Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht
Herausgeber | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Innovative Raummodelle der zweiten Avantgarde und die Konsequenzen ihrer Reproduktion

Daina Teters (Kulturakademie Lettland, Riga)
[BIO]

 

Mich fasziniert die
Bildung der Ideen,
auch wenn ich an
sie nicht glaube.

S. Beckett

 

Unter dem Überbegriff "Avantgarde" hat sich am Beginn des 20. Jahrhunderts das Zeitalter der Hoffnungen angekündigt: Indem sie weit "vorne" vage konturierte, noch unbearbeitete Zukunftsfelder zeigte, schien sie hinreichende Grundlagen für eine neue Kultur zu "versprechen", die viel besser fundiert wäre als die frühere. Leicht und wie von selbst wurde die Kultur zu einem der wichtigsten Forschungsgegenständen der Kunst, der Philosophie und der Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts. Bald erwiesen sich diese Zukunftsfelder aber als leer, allzu leer. Die gescheiterten Hoffnungen leiteten ein knappes halbes Jahrhundert später ein neues Zeitalter ein - das der "Kulturmüdigkeit", das von Anfang an die Möglichkeit abgelehnt hat, neue, der Kultur noch unbekannte Kulturfelder zu erobern. Unter den Intellektuellen verbreitete sich das Gerücht, dass es unter der Sonne nichts mehr zu entdecken gebe und dass den Vorgängern der neuen Kultur nichts mehr übrig bleibe als "...avancer à reculons".(1) Wie es schien, waren die Zukunftsfelder mit diesem Material zu füllen.

In diesen der Kultur noch nicht allzu bekannten Bereichen stieß man auf Brachfelder, die auf ihre Bearbeitung ebenso gewartet zu haben schienen wie auf die Reflexion über die durch Kultur geschaffenen Formen und auf die Analyse der Legitimität ihres Funktionierens in der Kultur. Die kritische und rational durchgeführte Bearbeitung dieser Kulturzonen wurde von der zweiten Welle der Avantgarde als eigene Bestimmung verstanden, die Ergebnisse dieser Analyse aber als eigene Innovationen.

Mit Hilfe eines rationalen Vorgehens kamen die Vorkämpfer der westlichen Welt auf die Spuren der in ihrer eigenen Kultur geschaffenen Kategorien und Formen, die im Vergleich zu anderen, der Wissenschaft schon längst bekannten Begriffen und Aussagen weder definiert noch expliziert worden waren. Woher sollte man denn wissen, dass sie wahr sind? Woher sollte man wissen, dass sie überhaupt zu Recht in unseren Denkräumen hausen?

Der Glaube, den die Zweite von der Ersten Avantgarde geerbt hatte(2), einerseits und die Haltung eines allgemeinen Zweifels andererseits führten zu einem (Un-) Wissen bzw. zum Wissen vom eigenen Unwissen. Nur so hoffte man die epistemologischen Hindernisse zu bewältigen und von den in unseren Wissenssystemen eingepflanzten Vorurteilen und unbegründeten Behauptungen loszukommen. Trotz der Ausdrucksform, war diese Vorgehensweise in allen ihren Äußerungen äußerst rational.

Wie uns seit Schulzeiten mit Bezug auf unsere Denktradition beigebracht worden ist, müssen die Dinge, um wahr zu sein, entweder durch eine rationale Analyse bewiesen oder zumindest explizit erklärt werden. Sonst wird in Zweifel gezogen, ob diese Formen nicht durch Zufall entstanden sind, ob sie nach Spielregeln am Leben erhalten werden, die in der Kultur akzeptiert bzw. legitim sind, und ob es überhaupt gerechtfertigt ist zu sagen, dass wir etwas von diesen Formen wissen.

Das Problem wurde in der Kultur des 20. Jahrhunderts entdeckt und konsequent zur Diskussion gestellt. Die epistemologische Formel des Sokrates "Ich weiß, dass ich nichts weiß" verlor dadurch den Charakter der Allgemeingültigkeit: Da dem neuen Zeitalter sein Problemkreis bewusst war, stellte er bestimmte Fragen, mit denen ein "bestimmtes Unwissen" verknüpft wurde. Der Leitfaden des neuen Zeitalters lautete: "Meinst (weißt) Du? Ich weiß es nicht. "(3)

Um die Grauzone des Unwissens zu verlassen, fragte man zuerst danach, was einen Rest von Wissen garantiert; man fragte nach den Speicherplätzen (und -formen) unseres Wissens (oder Glaubens):

Diese Fragen wurden gestellt, allerdings ohne eindeutige Antworten darauf geben zu können.

Hinsichtlich der Antwort auf eine andere Frage bestand jedoch kein Zweifel: Sowohl das Wissen als auch seine möglichen Speicherungsformen haben eine Existenzform, die uns in denselben Lebensräumen auf Schritt und Tritt begleitet. Und zwar sind sie

zu suchen (und dort auch zu finden). Die Existenzformen der Kultur - diverse durch Kultur geschaffene Innenräume -- sind aber nicht als sich selbst genügende Entitäten zu betrachten; vielmehr sind sie mit Hilfe anderer Entitäten zu erklären (weil sie dadurch auch am Leben erhalten werden): Schon beim ersten Versuch, sich dem Problem anzunähern, kann man feststellen, dass Sprache und Raum der Vergänglichkeit der Zeit ausgesetzt sind, dass Zeit und Raum als Phänomene durch Sprache beschrieben und "behauptet" (im Grenzfall: definiert) werden, dass die Sprache durch Zeit und Raum strukturiert wird, dass wir in Sprach- und Zeiträumen leben usw.

Woher sollten wir aber so sicher sein, dass diese aufeinander verweisenden konventionellen Kulturphänomene nicht bloß ausgedacht sind, um das Sein bzw. die Existenz auf einer Illusion zu begründen?

