hängen von der Brücke herunter. Der Wagen bleibt oben auf der Brücke stehen, das Pferd rutscht nach unten. Auf dem nächsten Bild sieht man von unten, aus der Richtung des Wassers, wie der leblose Körper des weißen Pferdes herunterhängt (eine besonders malerische Einstellung). Dann sieht man von unten eine sphinxartige Statue in ägyptischem Stil auf dem Ufer, und als nächstes, vom Blickwinkel der Statue aus gesehen, die Erhebung des anderen Flügels der Brücke. Die Perspektive der Zeitlosigkeit "erhebt", stilisiert ein wenig das Gesehene. Erst danach sieht man die ganze, sich öffnende Brücke in Großtotal. Sonnenstrahlen blitzen auf dem Pfeiler der Brücke. Der Leichnam eines Mannes hängt herunter... Die Pravden werden ins Wasser geworfen.

In der nächsten Szene geht Kerensky die Treppen des Palastes hoch. Er steigt die Stiegen in der bekannten Körperhaltung von Napoleon mit seiner bekannten Handbewegung hinauf. Wir sehen das immer wieder, von unten gezeigt. Er geht immer wieder los, aber er kommt nie oben an. Die Ironie wird durch die Wiederholung und durch die Überschriften gesteigert, die jeweils einen Titel von ihm benennen: "Der Kriegsminister" beim Aufstieg, "der Oberbefehlshaber der Marine" beim Aufstieg, usw. Der Weg nach oben führt nicht zu Gott, sondern zur Macht, genauer gesagt zum Genuss des Besitzes der Macht. Das wird auch von einer Szene mit der Napoleon-Statue bestätigt: Man sieht eine Napoleon-Statue, dann Kerensky in der Haltung von Napoleon stolzierend. Im Juli erfolgt der Putsch von Kornilov. Dann stehen die zwei einander gegenüber, Kerensky und Kornilov, zwei kleine Napoleons, dann zwei kleine hölzerne Statuen, "mit hilflos baumelnden hölzernen Pfoten."

Kornilov greift an: "Im Namen von Gott und der Heimat". Dann sieht man die Symbole der verschiedenen Religionen, die Kirchen, Statuen, Heidenbilder, ("Gott"), dann eine Menge von Georgkreuzen, Auszeichnungen aus dem ersten Weltkrieg ("Heimat"). Es geht nicht nur um den abstrakten Begriff der Religion, da dieser Ausschnitt Teil einer Montagebilderreihe ist, die auf den historischen Kontext hinweist. Es wurde versucht, die alte Ordnung zu restaurieren. Die am Anfang des Films sehr langsam abgestürzte Zarenstatue gelangt jetzt schnell an seinen Platz zurück. Es fligen zuerst der erste Fuß, dann der zweite, dann der Körper und der Kopf von unten nach oben, dann der Reichsapfel und das Zepter, schließlich sogar der Adler auf das Fundament zurück. Was in der Geschichte zum zweiten Mal passiert, ist oft komisch... Dieser "Rückflug" ist auch mit den Teilen der Götterbilderreihe montiert. Der Pope hebt wieder den Kreuz hoch, segnet wieder den Vertreter der Macht.

Kornilov kommt von unten, auf einem Pferd ins Bild herein, wie das Reiterdenkmal von Napoleon aus demselben Blickwinkel. Man sieht es auch von der Seite her, aus einer unteren Kamerastellung, dass ein Panzer naht. Die Panzer, die sich Petrograd nähern, bedrohen die Macht von Kerensky. Kerensky wirft sich aus Furcht von oben auf das Bett nieder, vergräbt sein Gesicht, wie ein Kind, in den Kissen.

Als Arbeiter, Rotarmisten die Stadt in Schutz nehmen, werden sie nicht aus einer dermaßen ungewohnten Kamerastellung gezeigt, sondern aus einer oft angewandten Perspektive etwas unter der Augenhöhe. Es wird wieder eine Brücke geöffnet, diesmal wird es aber von der Filmnarration nicht detailliert dargestellt.

Es ist Oktober. Der Sturm auf den Winterpalast beginnt. Eine parallele Montage, verspätet, Hochspannung erweckend, zeigt die Vorbereitungen zum Sturm. Zuerst sieht man die Waffen von außen auf den Palast gerichtet, und die einzelnen Stockwerke des Palastes: Den Weinkeller, den Stall, die Appartements der Familienmitglieder des Zaren. Überall sind viele Gegenstände, viele Statuen, Kunstartikel, Nippes. In einem Saal gibt es sehr viele Georgkreuze, Stuckarbeiten, Kronleuchter, von unten fotografiert.

Langsam wird der Palast von Leuten bevölkert. In dieser Szene sieht man erneut viele ironische Momente. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiken versammeln und beraten sich (Balalaika, Harfe). Die Soldatinnen bereiten sich ebenfalls vor, sie ziehen sich an, kämmen sich, machen sich schön. Eine von ihnen richtet ihren Fußlappen, auf dem Billardtisch des Zaren sitzend. Sie bewundern die Möbel im Schlafzimmer der Zarin, das Bidet. Eine von ihnen begafft sehnsuchtsvoll mit offenem Mund Rodins Statue "Der Kuss".

