Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West
Herausgeber | Editor | Éditeur: Han-Soon Yim (Seoul National University)

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Sakontala ... muß man küssen

Indien, das Mittelalter, die Romantik und Richard Wagner

Volker Mertens (Berlin)
[BIO]

   

Der Umgang mit dem Anderen ist zu einem aktuellen, ja modischen Thema geworden. Ich behandle ihn unter zwei Parametern, Exklusion vs. Inklusion sowie Ablehnung vs. Verklärung: der Unterschied zum Fremden kann verstärkt oder minimiert werden, das Andere negativ oder positiv konnotiert sein. Wie es dem heutigen Tag entspricht, geht es um Inklusion und Verklärung.

Indien ist ein Zauberwort. Nicht erst heute, wo kein fernes Reich ein derartiges Prestige besitzt, sondern schon im Mittelalter. Damals war es das Land unermeßlicher Reichtümer, kostbaren Schmucks, edler Stoffe und feiner Gewürze, aber auch das Land der Weisheit und Frömmigkeit, einer heiligen Lebensführung, die das alte Europa oberflächlich und krank aussehen läßt. Diese Vorstellung, die das Mittelalter der Romantik vermacht hat, findet sich zuerst in Wolframs von Eschenbach Parzival.

 

I. Mittelalter

Indien ist im Mittelalter ein entlegenes Wunderreich, Alexander zog dorthin bis zu den Pforten des Paradieses. Andererseits heißt es im Annolied (20,21-23), daß man in Richtung Indien noch deutsch spricht - ein früher Vorklang des "arischen Mythos" am Ende des 18. Jh.s, daß das Deutsche der altindischen Sprache, dem Sanskrit, besonders nahe sei. Das Land ist voll von Schätzen, die Menschen sind sensibel und höfisch wie die Königstochter von India im Herzog Ernst oder die vom Greifen entführte Prinzessin in der Kudrun, die den so gar nicht indischen Namen Hilde trägt. Auch Flordibel, die Fee im Artusroman des Pleier, ist Tochter des indischen Königs. Im Parzival Wolframs von Eschenbach herrscht Secundille, die Geliebte des Feirefiz, als Königin über Indien, von ihr erbt er das Land und verbreitet dort das Christentum. Erstmals in der volkssprachlichen Literatur tritt damit ein Bild Indiens zutage, das in Zukunft ins "kollektive Gedächtnis" eingehen wird: Indien, ein Land von überlegener Spiritualität. Dort wird Priester Johannes herrschen, der Sohn der Gralsträgerin Repanse und des aus Liebe zu ihr konvertierten elsterfarbigen Parzivalbruders. Er wird der zukünftige Gralskönig sein. Wolfram hat das so nicht ausgesprochen, sondern seinem Publikum als Denkaufgabe gegeben: Parzivals Sohn, Loherangrin, kann es nicht mehr werden, denn er darf nach seiner im Wortsinn frag-würdigen Ehe mit der Herzogin von Brabant keine Gralskönigin mehr heimführen. In der Familie des Feirefiz wiederholt sich die Konstellation der vorherigen Generation: wie Gahmuret, sein Vater, heiratet er eine Frau aus der Gralsfamilie, die Herrschaft wird, wie im Falle Parzivals, matrilinear weitergegeben. Aus Indien also wird die Rettung für Munsalvaesche kommen. Vergleichbares finden wir im französischen Gralroman Queste del Saint Graal, entstanden in den 1220er Jahren, deutsch erst im 15. Jahrhundert.

Als Galahad den Gral erlangt und den verwundeten König geheilt hat, muß er mit dem heiligen Gefäß das abendländische Königreich Logrien verlassen, weil die Menschen dort sich zu sehr weltlichen Dingen ergeben haben. Er soll den Gral nach Sarras bringen, einer Stadt, die in einem "weit entfernten Land, angrenzend an Ägypten" liegt. Damit dürfte Äthiopien gemeint sein, das als eines der "drei Indien" gilt, über die der Priester Johannes gebietet. Dort errichtet Galahad einen prächtigen Baldachin über dem Gralaltar und erlebt die Schau der höchsten Geheimnisse im heiligen Gefäß. Darauf stirbt er, und eine Hand holt den Gral in den Himmel zurück. In der Figur des Königs von Sarras, Excorant, ist die negative Dimension des fernen Landes verkörpert: Er ist ein Heide und läßt die Gralhelden einkerkern. Aber auf dem Totenbett befreit er sie und Galahad wird sein Nachfolger - möglicherweise ein Reflex der Josaphat-Legende, von der noch die Rede sein wird.