E. "..Wir finden doch immer was, um uns einzureden, dass wir existieren."(4)

Auf der Suche nach einer plausiblen Antwort versucht die Avantgarde, wenn auch nur imaginär, die Entwicklung unserer kulturellen Strukturen sozusagen rückgängig zu machen und die Begriffe, welche die Kulturformen beschreiben, neu zu definieren, und zwar in dem semantischen Kontext, in dem die Begriffe entstanden sind (oder von dem man zumindest glaubt, dass sie darin entstanden sind). In erster Linie geht es um den Begriff des Raumes, der im oben erwähnten Kontext vieldeutig ist: Er hat zeitliche, kognitive, verbale und axiologische Dimensionen.

Das Vorgehen bei der Konstruktion des Begriffes "Raum" bzw. der in der Kultur bleibenden Vorstellungen vom "Raum" bestand im Wesentlichen aus drei Schritten, die gleichzeitig aus der Perspektive der zeitlichen, räumlichen und sprachlichen Bezeichnung betrachtet wurden:

1. Gemäß der europäischen Denktradition wurden die Raummodelle mit Hilfe ihrer geometrischen Äquivalente singularisiert.

1.1. Das Raummodell wurde zuerst durch eine Umrisslinie von der Umgebung "abgeschnitten": Dadurch gewann man den Raum als Gegenstand und konnte ihn als solchen definieren.
Da die Umrissbegrenzung seit den Anfängen der Wissenschaft der Begrenztheit eines Begriffes entsprach, galt die Geometrie als wesentlichste Denkhilfe bei der Formulierung der Ideen.
Das Wissen entsprach dabei dem Sehen, und zwar auf jene Weise, die im alten Griechenland üblich war: das Unsichtbare wurde sichtbar, sozusagen mit den Augen tastbar, d.h., sofern dies gelang - sonst blieb der Raum selbst ungreifbar.

1.2. Als nicht weiter rückführbare Elemente dienten für diese Operation

2. Danach wurde das gewonnene Raummodell bzw. der "Begriff" des Raumes universalisiert und auf den gesamten Kosmos erweitert sowie

3. in eine durchaus "normale" Situation versetzt.

Da alle Raumvarianten eigentlich nur unkonkrete, reine Raumabstraktionen sind, war die weitere Strategie der Avantgarde mit einer Bedingung für das Verstehen des Raumes verbunden, und zwar damit, dass in diesem Raum Bewegungen und Handlungen vollzogen werden, bzw. (was dem sehr ähnlich erscheinen mag) damit, dass die formalen Invarianten des Raumes direkt in die "realen" Umstände "eingebettet" werden, um sie mit der Welt einigermaßen zu harmonisieren: Die "Leere" des Raumes, insbesondere seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, ließ sich für die Avantgarde ohne Angst bewohnen, verbrauchen bzw. ausspielen. Dem Raum wurde eine darin mehr oder weniger "glaubwürdig" durchgespielte Situation zugeschrieben.

Dieses Raumkonzept erfordert ein Subjekt, das den Raum sieht, denkt und sich in seinem leeren, fast unbeschreibbaren Inneren bewegt. Keine Raumvariante dieser Zeit lässt sich ohne internes Subjekt beschreiben oder verstehen, welches verlangt, dass es von jemandem betrachtet wird, der ihm indexikalische Ausdrücke wie "daneben", "vorne", "zwischen" (5) usw. zuteilt. Der Bezug auf das Subjekt verleiht allen Raumbeschreibungen einen etwas relativen Charakter, und von einem einfachen isotropischen geometrischen Raum unterscheidet sich dieser Raum durch seine Anisotropie.

Alle von der Avantgarde vorgeschlagenen Räume werden in Bezug auf ein Ego dargestellt: Der Mensch lebt diesen Raum egozentrisch aus, die Funktionalität der semantischen Regeln für den Raum wird mit Bezug auf ihn überprüft, das heißt, mit Bezug darauf, wie er den Raum kodiert und dekodiert - bzw. wer den Raum wie und wo sieht sowie wann er weiß, dass er ihn sieht. Nicht zuletzt geht es um einen Spielraum an Möglichkeiten für die eine oder andere Raumvariante sowie darum, wo ihre Grenzen liegen.

Die Einverleibung der formalen, abstrakten und universalisierten Raumvarianten hat die Illusion einer Situation zur Folge, der zufolge sie wie ein Kampf mit der Weltkonstruktion erscheint.

Die "Helden" dieses Kampfes sind Vagabunden, Fremde, Einwohner, Besucher usw., sie sind typisiert und verallgemeinert - ohne eine Besonderheit aufzuweisen, eine Ahnung von ihrem Alter zu haben oder sich auf ihre Herkunft zu besinnen, sie sind von jedem historischen Kontext abgeschnitten und haben weder soziale noch emotionale Bindungen. Kurz gesagt, die Welt wird zum Ort der totalen Einsamkeit, die unter anderem auch durch die verbalen Mittel noch mehr unterstrichen wird.

Zur Sichtbarkeit und Bewohnbarkeit des visuellen Raummodells fügt das 20. Jahrhundert seine sprachliche "Hörbarkeit" hinzu. Dadurch "ereignet sich" der Raum unbeschadet seiner visuellen Kargheit auch in der Sprache: Er wird dort aufgezeichnet, und die Sprache verleiht ihm letztlich seine Wesenszüge. Zu diesem Zweck hebt sich die Sprache vom alltäglichen Gebrauch ab, so wie das bei den ersten definitorischen Präzisierungen aus Mangel an Terminologie und Begriffen im alten Griechenland der Fall war. Die Sätze sind sehr kurz, von der Konversation getrennt und einsam. Man kann den Endpunkt des Satzes, der "alles" bedeutet, fast in den Fingerspitzen spüren.

Die Avantgardisten spielten ihr Unwissen stilvoll und bis ins letzte Detail genau aus. Da ich mich aber von den Sprachfeinheiten der Avantgarde nicht ablenken lassen will, kehre ich zu den in dieser Zeit ausgearbeiteten Raummodellen zurück.