Die Rotarmisten besetzen den Winterpalast. Schüsse werden aus den bis jetzt von unten gezeigten Waffen abgefeuert, die Soldaten kommen in den Palast hinein, gehen auf die Treppen hoch. Jedes Stockwerk wird gestürmt. Von nun an gibt es nach unten gerichtete Bewegungen. Im Keller ergießt sich der Wein aus den Fässern auf den Boden, auf den Treppen strömt die Menschenmenge nach unten. Dann wird im Parlament die Machtübernahme, der Sieg der Bolschewikrevolution verkündet. Lenin tritt auf den Podest. Die Abgeordneten stehen auf, schauen auf ihn, applaudieren. Der dösende Alte erwacht plötzlich, er springt auch auf. Die Montage der Uhren. Das Licht der Straßenlaternen wird entzündet.

László Szörényi geht bei der Analyse von Eisensteins Filmen davon aus, dass wenn der Mythos, aus einem bestimmten Gesichtspunkt gesehen, das Aufbauprinzip des ganzen Werkes bildet, dann "ist der Oktober zwar an mythischen Symbolen ziemlich reich, aber nur eine Episode des Films kann auch als Mythos interpretiert werden".(9) Ich denke auch, dass die Götterbilderreihe des Oktobers - obwohl es im Vorstellungskreis von Gott und Religion hier um die berühmteste Szene im Lebenswerk von Eisenstein geht - keine myhtische Struktur hat, und nicht als Mythos zu interpretieren ist. Die Bewegungen nach oben und nach unten weisen auf die Unbeständigkeit der Macht hin, und haben eher die Funktion, die Kirche als Teilnehmer des Machtkampfes, als Unterstützer einer der beiden Seiten vorzustellen, und dienen nicht dazu, den abstrakten Begriff der Religion auszudrücken. Die intellektuelle Montage hat eine kleinere Wirkung auf den Zuschauer von heute, als die ironische Geschichtsauffassung, die auch in dieser Bilderreihe zur Geltung kommt.

Es ist offensichtlich, dass hier die Veränderung der Rezeptionsumstände eine große Rolle spielt. In den Bildern von Eisenstein ist "ursprünglich" sowohl das Pathos als auch die mythische Struktur und die Ironie präsent. Das Verhältnis dieser drei Komponenten hat sich auf der Seite des Rezipienten bedeutend verändert. Der Zuschauer von heute lebt in einer Welt, deren Selbstverständnis und Verhältnis zur Geschichte von einer ironischen Einstellung charakterisiert ist(10), und die suggeriert, dass der Tropus der Ironie bestimmender Teil von allen historischen Texten ist.(11) Es überrascht nicht, dass bei dem heutigen Zuschauer nicht das eisensteinsche Pathos, sondern die eisensteinsche Ironie Resonanz findet.

© Judit Bárdos (Budapest)


ANMERKUNGEN

(1) Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit Ständiger Rücksicht auf Sokrates. Übersetzt von Emanuel Hirsch. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1961. S. 267. S. 269.

(2) László Szörényi, "Mítikus szerkezetek ismétlődései Eizenstein filmjeiben" ("Wiederholungen von mythischen Strukturen in den Filmen von Eisenstein"), in: Iván Horváth und András Veres (Hg.), Ismétlődés a művészetben. ("Wiederholung in der Kunst") Akadémiai Kiadó, Budapest 1980. S. 181-182

(3) Siehe darüber: Judit Bárdos, "Az attrakciók montázsától az intellektuális film elméletéig" ("Von der Montage der Attraktionen bis zur Theorie des intellektuellen Films"), in: Metropolis. Filmelméleti és filmtörténeti folyóirat.("Metropolis. Eine filmtheoretische und filmhistorische Zeitschrift") Jahrgang II. Nr. 3., Herbst 1998, S. 64-76.

(4) Siehe darüber: Judit Bárdos, "Eisenstein - Művészet és elmélet" ("Eisenstein - Kunst und Theorie"), in: Sz. M. Eisenstein, Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Studien) (ausgewählt, ediert und mit Vorwort versehen von Judit Bárdos). Áron Kiadó Budapest 1998. S. 7-31

(5) Vor allem in den Schriften "Unser Oktober", "Perspektiven" und "Eine dialektische Annäherung an die Filmform", in: Sz. M. Eisenstein, a. a. O.

(6) Seine wichtigste Studie darüber: "Montage 1938", in: a.a.O. Über das innere Sprechen siehe: Judit Bárdos, "A belső monológ a filmben - Eisenstein kapcsolata Joyce-szal és Dreiserrel" ("Innerer Monolog im Film - Das Verhältnis von Eisenstein zu Joyce und Dreiser"), in: Judit Bárdos (Red.), Dombormű(Relief), Liget Műhely Alapítvány, 2001, S. 145-161

(7) Sergei Eisenstein: Stationen. Autobiographische Aufzeichnungen. Übertragen von Rita Braun. Henschelverlag, Berlin 1967. S. 338.

(8) Northrop Frye, Words with power, being a second study of "The Bible and literature". Harcourt Brace Jovanovich, New York, 1990

(9) László Szörényi, a.a.O., S. 178

(10) Siehe Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge, Cambridge University Press, 1989. (Auf Ungarisch: Esetlegesség, irónia és Szolidaritás. Jelenkor, Pécs 1994.) Hayden White, Metahistory. The Johns Hopkins University Press, Baltimore - London 1973. S. 375

(11) Hayden White, Metahistory. The Johns Hopkins University Press, Baltimore - London 1973. S. 375


1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht

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For quotation purposes:
Judit Bárdos (Budapest): Ironie und Geschichte in Eisensteins "Oktober". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW:www.inst.at/trans/16Nr/01_2/bardos16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 14.8.2006     INST