Deutlicher ist der Indienbezug im Jüngeren Titurel des Albrecht, abgeschlossen um 1269/70. Der Schluß spinnt die von Wolfram eingebrachte Thematik weiter aus: wegen der Sündhaftigkeit der Christen im Gralreich zieht der Gral zu den indischen Christen. Dort empfängt Feirefiz, der die Völker Indiens bekehrt hat, den Gral und die Gralleute. und macht sie mit dem Reich des Priesters Johannes bekannt, mit dem der Gral nun eine Verbindung eingeht: er bestimmt, wer den Namen ‚Priester Johannes’ tragen darf. Das ist zunächst Parzival für zehn Jahre, dann folgt ihm der Sohn des Feirefiz. Albrecht hat das Problem der Gralnachfolge, das bei Wolfram nur implizit gelost war, so dargestellt, daß nicht etwa der neue Gralkönig aus Indien nach Monsalvaesche kommen muß, sondern der Gral selbst in das gottgefällige Reich geht.

Albrecht hat für die Darstellung Indiens den sog. Priester-Johannes-Brief (Interpolation B) benutzt. Das ist ein fingiertes Schreiben eines christlichen indischen Herrschers aus der Zeit um 1150. Für die Fahrt nach dort (das Ziel bleibt lange verschwiegen) verwendet Albrecht andere Quellen, verzichtet aber auf die üblichen monströsen Wundervölker. Indien ist ein ideales Staatswesen mit dem Priester Johannes als geistlichem Herrscher. Daß hinter dieser Verbindung von regnum und sacerdotium die zu dieser Zeit existierende Engführung beider Funktionen in Indien steht, kann nur vermutet werden. Jedenfalls zeigt Indien ein positives Gegenbild zum zerstrittenen römischen Reich in Albrechts Zeit. Ob man das als "Regierungsprogramm" Rudolfs von Habsburg (dessen Wahl mit dem Abschluß des Werkes zusammenfällt) lesen darf, ist zu bezweifeln: zeitgenössische Idealvorstellungen einer starken Herrschaft, sowohl nach innen wie nach außen, werden jedoch bedient. [Priester Johannes besiegt den König der Ismaheliten, was als Wunschkorrektur gegenüber der Überrennung Indiens durch Muslime am Ende des 12. Jahrhunderts verstanden werden kann. Die Schlachtschilderung hat der Autor des Jüngeren Titurel einem zeitgenössischen Text von 1247, der Historia Mongalorum des Johannes von Plano Carpini, eines Ordensbruders von Wilhelm von Rubruck, entnommen. Albrecht macht aus den Tartaren/Mongolen Muslime und paßt sie damit den historischen Gegebenheiten in Indien an - und zugleich der zeitgenössischen Konfrontation von Christen und Muslimen im Heiligen Land.]

Da Indien nahe am Paradies liegt, ist es nicht nur ein Land des Überflusses, sondern auch moralischer Perfektion: Meineid, Diebstahl und Raub, Geiz und Mißtrauen, Verräterei und Falschheit gibt es dort nicht (H 6972). Mit der Apotheose dieses Landes und der dortigen Gralherrschaft endet Albrechts Roman. Da der Jüngere Titurel ein Lieblingstext der Romantiker war, geht das ideale Indien in deren Indienbild ein und bestimmt bis heute die Sicht auf dieses Land, seine Kultur und seine Religiosität.

Der wichtigste Reflex indischer Spiritualität im Mittelalter ist in der Barlaam und Josaphat-Legende unter einer christlichen Hülle verborgen. Ich kann an dieser Stelle nicht die verschlungenen Wege der Buddha-Legende aus Indien über das Persische und Arabische in das Abendland nachzeichnen - sie erscheint jedenfalls in christlicher Form im 9. Jh. in georgischer Sprache auf dem Berg Athos, kam von dort ins Griechische und in der Mitte des 12. Jh.s ins Lateinische. Von dort übernahm sie um 1225/30 Rudolf von Ems für seinen Legendenroman. Buddhistisch ist die Askese und die eremitische Lebensführung der beiden Titelhelden, christlich ist die der Legende aufgepfropfte Gotteslehre. Gleich am Anfang (v. 197) steht der Name ‚India’: Die religiöse Vorbildhaftigkeit verbindet sich mit diesem Reich. Der Text hat eine breite mittelalterliche Wirkungsgeschichte und wurde in der Frühzeit der Mittelalterrezeption gern gelesen und beeinflußte zweifellos das Indienverständnis. Schon Johann Jacob Bodmer gab Teile heraus, J.J. Eschenburg (1743-1820) fertigte eine Abschrift (der Hs. H), 1818 schon erschien die erste Edition, 1843 die zweite, bis heute allerdings letzte.

Richard Wagner hatte sie in seiner Dresdner Bibliothek und aus der raffinierten Verführungsszene sind Momente in die Kundry-Parsifal-Begegnung im 2. Akt eingegangen: Der Zauberer Theodas versucht, Josaphat durch sexuelle Freuden von der christlichen Askese abzubringen. Josaphat besteht diese stärkste Versuchung, die noch dialektisch zugespitzt wird: die schönste der dreihundert liebebereiten Frauen bietet Josaphat an, sich nach einer Liebesnacht taufen zu lassen. Der junge Mann ist in großem Zweifel; der Erzähler meint, er selbst würde ihr zur Taufe verhelfen. Aber Gebet und Fasten besiegen das Begehren: eine Praxis, die sich Buddhismus und Christentum teilen.