Typologisch kann man in der Avantgarde-Kultur mindestens drei Raumvarianten unterscheiden:

Die ersten zwei sind als eine Art experimentum crucis der zwei in der Kultur längst bekannten Raumvarianten zu bewerten, deren Möglichkeiten und deren Legitimität noch zu überprüfen sind. Die dritte Variante ist ihrerseits als Möglichkeit des Erfassens des sonst Ungreifbaren und Unsehbaren, eigentlich nicht existierenden Raumes, als Semiotisierung des Unsehbaren zu verstehen.

Alle drei Arten von Raum lassen sich gleichzeitig aus folgenden Perspektiven betrachten:

Zwischen dem Raum und der Zeit wird immer eine gewisse Verbindung hergestellt: So ist der offene Raum mit der "geschlossenen" Zeit verbunden (die man "sehen" kann), der geschlossene Raum - mit einer "offenen" Zeit (die man "hören" kann). (6)

Der Zwischen-Raum bzw. die Illusion des Raumes verlangt einen Augenblick, der eine gewisse Atemporalität mit sich bringt.

Alle drei Formen von Raum zeigen sowohl ihre Konstruiertheit als auch ihre Dekonstruierbarkeit auf: Schon am Anfang der Aktionen oder Aufführungen werden wir mit der Möglichkeit des Andersseins bekannt gemacht. Ein um ein Zentrum gebildeter Raum kann im Prinzip verlassen, der geschlossene Raum - offenbar der Zwischen-Raum - ausgerichtet werden. In allen Fällen gibt es ein eindeutiges Ende. Die in dieser Möglichkeit enthaltene Provokation realisiert sich aber nie(7), und das aus einem einfachen Grund: Bei einer Änderung der Grenzen ergäbe sich eine ganz andere Raumeinteilung bzw. ein komplexeres Raumsystem, als gerade geschildert wurde. Diese der Avantgarde bekannten Räume sind und bleiben, wie schon gesagt, Rauminvarianten, die in der Welt nicht eingerichtet sind.

 

I. Offener Raum. Locus.

Irgendwo, an einem vermutlich ewig wachsenden Baum, umgeben von auratischem, zeitlosem Warten auf Godot, wird von S. Beckett der Raum "sans limites" konstruiert. Der Raum wird vom kleinsten Raumelement - vom Ortszeichen "Punkt" bedingt und beherrscht:(8) Die Indices "hier" und "jetzt" bedeuten dabei "dort" und "dann" - nämlich wo und wann immer der Baum wächst.(9) Und das heißt eben: immer. Immer wird hier, wie wir weiter sehen werden, von einem diese Welt "umarmenden" Zeitzyklus garantiert.

Man kann versuchen, diese Ortsbezogenheit zu vermeiden, doch erweist sich dies bald als unmögliche Aktion.(10) Der Raum-Punkt(11) ist keine Grenze, er lässt sich nicht verlassen: Man kann nur etwas weiter von ihm oder etwas näher an ihm sein.

In Annäherung an die Logik können wir vermuten, dass jede Ordnung, auch die des Raumes, als System um einen Punkt existieren muss; dies wird auch durch die visuelle und taktile Erfahrung des Raumes als etwas Materielles und Begrenztes exemplifiziert. Also muss es einen Anfang und ein Ende geben, die wir als "Grenze" bezeichnen. Verlässt man sich auf die Erfahrung, so weiß man, dass alle uns bis jetzt bekannten Grenzen zwei Seiten haben, von denen jede in eine andere Richtung weist. Die innere Grenze gehört dem Phänomen, die Äußere der Außenwelt, die ihr den Gegenstand zu bezeichnen hilft. Was nützen uns diese Überlegungen aber im Fall des offenen Raumes?

Außerhalb der vorgestellten Grenze des offenen und kosmisierten Raumes soll eine andere Organisation des Seins beginnen. Sobald im Rahmen des westlichen Kulturparadigmas die Rede auf das Sein kommt, erscheint auf der Gedankenbühne die Kategorie der Zeit. Auch in diesem Fall gilt: Die Zeit objektiviert sich in räumlicher Zeichenform oder wird im Phänomen des Raumes als symmetrischer Tages-Zyklus konzeptualisiert (wodurch die Metapher: "die Zeit fließt, vergeht usw." in diesem Kontext jede Bedeutung verliert). Als Zyklus dient die Zeit als "sichtbare" Grenze des Seins(12); diese Grenze bestimmt den Rhythmus des in diesem Zeit-Raum Lebenden: Die Vagabunden befinden sich nicht so sehr irgendwo um einen Baum, sondern im Innenraum des Tages.(13) (Zeichnung 1.a)

Als Tages-Wesen(14) sind die anonymen Wesen dem Tag überlassen, vom Tag definiert: Sie besitzen keine Identität, als hier und jetzt Existierende sind sie von sich selbst - von ihrer Vergangenheit und von den Erinnerungen an die Vergangenheit - getrennt.(15)

Die Hoffnung, den Sinn des Lebens zu begreifen, wurde auf das Ende verlegt; mit diesem radikalen Aufschub wird für das Leben eine Vergangenheitsform geschaffen, auf der die Gedächtniskultur aufgebaut werden kann. Diese Hoffnung ist jedoch nicht in Erfüllung gegangen.

Ein (d.h. irgendein) Tag garantiert - in der zyklischen Zeitvorstellung - für das Ende des Tages, den Abend, denselben räumlich zugeordneten Punkt, wo sein Anfang war. Die ständige Wiederkehr lässt die Welt immer am Anfang sein: Sie ändert sich nicht, dort passiert nichts, es gibt keine Geschichte, "keiner kommt, keiner geht, es ist schrecklich".(16) In dieser räumlichen Position ist Gestern hinter uns und repräsentiert die ganze Vergangenheit: hinter dieser Wand ist alles Erlebte und Erfahrene verschwunden.