Die Vorstellung, der Beischlaf bedeute die Erlösung für die Verführerin, hat Wagner aufgegriffen:

Laß mich nur eine Stunde mich dir vereinen,
und, ob mich Gott und Welt verstößt,
in dir entsündigt sein und erlöst,

singt Kundry.

Die Barlaam-und-Josaphat-Legende bleibt im 19. Jh. stark präsent. Lev Tolstoj behandelt in seiner Autobiographie ihre Bedeutung für seine Conversio und in der Übersetzung der griechischen Fassung von 1847 heißt es: "Dass wir aber häufig und ernstlich erinnert werden zu bedenken, wie nichtig (Text: "wichtig") und vergänglich alle irdischen Freuden, Genüsse, Vorzüge und Besitzthümer sind, das ist gewiss in keiner Zeit überflüssig oder unnötig und vielleicht am wenigsten in der unserigen (L.v. Beckedorff, S. IXf., in: Felix Liebrecht, Münster 1847).

 

II. Romantik

Die Indomanie der deutschen Romantik hat mehrere Voraussetzungen: Die kulturkritische Tradition, wie sie im Gralroman sichtbar ist, gehört an vorderste Stelle. August Wilhelm Schlegel kritisierte in der Zeitschrift ‚Europa’ im Jahre 1803 die Lebensziele der Gegenwart als rein ökonomisch-nützlich ausgerichtet. Philosophie, Poesie, Religion und Sittlichkeit, die "vier Weltgegenden des menschlichen Geistes", sind auf ihren pragmatischen Nutzen reduziert worden. Sein Bruder Friedrich Schlegel, der sich der "Sprache und Weisheit der Indier" als vielleicht erster Deutscher so gründlich zuwandte, daß er Sanskrit lernte und indische Dichtung übersetzte, weist im 1. Band der gleichen Zeitschrift auf den Orient als die Quelle aller Religion und Mythologie: in Indien werde man noch etwas von dem finden, was in Europa verloren gegangen ist. Schon drei Jahre vorher, i. J. 1800, hatte er im Athenäum die Erneuerung der Poesie aus indischen Quellen erhofft: "Welch neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen ... Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, und wenn wir erst aus der Quelle schöpfen können, so wird uns vielleicht der Anschein von südlicher Glut, der uns jetzt in der spanischen Poesie so reizend ist, wieder nur abendländisch und sparsam erscheinen" (III. Bd. S. 103f.). Das reflektiert die grundsätzliche Haltung der Jenaer Romantiker, Novalis hatte in seinem berühmten Essay Die Christenheit oder Europa von 1799 ebenfalls das von der Poesie geschmückte Indien dem "kalten toten" Abendland gegenübergestellt. Indien, schreibt er, sei "in der Mitte des Erdballs so warm und herrlich", umgeben von einem "kalten, starren Meer, toten Klippen, Nebel" (S. 403), nämlich der übrigen Welt. Ludwig Tieck hatte sogar schon aus der Quelle geschöpft: aus dem Sanskritdrama des Kalidasa, Sakontala.

Die moralisch-religiöse Verklärung Indiens, die das Mittelalter an das 19. Jh. weitergab, wird ergänzt durch den poesiologischen Einfluß auf die Dichtung - von der Sprachwissenschaft sehe ich hier ab, so wichtig die Entdeckung, daß das Sankrits mit den europäischen Sprachen verwandt ist, gerade für das linguistische Selbstwertgefühl der Deutschen war.

Ausgangspunkt ist die Übersetzung der Sakontala durch den Weltreisenden Georg Forster i.J. 1791. Er hatte, da er selbst die alte Sprache nicht konnte, die englische Übertragung als Vorlage genommen, die William Jones 1788 "in seinen Gärten am Ganges" angefertigt hatte. Das Echo war geradezu überwältigend. Goethe, der ein Widmungsexemplar erhalten hatte, schrieb begeisterte Verse:

Was will man denn vergnüglicher wissen!
Sacontala, Nala, die muß man küssen,
Und Mega-Duhta, den Wolkengesandten,
Wer schickt ihn nicht gern zu Seelenverwandten.

Schiller fand, daß es im ganzen griechischen Altertum keine "poetischere Darstellung schöner Weiblichkeit" gäbe (17. Dez. 1796 an W.v. Humboldt) und es wurde erwogen, die Ballade Der Alpenjäger sei von dem 1. Aufzug angeregt (Zs. f. vergl. Lit.gesch. NF 8 (1895) 271-78). Johann Wilhelm Ludwig Gleim las "die Indierin" gleich zweimal "mit Andacht", Wilhelm von Humboldt meinte, lange habe ihn nichts so angezogen (Forster Ausg. S. 500); später waren es Beethoven und Schubert - der gleich eine Oper daraus machen wollte - sowie Ludwig Börne und Justinus Kerner, die die Sakontala mit Enthusiasmus lasen. Herder verfaßte drei Sendbriefe, in denen er sich mit der im zeitgenössischen Kontext neuen Dramatik positiv auseinandersetzte und Tieck zeigte, wie man die Poetik des indischen Theaters in das romantische Universaldrama umsetzen konnte: sein Legendendrama ‚Leben und Tod der heiligen Genoveva’ von 1799 ist von der Sakontala entscheidend geprägt.

Werfen wir zunächst einen Blick auf Kalidasas Stück in der harmonisierenden Adaption durch Jones und Forster. Beide wollten dadurch für die indische Literatur werben - was Goethe später zu der Sottise vom "moralischen Engländer" veranlaßte (1804) - er hatte bekanntlich ein sicheres Gespür für das Echte, ohne das Original zu kennen.

Auf Goethes lebenslange Faszination werde ich noch zurückkommen. Doch bevor wir uns der weiteren Wirkungsgeschichte zuwenden, ein kurzer Blick auf Kalidasas Theaterstück. Es gilt als bestes Sanskritdrama und folgt den Regeln, die der Theoretiker Bharata formuliert hatte: das Drama solle weder Handlung noch Konflikte darstellen, sondern eine Stimmung schaffen (rasa), die durch typisierte Handlungsträger erzeugt werde. Das Individuelle habe zurückzutreten.

*

Sakontala beginnt - wie im Sanskritdrama üblich - mit einem Prolog: ein Brahmane spricht den Segen, dann treten der Theaterdirektor und die Schauspielerin auf. Sie wollen dem Publikum Vergnügen bereiten, und nichts tut dies besser als das folgende Stück, das also als eine Art "Metatheater" erscheint.

König Duschmanta trifft im befriedeten Bereich einer Einsiedelei auf Sakontala, die Ziehtochter des Eremiten, die in Wahrheit aus der Verbindung der Nymphe Misrakesi und eines Königs entstammt. Beide verlieben sich ineinander und gehen eine Gandhwara-Ehe, eine Konsensheirat ohne Zeremoniell, ein. Duschmanta kehr in seinen Palast zurück. Ein unbeachteter Gast verflucht Sakontala, ihr Mann werde sie vergessen und erst wiedererkennen, wenn er den Ring erblickt, den er ihr beim Abschied gegeben hat. Duschmanta hat bei seinen anderen Frauen Sakontala vergessen. Als sie, schwanger von ihm, zu ihm kommt, erkennt er sie nicht, den entscheidenden Ring hat sie verloren. Ihre Mutter holt sie in den Himmel. Der Ring wird im Magen eines Fisches gefunden, Duschmanta erinnert sich. Der König ist in den Himmel aufgenommen, die Gatten erkennen einander und kehren auf die Erde zurück. Duschmanta wird ein vorbildlicher Herrscher, sein Sohn Weltkönig sein.

*

Figuren und Situationen sind in einer Weise typisiert, wie sie die zitierte Autorität Bharata verlangte: die Heldin soll das Erwachen von Gefühlen zeigen, jung und leidenschaftlich sein, aber auch Mut, Würde und Selbstbeherrschung besitzen. Duschmanta ist der Typus des gerechten Königs, sein Erinnerungsverlust nicht schuldhaft. Er weist Sakontala nur zurück, obwohl er sie begehrt, weil er sie auf Grund ihrer Schwangerschaft für die Frau eines Anderen hält. So widersteht er vorbildlich einer Versuchung. Später zeigt er sich als tapferer Heerführer, getreu dem Gebot der Götter. Zu Beginn des 5. Aufzugs wendet er sich von seiner jeunesse dorée-Haltung ab, denn die Liebe zu Sakontala hat ihn, ohne daß er es weiß, innerlich verwandelt. Kalidasa zeigt in ihm sein Idealbild eines Herrschers.

Das breite Echo auf Forsters Sakontala-Übersetzung hatte zwei unterschiedliche Gründe. Es gab zuerst das kulturwissenschaftliche Interesse an den anderen Bräuchen und der dennoch ähnlichen Menschennatur wie bei dem Altphilologen Moriz Heyne, Forsters Schwiegervater. Auch Johann Gottfried Herder ist davon geprägt. Er geht jedoch weiter: ihn interessiert die zweite neue Dimension, die Poetologie des Theaters. Diesen Strang will ich weiterverfolgen.

Das Bewußtsein von einer anderen, nicht-aristotelischen dramatischen Struktur ist schon den Übersetzern deutlich. Jones erwägt deshalb eine Straffung und Neustrukturierung für die Bühne, Forster warnt ausdrücklich davor, die abendländischen Regeln an das Stück anzulegen (S. XXIX), denn er sieht das "Interesse eines solchen Werkes gar nicht darin ..., ob es fünf oder sieben Aufzüge habe", sondern - im Sinn der universalen Humanität - in den "zartesten Empfindungen, deren das menschliche Herz fähig ist".