Strukturell gesehen bringt jeder Tag dasselbe wie der Tag zuvor.(17)

Zwischen den Tagen soll keine echte inhaltliche Kontinuität bestehen: das garantiert die Nacht, welche die Tage beendet, sie verbindet und ihnen als Pause immanent ist.(18) Die Nacht bildet, räumlich ausgedrückt, den Bruch zwischen den Tagen - einen Ausgang aus dem Tag, der zum nächsten Tag führt. Demzufolge gehört nur die vergangene Nacht - die Grenze, die den Tag geschaffen hat - dem heutigen Tag.(19)(Zeichnung 1c)

1. Zeichnung

Der singuläre Tag-Raum lässt sich durch die Bewegung zur Tagesgrenze -zum Abend bzw. zum Ort, wo Abend ist - verstehen, dorthin, wo ein Ausgang (den man auch als eine Art Ausweg betrachten kann) vor uns liegt. Die Bewegung ist hier eher metaphorisch zu verstehen: Die Tagesbewohner bewegen sich nicht; sie warten auf die Annäherung des Abends.(20)(Zeichnung 1b )

Die Un-Beweglichkeit der verräumlichten Zeit ist gefüllt mit der Un-Handlung - mit einem passiven Warten. Das Warten kann auch als Sich-Verflüchtigen bewertet werden. Jeder Tag ist ein neuer Versuch des Wartens, ein neuer Zyklus des Sehnens, der mit einem neuen Warten anfängt, das zu einer Belohnung - zu einem absoluten Ende des Wartens führen könnte.

Die kognitive Dominanz gebührt in diesem Raum der Sagittale. Semiotisch ausgeprägt ist dabei analog zur Achse "Vor/Hinter uns" die Achse "Die Sonne geht auf/Die Sonne geht unter". Die sprachliche Darstellung des Raumes wird durch einen Gegensatz erzeugt, bei dem die axiologische Dominanz eindeutig dem "Vor" gehört. Die Betrachtung des Raumes trägt einen asymmetrischen Charakter: Man sieht und man beschreibt fast nichts "hinter", nichts "unter" usw.(21)

 

II. Geschlossener Raum.

Ist der offene Raum vorgefunden(22), so wird der geschlossene Raum zielbewusst geschaffen. Ist der offene Raum um ein Hier und Jetzt organisiert, so wird der geschlossene Raum irgendwo und irgendwann erzeugt, d.h., er wird als eine atemporale Struktur aufgebaut, wie dies z.B. Manuel de Pedrolo in seinem Stück "Cruma" tut.(23)

Pedrolo beginnt die Raumabstraktion, so wie es in der Avantgarde stets der Fall ist, ebenfalls mit geometrischen Mitteln: Im Unterschied zu Samuel Beckett gibt es bei ihm jedoch keine Punkte, sondern nur Linien.(24)

Die Struktur des Raumes hängt von unserer Wahrnehmung ab: Etwas zu betrachten, heißt, das amorphe und ungegliederte Sehfeld so zu organisieren, dass in ihm ein Raumsegment zu existieren beginnt. Bei dieser Operation sind in diesem Fall zwei Aspekte des Visualisierens zu unterscheiden:

  1. Die Grenzlinie, mit deren Hilfe der Gegenstand aus der Welt "ausgeschnitten" wird. Jede gezeichnete Umrisslinie bestimmt die Art, wie etwas Unbestimmtes für uns zu einem in einem Raum ausgedehnten Gegenstand wird. Dies gilt auch für den Raum selbst, wenn er mit einer Umrisslinie vergegenständlicht wird.

  2. Die Farbe, die den Gegenstand in den Vordergrund rückt.

Die Begrenzung, welche die räumliche Ausbreitung des Gegenstandes bestimmt, schafft topologisch die Opposition "das Innere/das Äußere".

Das Innere als Linie, welche (z.B. in Form von Wänden) die Ausbreitung der Körpergrenzen markiert, weckt bei einem Betrachter des Inneren die Illusion, ein Schutzmittel (oder einen Schutzmantel) gefunden zu haben, das (bzw. der) viel sicherer ist als die eigene Haut. Auf der Welt existiert auf diese Weise eine unendliche Zahl von derartigen Artefakten: Dazu gehören etwa alle Zimmer, Schlösser, Höfe, Schubladen, letztendlich alle Denkwelten, in denen wir "leben" und "überleben" können. Sind diese Metaphern vielleicht keine Täuschungen?

Manuel de Pedrolo reflektiert und problematisiert die Frage, was es heißt, "drinnen zu sein", nicht zuletzt in Anbetracht dessen, dass der Raum nur von außen definiert werden kann.(25) Wenn es kein axiologisch bestimmtes "Hier" und "Jetzt" gibt, kann man nicht davor sicher sein, dass gerade hier (dort, wo ich bin) auch Drinnen ist. Hier und Jetzt ist in diesem Fall nicht von Dort zu unterscheiden: Der Besucher und der Bewohner streiten darüber, wer der Andere, der von Draußen ist.

In diesem Werk wird die Welt unter der Maske einer einfachen leeren(26), weiß bemalten Wohnung zum ganzen Universum globalisiert: Dadurch nimmt sie die Züge einer Schaubühne an, auf der das Leben selbst in einem bewohnbaren Raum aufgeführt werden kann. Das schafft die Scheinwelt des gesicherten Lebensraumes, dessen Zentrum bei dieser Raum-Variante das Wohnzimmer bildet; wörtlich aus dem Katalanischen übersetzt bedeutet "sala d’estar" buchstäblich "Lebens- oder Seinszimmer".(27) Das Problem wird noch weiter zugespitzt: "Es gibt keinen Ort, der das Wohnzimmer sein könnte."(28)

Das gilt nicht nur hier, in diesem Wohnraum; vielmehr gibt es überhaupt keinen Raum, wo man (dauernd) sein könnte: "Wir sind nirgendwo."(29)

Der Aufenthalt im Inneren des mit den geometrischen Mitteln definierten Lebensraums schafft nur eine Illusion des Seins.

Außerhalb der Wohnungs-Grenzen gibt es gemäß Pedrolos Konzeption entweder nichts oder es herrscht nur der absolute Gegensatz der Lebenswelt - dort befindet sich die Welt der Verstorbenen; in dieser Totenwelt passiert nichts und existiert im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Etwas passiert nur auf der beide Welten verbindenden Grenze.(30)

Hier besteht nur ein Ausweg: der durch einen Gang führende Weg zur Tür des Lebensendes, die bzw. das vor uns ist. (Z.2)

2. Zeichnung

Da das Äußere mit dem Inneren verbunden ist (jede Linie hat zwei Seiten), wird es sich in irgendeiner Form im Inneren zeigen, z.B. als eine Stimme, als von Anderen bestimmte Benimm- oder Spielregeln usw. Man kann im Prinzip ungestört die Grenzen überschreiten, hin und zurück gehen, die Scheinwelt sozialer Aktivitäten schaffen, die an einer Stelle nicht passieren.(31)

In diesem Raum gehört die kognitive Dominanz der Horizontale (die Wände werden ständig gemessen, wenn auch ergebnislos, da es weder einen Bezugspunkt noch ein mehr oder weniger objektives Maß dafür gibt).

Semiotisch ausgeprägt ist die Achse "Nach vorne, hin und zurück". Die Betrachtung des Raumes ist asymmetrisch, jedoch ist diese Asymmetrie nicht so ausgeprägt, wie es bei der ersten Raum-Variante war.

 

III. Der Zwischen-Raum. Die Illusion des Raumes.

Tout sculpture qui part de l’espace
comme existant est fausse,
IL N’Y A QUE
L’ILLUSION
DE L’ESPACE.(32)

Verglichen mit beiden zuvor dargelegten Raummodellen basiert das dritte Raummodell oder eher die dritte Raumvorstellung auf keiner in der Kultur vorgefundenen Raumvariante; vielmehr sondern ging man von einem Axiom aus, nämlich: Der Raum existiert nicht(33), es gibt nur die Illusion des Raumes, die - wie jede Illusion -zum Augenblick ihres Entstehens gehört.

Da die Augenblicke diskrete, voneinander getrennte Einheiten sind, kann man die Raumillusion auf Dauer nicht bewahren. Der Raum wird auf diese Weise immer eine relative Größe bleiben sowie immer andere, von der Situation seines Entstehens abhängige Gesichtszüge zeigen.

Wie bekommt man überhaupt das Nicht-Existente zu Gesicht, wie greift man bzw. semiotisiert man das Unsichtbare? Durch Leere.

Laut Giacometti wird die Leere nur in dem Fall sichtbar, wenn sie von zwei Punkten angegeben bzw. definiert wird, die - was noch wichtiger ist -von jemandem gesehen werden. Der Raum entsteht als eine Art Nebenprodukt dieses Sehprozesses: Die Raumillusion wird in erster Linie von der Distanz zwischen den beiden Punkten geschaffen.(34)

Im Laufe seines kreativen Lebens hat Giacometti drei Subvarianten dieser Raum-Idee ausgearbeitet:

Die erste Variante war ziemlich einfach, zumindest was ihre Konstruktion betrifft: Die Leere bzw. der Raum wird sichtbar, wenn man ihn als virtuelle Linie zwischen den zwei Endpunkten dieser Linie sieht.(35)

Die zweiteVariante war schon etwas komplexer: Der Raum entsteht hier zwischen einem Sehenden und seinem Objekt (Zeichnung 3a) als "perzeptive Erweiterung" des gesehenen Objektes. Der Sehende sieht, spürt sogar die drückend "schwere" Ausdehnung zwischen ihm und seinem Objekt, die den Zugang zum Objekt beinahe unmöglich macht. Beide den Raum definierenden Punkte scheinen in diesem Fall nicht von der Stelle verschiebbar zu sein.(36)

3a

Giacomettis Vorgehen scheint wie folgt zu sein: Da es im Objekt zu viel gibt, werden wichtige, ihn charakterisierende Merkmale selektiert, er wird durch einfache Linien aus der Umgebung ausgeschnitten und vereinsamt. Da jede Sache laut Giacometti nur einen Zugang hat, der vor uns bleibt, wird das Objekt immer vor uns gezeigt. Das Wissen vom Objekt wird dabei in Klammern gesetzt. Der Künstler spielt sein Unwissen vor: Er scheint z.B. vergessen zu haben, dass das Objekt groß oder rund ist. Im Augenblick weiß man nur das, was und wie man sieht. Das Sichtbare, seine Größe und Form wird von der Entfernung des Sehenden zu seinem Objekt bedingt.

Dabei übersieht oder verschweigt Giacometti unter anderem auch den räumlichen Kontext, in dem der Sehakt stattfindet. "Wo" bedeutet für ihn beim Sehakt eine nicht andauernde Zeit und keinen Raum, z.B., in einem Café oder auf einer Straße, die keine Rolle für die Entstehung der Raumillusion spielen.

Die dritteVariante ist die komplexeste von allen drei Raumvarianten, indem sie die Betrachtung der Bewegung schildert. Als Gegensatz zu dem von seinem Freund Paul Sartre Gesagten, dass die Bewegung eines Menschen durch ihr Ziel ablesbar sei, zeigt Giacometti, dass das Ziel der Bewegung sowie ihr Ausgangspunkt ganz formell sein können.