Herder, der, wie Goethe, von Forster ein Widmungsexemplar erhielt, schrieb darüber drei Abhandlungen (Briefe). Er diskutiert die Neuartigkeit und bringt den Namen Shakespeare als Repräsentanten der Regellosigkeit ins Spiel: "die Natur selbst" "shakespearisiert" in Indien sowohl als in England" (S. 90). Um das neue Werk in die herkömmliche Poetik einzubinden, legt er die Regeln des Aristoteles weit aus. Die Handlung der Sakontala sei, so stellt Herder fest, in ihrem Sinn "ernsthaft, sodann vollständig" (S. 93), ihre "Größe" sei nach dem Umstand und der Zeit sowie der Gegend zu messen, also kulturspezifisch. Während die Fabel im Sinn der Poetik "höchst einfach, ohne Episoden, fortgeführt" ist (S. 94), ist es mit dem aristotelischen "Mitleiden und Furcht" eine andere Sache. Denn der Fluch, der auf Duschmanta fällt und seine Erlösung gehören in die Sphäre des Wunderbaren, die Aristoteles wegen der fehlenden Identifikationsmöglichkeit im Drama nicht erlaubt.

Calderon und Shakespeare, die Herder diskutiert, sind hingegen mit Kalidasas epischem Schauspiel vergleichbar. Es ist episodisch, mischt die Empfindungen und den Ausdruck, Herder sieht Sakontala als eine welt- und transzendenzhaltige epische Variante des aristotelischen Dramas, das sich "über Himmel und Erde" erstreckt. In der Vorrede, die er zur 2. Auflage von Forsters Übersetzung (1803) schrieb, spricht er deshalb von der "Beibehaltung ewiger Urformen" (S. XXXV).

Sakontala ist, kurz gesagt, ein romantisches Universaldrama und ein Vergleich mit den beiden Adaptionen Ludwig Tiecks Genoveva und Kaiser Octavian soll zeigen, daß es in der Tat der Geburtshelfer des romantischen Schauspiels war.

Das indische Schauspiel bietet Vorgaben in der Verschmelzung von Epik und Drama, der Integration von Lyrik und dem einheitlichen Ton des Ganzen (202), vor allem aber der Öffnung zur Transzendenz. Vergleichbar ist allerdings nicht nur die - noch näher zu untersuchende - Poetik, sondern auch der Inhalt der Genoveva, die Fabel von der Verstoßung einer liebenden Ehefrau.

Siegfried, der Gemahl Genovevas, übergibt seine Frau dem Schutz des Majordomus Golo, als er am Sarazenenfeldzug teilnehmen soll. Golo nähert sich Genoveva, sie weist ihn ab. Daraufhin wirft er sie in den Kerker. Dort bringt sie ihren Sohn Schmerzensreich zur Welt. Siegfried erfährt von ihrem angeblichen Ehebruch mit dem Kaplan. Er läßt diesen töten, Genoveva soll ihm erst Rede stehen. Als ihm jedoch von der Hexe Winfreda die Szene des Ehebruchs gezeigt wird, soll auch sie sterben. Der ausersehene Scherge vermag sie nicht zu töten, sie lebt daraufhin sieben Jahre mit ihrem Sohn im Wald. Währenddessen erscheint Siegfried der Geist des ermordeten Kaplans und überzeugt ihn von seiner Unschuld. Der heilige Bonifatius berichtet von Genovevas Waldleben. Der Tod will sie holen, zwei Engel weisen ihn fort. Siegfried findet Genoveva auf der Jagd, er erkennt sie und fällt ihr zu Füßen, er sieht auch seinen Sohn und führt beide in sein Schloß. Golo wird, obwohl Genoveva ihm verzeiht, hingerichtet. Genoveva stirbt, Siegfried wird Einsiedler, Schmerzensreich bleibt bei ihm. Der heilige Bonifatius spricht den Epilog: "Ora pro nobis sancta Genoveva!"

Die motivlichen Vergleichbarkeiten liegen v.a. im zentralen Thema der vom verblendeten Gatten unschuldig verstoßenen Frau und Mutter und der durch höhere Mächte bewirkten Einsicht und Wiedervereinigung.

Wichtiger aber als das Motivliche ist die Poetik. Tiecks Genoveva gilt zurecht in der Auflösung der drei aristotelischen Einheiten "im poetischen Raum und in phantastischer Zeit" (Krit. Schriften Bd. 4) sowie der Herstellung einer poetischen Grundstimmung und der Öffnung auf die Transzendenz. Nach Tiecks eigenen Aussagen sollte das Wunderbare "hervorgehoben werden" (DüD 210). Die große Rolle, die der Wald, Tiere und die "Luft" spielen (DüD 201f.), das Atmosphärische, die Dominanz der Stimmung vor der Logik der Handlung, schließlich die religiöse Perspektive - das alles findet seine Entsprechung bei Kalidasa.

Man hat dafür wie Herder auf Shakespeare verwiesen, auf die Historien und auf das spanische Drama. Sakontala kam bisher nicht ins Gespräch. Kalidasas Drama steht in der Verbindung der genannten neuen Elemente der Genoveva näher als die englischen und spanischen Theaterstücke.