3b

Die Bewegung als Objekt des Sehaktes findet in einem geschlossenen Raum statt, der mit Hilfe einer umgrenzenden Linie als Gegenstand aus der Umwelt "ausgeschnitten" ist; die Bewegung vollzieht sich zwischen zwei bestimmten Punkten, von denen eine Bewegungslinie angegeben wird. Den Sehakt der Bewegung analog zur zweiten Raumvariante garantieren wieder zwei Punkte: den einen bildet der Sehende und den anderen - das Objekt "Bewegung".(37)

Semiotisch dominiert hier die Sagittale, besonders "Vor uns", aber im Fall der Bewegung kann die Achse in den Vordergrund rücken, die den Gehenden, den Kriechenden usw. am Werk zeigen.

Alle drei Raummodelle sind singularisierte Raummodelle, die für das ganze Universum repräsentativ sind. Sie zeigen die Angstlosigkeit der Avantgarde-Künstler vor dem leeren Raum: Das erste Modell zeigt nur einen Punkt im Innenraum, das zweite ist weiß, fast ohne Details, das dritte begnügt sich nur mit zwei Punkten und einer Linie. Die Modelle lassen "Vor" als ein Art Bildschirm dominieren, der keine Dreidimensionalität kennt: Im ersten Modell befindet sich der Abend vor uns als Ausgang aus dem heutigen Tag, der zum nächsten Tag oder zur Ewigkeit führt, im zweiten die Tür, die zur Außenwelt oder zu der der Verstorbenen führt, im dritten der Zugang zum Objekt und damit auch der Zwischenraum.

In allen drei Raummodellen gewinnt das Sichtbare den Vorrang vor dem Gewussten: Es wird vom Gewussten getrennt, das ihm seinerseits auf eigenartige Art wieder hinzugefügt wird: Und zwar wird das Gewusste zum Sichtbaren hinzu-gesehen z.B. als verlorene Weltgeschichte zu einem separaten Tag, als nicht sichtbare Außenwelt, als Körper zum Körperteil, als hinterer Teil des Kopfes, wenn man nur das Gesicht sieht usw. Damit wird die Repräsentativität des Details unterstrichen.

Das Sehen wird durch das Un-Sehen komplementär ergänzt.

In allen Raumvarianten wird etwas bzw. eine Raummöglichkeit "übersehen": Im ersten Modell "sieht" man den Weg nicht, im zweiten den Punkt, im dritten - obwohl dieses Modell als eine Art Verbindung der ersten zwei angesehen werden kann(38) - sieht man den Raum um den Raum nicht.

Alle drei Varianten werden uns so vorgespielt, dass wir uns als Zuschauer in diesem Spiel fühlen müssen, die auf der Bühne nicht zugelassen, nicht einmal willkommen sind. Diese Raummodelle werden vor unseren Augen thematisiert, und das Thema "Raum" wird ausgespielt.

Konsequenzen der Reproduktion dieser Raummodelle.

Die Avantgardisten haben erfolgreich versucht, in der Kultur geschaffene allgemeine topologische Strukturen aufzuzeigen und sie zu analysieren. Vom Alltag sind uns meistens nur die oben erwähnten topologischen Unterstrukturen bekannt. Durch einfache algorithmische Prozeduren erhielt man eine unendliche Zahl von räumlichen Extensionen, welche die Geburtsmale der Hauptstrukturen aufweisen.

Wurde die Frage nach dem Sinn des Raumes in den Denkräumen der Avantgarde als existenzielle Frage gestellt, so wird die gesamte Problemstellung (gar nicht zu reden von den Details) heutzutage im Großen und Ganzen trivialisiert.

Der erste Modell. Der Tag bildet heutzutage die äußere Organisationsform des Zusammenseins. Dieses erfolgt nach bestimmten, fixierten Regeln. Von Tag zu Tag werden diese Regeln verwirklicht, sie sind für das Phänomen der Alltäglichkeit ursächlich verantwortlich. Der (All-)Tag ist um das Hier meines Körpers und das Jetzt meiner Gegenwart geordnet. Die Wiederkehr des Alltäglichen - eines übersehbaren Raumes und einer voraussagbaren Zeit - impliziert keinen eigentlichen Wandel. Tagsüber passiert das und das, nachtsüber - nichts (die Nacht wird einfach übersprungen). Der Un-Wandel bekommt in unserer Welt einen hohen axiologischen Wert: Zu unseren besten Qualitäten zählen "jung sein (bleiben)" und "einen unbeeinflussbaren und unveränderlichen Charakter haben".

Die Zeit stellen wir uns als eine Art Perlenkette von Tagen vor, was in sprachlichen Wendungen wie "heute in einer Woche", "Was bringt uns der kommende Tag?", "das kommt auf uns Morgen zu", "bis zu dem Tag" leicht zu bemerken ist.

Die soziale Konstruktion der Vergangenheit ist von dieser Denkweise genauso wenig geschützt. Es heißt etwa "an diesem Tag vor x Jahren" (z.B., wenn es um den schon etwas unreal gewordenen 11. September geht).

Für die Räume "hinter uns" verlieren wir die Sensibilität. Um 1900 scheint für uns schon vor einer Ewigkeit zu sein, unsere Freundinnen haben wir eine Ewigkeit nicht gesehen und auf unseren 15 Minuten zu spät kommenden Freund meinen wir ebenfalls eine Ewigkeit lang gewartet zu haben. Alles, was in die Vergangenheit geraten ist, scheint uns Schnee von Gestern zu sein.

Der zweite Modell hat in unseren Sprachräumen Spuren hinsichtlich des Befindens, des Seins hinterlassen.(39)

Mit einem Mobiltelefon in der Hand reden wir Zeug wie das folgende: "Ich fahre gerade im Bus. In zwei Minuten bin ich zu Hause." Symptomatisch ist, dass die Alltagssprache auf den Gegenwarts-Modus ausgerichtet ist. Wir benutzen die Sprache in Übereinstimmung mit den atemporalen Normen für wissenschaftliche Gesetze.