Die poesiologischen Parallelen sind im Einzelnen:

Die Etablierung einer spielexternen (extradiegetischen) Ebene

  1. Sakontala beginnt mit einem Gebet, darauf folgt ein Prolog auf dem Theater; Tieck führt die Gestalt des hl. Bonifatius ein, der die Genoveva einleitet. In beiden Fällen wird Theatralität sinnfällig inszeniert, die aristotelische Mimesistheorie zerstört zugunsten des theatralischen Präsentismus. Tieck geht mit diesem Verfahren weiter: Bonifatius überbrückt erzählerisch die große zeitliche Lücke und spricht auch einen Epilog. Sakontala hingegen führt die spielexterne Situation nicht weiter: Die Zeitsprünge werden nicht von einer Erzählerfigur, sondern von Gestalten der Handlung berichtet, das Schlußgebet spricht die männliche Hauptfigur, Duschmanta, selbst.

Das Auftreten überirdischer Gestalten:

  1. In der Genoveva erscheinen Engel und entreißen die Heldin dem personifizierten Tod, im 7. Akt der Sakontala treten Götter und Nymphen auf und

Die politische Dimension:

  1. Ziel ist in beiden Fällen die gesellschaftliche Ordnung: in der Genoveva ist sie eher episodisch durch den Heidenkämpfer Karl Martell repräsentiert, in der Sakontala durch den Protagonisten Duschmanta selbst, der zum gerechten König wird. Wie wichtig beiden Autoren die Kontinuität von Herrschaft ist, zeigt sich darin, daß Genovevas Sohn Schmerzensreich sich zwar mit dem Vater zurückzieht, die Regierung aber Siegfrieds Bruder anvertraut ist.

  2. Die poetische Grundstimmung ist Merkmal beider Dramen. Sie wird einmal vermittelt durch die bildhafte Sprache der Figuren, v.a. die sprachlichen Naturbilder, dann zeigen die Schauplätze besonders häufig Naturszenen.

  3. Die Vermischung des Ernsten mit dem Komischen, die typisch für das romantische Drama ist, findet sich in beiden Werken: in der Genoveva wird die Komik den Dienern und Schäfern zugeteilt, in der Sakontala dem Hofnarren Madhawya.

Die Seinsharmonie:

  1. Die Beliebtheit der Sakontala bei den Romantikern ist nicht zuletzt durch die Titelgestalt bedingt, in der die Einheit von Mensch, Natur und Transzendenz Gestalt wird. Vergleichbares gilt für Genoveva im Wald und ihr wunderbares Überleben. Dieses Konzept findet bei Tieck seine Krönung in der von Genoveva evozierten Vorstellung vom Leben nach dem Tode als Teil einer umfassenden Natur:

    auch meine Seel muß sich dem Tod entringen
    Und in dem Lebensmeer als Welle klingen.

Diese Einheit mit dem mythisierten Lebensganzen entspricht nicht christlichen, sondern indischen Vorstellungen.

*

Insgesamt belegen die Analogien im poesiologischen Konzept und in den angeführten Details den bestimmenden Einfluß der Sakontala.

Was bedeutet nun der indische Einfluß auf Tiecks Legendendrama für das Verständnis? Etwas Entscheidendes. Er holt Tiecks Werk aus der "reaktionär-katholischen Ecke" heraus und öffnet die universelle Perspektive. Die christliche Heiligenlegende ist paradigmatisch für eine transzendentale Begründung von Ästhetik, Liebe und Herrschaft, gibt aber inhaltlich keine Restauration mittelalterlicher Glaubenskonzepte vor. Religion ist zu allererst eine ästhetische, eine poesiologische Dimension, es geht nicht um die Wiederherstellung von Institutionen. [Das Verhältnis zu diesen ist in der Sakontala allerdings noch ungebrochener als bei Tieck. Dort wird die von den Göttern herbeigeführte Harmonie von Liebe und Herrschaft nicht problematisiert, während sie bei Tieck gar nicht mehr möglich ist: Liebes- und Herrschaftsproblematik werden getrennt, ihre mögliche Vereinbarkeit ist durch die Abdankung Siegfrieds und seines Sohnes als problematisch markiert.] Die Genoveva ist weder ein "Plädoyer für eine naive Sakralisierung der Kunst", noch "Propaganda für eine Rekonstruktion des Mittelalters" in Kirche und Staat (wie Ludwig Stockinger festhält), sondern sie nimmt die christliche Religion in Gestalt der Heiligenlegende als ästhetisches Medium für das romantische Programm, die Harmonie von Ästhetik, Liebe und politischen Institutionen als Utopie, wenngleich in der Tragödie als letztlich unmögliche zu zeigen. Damit unterscheidet sie sich von der Sakontala. Daß Religion jedoch in beiden Fällen als Chiffre, nicht als Inhalt verstanden ist, zeigt der "poetische Blick" der romantischen Rezipienten auf die Sakontala. Sie wurde nicht als Zeugnis für den Glauben der Inder rezipiert, sondern als ästhetisches Produkt. Goethe glaubte im Jahre 1818 noch, Sakontala für das Theater retten zu können, indem er den 7. Akt im indischen Himmel streichen und die Anagnorisis auf der Erde stattfinden lassen wollte. Er hielt die transzendente Dimension für überflüssig. Das sollte - wie wir sehen werden - nicht so bleiben.