Beide Modelle beeinflussten das Aufblühen der Leidenschaft für das Ende in der modernen Kultur. Im Alltag "gewinnen" wir (sofern man in diesem Fall überhaupt von Gewinn sprechen kann) durch Surrogate des Endes nur kleine, abgeschlossene Lebensabschnitte, die uns beim Versuch, dem Leben einen Sinn zu geben, leider allzu wenig (wenn überhaupt) weiterhelfen können. Mit so einem Ende - der radikalen Weiter-Un-Entwickelbarkeitsform - gelingt es uns nicht, eine Vergangenheitsform zu gewinnen, auf der eine Gedächtniskultur aufgebaut werden kann.

Am häufigsten werden dafür Formeln der folgenden Art verwendet:

"Hör auf!", "Ich mache Schluss", "Wie oft muss ich Dir noch sagen, Du sollst endlich damit aufhören?", "Zwischen uns gibt es nichts mehr. Aus!", "Es ist schon vorbei", "Das habe ich schon hinter mich gebracht".

Das Leben in den scheinbaren Lebensräumen geht weiter. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

© Daina Teters (Kulturakademie Lettland, Riga)


ANMERKUNGEN

(1) Aus Bertoluccis Film "Le dernier Tango à Paris".

(2) Der in der Ersten und Zweiten Avantgarde zu beobachtende Glaube weist erstaunliche typologische Ähnlichkeit mit der einzigen allein stehenden Definition im Neuen Testament auf, wo der Glaube wie folgt definiert wird: "Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht" (Hebr. XI, 1)

(3) W. Tu crois? E. Je ne sais pas. (1.,196.)Der Satz No ho sé (Ich weiß es nicht) wird im Stück von M.de Pedrolo 36 Mal als Leitmotiv benutzt (übersetzt von D.T.).
Bevor ich zur Analyse des Raumes komme, möchte ich darauf hinweisen, dass ich die von mir ausgewählten Beispiele absichtlich aus dem romanischen Sprachgut genommen habe: Wegen der Sensibilität dieser Sprachen für Raum- und Zeitaussagen war die Avantgardeliteratur und Kunst nämlich insbesondere darin verwurzelt. Im Folgenden werde ich mich auf die Ideen von S. Beckett, M. de Pedrolo und A. Giacometti konzentrieren.

(4) E."..On trouve toujours quelque chose pour nous donner l’impression d’exister." (1., 170./171.)

(5) Z.B., Derrière l’arbre (1.,182.) (Hinter dem Baum) (1.,183.), Darrera un "portier" (Hinter einer "Portiere " (3.,23.) usw. (Übersetzt von D.T.)

(6) W.: "Die Zeit ist stehen geblieben" (1.,97.) (W.: "Le temps s’est arrêté" (1.,96.)) (1. RM)
Bew.: "Und wir werden sehen, wie lange es dauern wird", R.: "I ja veurem el temps que durarà" (3.,35.) (2.RM) (Übersetzt von D.T.)

(7) "E. Komm, wir gehen! W. Wir können nicht"(1.,39.), "E. Allons-nous-en. W. On ne peut pas"(1., 38.)Bes.: Wir können das Fenster öffnen? Bew.:Ja Bes.: Können wir es wirklich öffnen? Bew.: Ja Bes.: Bist du dir sicher? Hast du es früher schon einmal versucht? Bew.: Nein, das nicht. Ich habe aber immer gewusst, dass es möglich ist." (Übersetzt von D.T.)
Bes.: Wir können das Fenster öffnen?Bew.:Ja Bes.: Können wir es wirklich öffnen? Bew.: Ja Bes.: Bist du dir sicher? Hast du es früher schon einmal versucht? Bew.: Nein, das nicht. Ich habe aber immer gewusst, dass es möglich ist.
R. "Podem obrir la finestra. V. Sí? De debò la podem obrir? R. Sí. V. N’estàs segur? Ho has provat alguna vegada? R. No, això no. Però sempre he sabut que la podria obrir. (3., 26.).
(Übersetzt von D.T.)

(8) Landstraße. Ein Baum. Abend.(1., 27.)Route à la campagne, avec arbre. (1.,26.)

(9) Genau genommen verlangt der Ort (locus) nicht unbedingt eine geographische Lokalisation; er kann auch als organisatorische Struktur verstanden werden, die eine räumliche Ausgrenzung für die sozialen Aktivitäten markiert. In diesem Fall bilden die Wartenden selbst eine topologische Strukturbegrenzung um sich. Wie in der Wüste werden ihre Bewegungen in allen vom Zentrum (Baum) ausgehenden Richtungen als gleichartig beschrieben.

(10) E.:" Gehen wir! Sie gehen nicht von der Stelle"(1.,233.)"E. Allons-y! Ils ne bougent pas."(1., 232.),"E...lass uns weit weggehen von hier! W. Wir können nicht"(1., 229.)E.: "Allons-nous loin d’ici" W.: "On ne peut pas."(1.,228.),)

(11) Schon für Euklid war es klar, dass der Punkt für Raumbeschreibungen ungenügend ist: Er hat keine räumliche Ausdehnung. Dafür braucht man eine Linie (Gerade) oder einen Zirkel.

(12) "P. ..Die Blinden haben keinen Zeitsinn. .. Die Zeichen der Zeit sehen sie auch nicht."(1., 213.) "Les aveugles n’ont pas la notion du temps, les choses du temps il ne les voient non plus"(1., 212.)

(13) Vgl. (Ce)Jour d’hui = der Tag, in dem wir sind, perdre le jour = sterben, d’un jour à l’autre = von Tag zu Tag, Tu te rapelles le jour oú= Erinnerst Du Dich an dem Tag, an (in) dem...

(14) Die Tages-Wesen (epameros) findet man schon beim Pindar.

(15) Sie sind Kreaturen, die kein Alter, sogar keine Errinnerung an ihr Alter haben (z.B.,1.,74.);" un home d’édat imprecis"(", "ein Mann unbestimmten Alters"(3.,23.) (Übersetzt von D.T.)