Tiecks nächstes Drama ist auf andere Weise von Sakontala beeinflußt: das ‚Lustspiel in zwei Teilen’ Kaiser Octavianus, erschienen 1804. Wieder steht die Geschichte einer unschuldig verstoßenen Frau im Mittelpunkt des 1. Teils: Octavianus’ Gattin Felicitas wird auf Grund einer Verleumdung verjagt, erst am Schluß des 2. Teils finden die Eheleute wieder zusammen.

Der Octavianus, weitaus epischer als die Genoveva, verzichtet aber auf die religiös-heilsgeschichtliche Dimension, stärkt dagegen die gesellschaftliche: Florens, die Hauptgestalt des 2. Teils, erscheint am Ende als utopischer Weltkaiser und nimmt so die Schlußperspektive der Sakontala auf, die die Genoveva abgewiesen hatte. Die Religion wird als Chiffre jetzt nicht mehr benötigt, denn im ‚Lustspiel’ gelingt die universale Versöhnung aller Menschen im Zeichen von Poesie und Natur im Tempel der Liebe "im Walde" - [und nicht, wie in Tiecks Vorlage, dem sog. Volksbuch von Kaiser Octavian, in Paris]. Der Wald, die Natur, ist dem Romantiker das, was Kalidasa der "indische Himmel" ist, die Harmonie ist im Lustspiel möglich, die Einheit von Poesie und Natur wird hergestellt - der Octavianus kann deshalb auf die religiöse Einkleidung verzichten. Die Natur bekommt eine religiöse Dimension, wie sie charakteristisch ist für den Hinduismus und - für die Romantik. Im indischen Drama wird die Religion jedoch - anders als nunmehr bei Tieck - als die höchste Ordnung präsent gehalten.

Tieck geht - unter den Bedingungen der literarischen Arena der Zeit um 1800 - in der Konzeption poetischer Autonomie über Kalidasa hinaus, insofern die Harmonie ausdrücklich nicht durch die Transzendenz, sondern durch die Poesie produziert wird: in "der Liebe Tempel" wird von "Einer Stimme" das Gedicht vorgetragen, das als Quintessenz der Romantik gilt.

Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangenhält,
Wundervolle Mährchenwelt,
Steig auf in der alten Pracht.

Die Protagonisten glossieren es, so daß die vier Zeilen des Mottogedichts jeweils als Schluß einer längeren Passage erscheinen. Einen deutlicheren Hinweis auf die Macht der Poesie kann es kaum geben.

Der vergleichende Blick auf Kalidasa hat hier zwei Dinge gezeigt: einmal übersteigt Tieck im Octavianus die poesiologischen und inhaltlichen Begrenzungen, die in der Genoveva noch weitgehend mit dem indischen Drama korrespondieren, dann aber relativiert der Vergleich mit Sakontala die Bedeutung der vergeblichen nationalen Dimension in Tiecks Wendung zum Mittelalter: Die Wahl dieser Geschichtsepoche ist kulturspezifisch bedingt, nicht programmatisch, Geschichte wird zu Poesie. Für dieses poetisch-ahistorischeVerständnis des indischen Dramas kann ein Heinezitat stehen, daß "die Indier das Geschehene ins phantastisch Poetische umwandeln" und "die phantastische Umbildung immer Symbol" bleibt, "das das Unendliche bedeutet" (Aufzeichnungen VI,1, S. 613f.). Die heimische, nationale Überlieferung zu revitalisieren war Tiecks und seiner Mitstreiter Bestreben, sie jedoch gleichzeitig zum Universalen zu transzendieren war seine Absicht. Der Octavianus bot dazu schon von der Vorlage her die besten Möglichkeiten, denn weder die Figuren noch die Schauplätze kommen aus der deutschen Vergangenheit. Wie Sakontala im Sinne des Heinezitats von der Umwandlung der Geschichte ins Poetische sollte auch Tiecks Octavianus verstanden werden.

Die drei besprochenen Werke stellen also durch die Poesie, also "künstlich", wie August Wilhelm Schlegel sagt (Vorles. I, 441), die Harmonie von Menschheit und Natur her. In diesem Verständnis gründet die Faszination, die die "walderzogene Jungfrau" Sakontala auf die Romantiker ausübt.