(16) E."..Rien, ne se passe, personne ne vient, personne ne s’en va, c’est terrible."(1.,108.)

(17) P. "Un jour. Ça ne vous suffit pas, un jour pareil aux autres il est devenu muet, un jour je suis devenu aveugle, un jour...un jour nous mourrons. Le jour brille un instant, puis c’est la nuit à nouveau. ... En avant."(1., 220.)
P."Eines Tages, genügt Ihnen das nicht? Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag..genügt Ihnen das nicht? ..der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht." (1., 221.)

(18) Auf Indisch heißt Nacht in diesem Sinne "ahani"- der Tag, der die Nacht in sich einschließt.

(19) Von Interesse sollte in diesem Zusammenhang das katalanische Wort "anit" sein, das die Zugehörigkeit zum heutigen Tag aufbewahrt. Auf Katalanisch werden die Ereignisse dieser Nacht mit der Zeitform der nahen Vergangenheit - passat immediat (indefinit) - ausgedrückt, die ausschließlich für die Beschreibung der Ereignisse des jetzigen Tages benutzt werden.

(20) "W. C’est le soir, monsieur, nous sommes arrivés au soir.""Déjà le temps coule tout autrement. Le soleil se couchera, la lune se lèvera et nous partirons d’ici.(1.,190.) ","M. Où allez-vous de ce pas? (1.,218)."
W. Die Zeit verfließt schon ganz anders. Die Sonne geht unter, der Mond geht auf, und wir gehen weg - von hier.(1., 191./193.), W. Wo gehen Sie denn hin? (1., 219.)

(21) Mit einer Ausnahme - hinter dem Baum -, von der schon früher die Rede war.

(22) Alles, was unbeweglich ist - der Baum, der Berg... -, könnte in fortlaufender Aufeinanderreihung einen solchen Raum bilden.

(23) "Die Handlung spielt in irgendeiner Epoche und an irgendeinem Ort der Welt." (Übersetzt von D.T.) "L’acció passa a qualsevol época i lloc del món"(3.,22)

(24) Der Ehrlichkeit halber ist auch hier eine Ausnahme zu erwähnen, die als Spielelement - Surrogat des Punktes - dient: "...außer einem Stuhl im Vorraum", "...außer einem den Stuhl berührenden Aschenbecher auf dem Boden" (Übersetzt von D.T.) "..llevat d’una cadira", "fora d’un cendrier"(3.,23.).

(25) Der Besucher dem Bewohner: "Wir alle sind von draußen" (Übersetzt von D.T.) "Tots som de fora." (3.,27.)

(26) ...Es gibt keine Möbel, keine Dinge... (3.,23.) (Übersetzt von D.T.)

(27) Sala d’estar finden wir erstmals im 17./18. Jahrhundert, vorher war die Aufmerksamkeit auf den Handlungsraum - den großen Saal - gerichtet.

(28) "No hi ha cap indret que sigui una sala d’estar" (3.28.) (Übersetzt von D.T.)

(29) "No estem enlloc"(3.,28.) (Übersetzt von D.T.)

(30) In diesem Kontext wird das Spiel Pedrolos mit der Mehrdeutigkeit des Wortes "passar" etwas klarer: "passar" bedeutet auf Katalanisch sowohl geschehen als auch vorbei-, vorüber-, durchgehen, bzw. -kommen, auf Englisch bedeutet "to pass"- vorbeigehen und sterben.

(31) Bewohner: "..alle, die vorbeigehen, die, die kommen und gehen..,"Resident. ..tothom que passa,.. les que vénen i van.(3.,50.). (Übersetzt von D.T.)

(32) "Jede aus dem Raum auf uns kommende Skulptur ist täuschend, es gibt nur die Illusion des Raumes". (2. 100.)

(33)"Der Raum existiert nicht, man sollte daran glauben, aber er existiert nicht, nein","L’espace n’existe pas, il faut le créer, mais il n’existe pas, non.’" (2.,198.)

(34) Hätte Giacometti die Aufgabe bekommen, den Sinn des Menschen zu definieren, hätte er ungefähr so gesagt: Der Mensch ist ein sehendes und für das Sehen des Anderen existierendes Tier.

(35) Diese Variante wurde im Jahr 1934 als "unsichtbares Objekt" ("L’Objet invisible") ausgearbeitet.

(36) Davon zeugen die vielfachen Aussagen von Giacometti und entsprechend vielfachen Fehlinterpretationen dieser Aussagen, dass er durch die weit von ihm Stehenden und wegen des Zwischenraumes nicht zugänglichen Prostituierten sich bezaubert und und zu ihnen hingezogen fühle.

(37) Der beste Beispiel dafür ist die "Figurine dans une boîte entre deux boîtes qui sont des maisons" aus dem Jahr 1950.

(38) Als Nebenbemerkung: A.. Giacometti hat sogar einen einfachen, den Punkt markierenden Baum aus Gips für die Aufführung von Becketts "En attendant Godot" geschaffen.

(39) "Wo steckst Du?" "Wo bist Du?", "Wo bist Du im Moment? On ets, on trobes?/ Wie bist Du im Moment (zur Zeit)? Com et trobes?"


ZITIERTE LITERATUR

Samuel Beckett "Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot", Frankfurt/M: Suhrkamp, 1971

Alberto Giacometti "Écrits" (présentés par Michel Leiris et Jacques Dupin), Paris: Hermann, 1990

Manuel de Pedrolo "Cruma" (Xavier García (Ed.)), Lleida: Edicions de la Universitat de Lleida, 2001

Die Bibel (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift), München: Pattloch Verlag, 1992


1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht

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For quotation purposes:
Daina Teters (Kulturakademie Lettland, Riga): Innovative Raummodelle der zweiten Avantgarde und die Konsequenzen ihrer Reproduktion. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW:www.inst.at/trans/16Nr/01_2/teters16.htm

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