*

Jeder kannte die "walderzogene Jungfrau" zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch Heinrich Heine. Sie dient als Quelle für Lied X im Lyrischen Intermezzo im Buch der Lieder: Die Lotosblume ängstigt / Sich vor der Sonne Pracht’ (von Schumann vertont) (Komm. I, S. 708). Bedeutungsvoller aber als dieser Bezug ist eine Beobachtung in der ‚Einleitenden Bemerkung’ seines Tanzpoems Der Doktor Faust: Goethe habe in seinem Faust die "Einleitung" der Sakontala übernommen (VI,a, S. 355 und 613). Ist das plausibel zu machen? Es geht um zwei Aspekte: poesiologisch betrifft es das Vorspiel auf dem Theater, inhaltlich den Beginn des Prologs im Himmel. Die Sakontala hat die erwähnte Eröffnungsszene auf dem Theater. Kalidasa benutzt diesen Prolog, einmal, um Theatralität als solche sichtbar zu machen, dann, um das Ziel seines Theaterstücks zu definieren: es soll Vergnügen bereiten und die Seele mit Entzücken füllen, d.h. aus dem Alltag in die Welt der Poesie führen. Bei Goethe hat das Vorspiel eine vergleichbare Schwellenfunktion: es markiert den Übergang von der realen Welt des Theaters in die der Dichtung.

A uch für den Prolog im Himmel, und zwar für den Gesang der Engel ‚benutzt’ Goethe Kalidasa inhaltlich, nämlich den vor dem Vorspiel gesprochenen Segen eines ‚Brahmen’.

Wasser war des Schöpfers erstes Werk;
Feuer empfängt die Gaben ...
Zeiten mißt das Himmelslichterpaar
und des Schalles Führer,
zarter Äther, füllt das All! ...
Erd’ ist des Gebährens Mutter;
Leben alles Athmenden ist Luft.

Das Engelterzett bringt einen gesteigerten Hymnus auf die gleichen Themen: Gestirne - Sphärenharmonie - Erde - Wasser - Feuer - Luft. Weitere Quellen werden einbezogen, aber in seiner kosmologischen Grundidee aber ist Goethe von Kalidasa angeregt.

Mit dem Prolog im Himmel ist die transzendente Sphäre aufgerissen, die sich am Schluß des 2. Teils abschließend öffnet. Die Wahl "christlich-kirchlicher Figuren und Vorstellungen" erfolgt nicht aus weltanschaulichen, sondern aus poesiologischen Gründen, um "Form und Festigkeit" zu geben, wie Goethe zu Eckermann sagt (6.6.31).

Goethe macht durch den Prolog und das Ende des 5. Akts aus Faust ein Universaldrama; Sakontala gab den entscheidenden Impuls, wie sich an der Entstehungschronologie zeigen läßt. Kurz vor der Abfassung des Schlusses, im Dezember 1830, war Goethe erneut auf das früh geliebte indische Drama gestoßen, und zwar in der französischen Übersetzung des Orientalisten Antoine Léonard de Chezy, er las es "wiederholt" (15. August 1830), nannte es ein "unergründliches Werk" und zeigte sich jetzt weniger vom Stoff und den Figuren, als von der poesiologischen Dimension fasziniert, sie zeige "den Dichter in seiner höchsten Funktion". Goethe hatte hier einen Schlüssel für die Vollendung seines Weltdramas gefunden: die Harmonie in der Transzendenz, in der die Wiedervereinigung der Liebenden stattfindet. Daß seine christlich-katholischen Figuren nur "poetische Surrogate" (Schöne) sind, hat man - im Unterschied zur Rezeption von Tiecks Genoveva - längst erkannt. Goethes Himmel ist christlich nur aus abendländischem Traditionsbewußtsein, ganz wie Kalidasas indischer Himmel verstanden wurde.

 

III. Richard Wagner

Zu den Bewunderern der Sakontala zählt auch Richard Wagner, der Vollender des romantischen Universaldramas. Er beschäftigte sich außerdem mit zwei weiteren Schauspielen Kalidasas, nämlich Malavika und Agnimitra (Málavikagnimitra, übersetzt von Albrecht Weber) und Urwasi, Preis der Tapferkeit (Vikramorvasiya, übersetzt von Edmund Lobedanz). Er las sie allerdings erst spät (März 1873), während er Sakontala schon länger kannte. Zunächst aber knüpft er an das romantische Universaldrama an: mit Tannhäuser und Lohengrin. Seine seit dem Holländer deutliche Episierungstendenz erreicht im Ring des Nibelungen ihr Ziel. Die Einbeziehung der Transzendenz ist im Tannhäuser und Lohengrin noch dem katholisch-romantischen Modell verhaftet, so die rettende Marienanrufung Tannhäusers in der Venus-Hölle. Sein Gebet am Schluß "Heilige Elisabeth, bitte für mich" nimmt das Schlußwort der Genoveva auf: "Ora pro nobis sancta Genoveva". Der Lohengrin hat mit dem A-dur Vorspiel seinen ‚Prolog im Himmel’ und teilt mit der Genoveva das Interesse an Herrschaft und ihrer Kontinuität, die durch den gottgesandten Helden bewirkt wird. In den Meistersingern wird die Gesellschaftsharmonie weder von andersweltlichen Helden, noch von politischen Institutionen, sondern - ähnlich wie bei Tieck - von der Poesie erhofft: "Uns bliebe gleich / Die heil’ge deutsche Kunst". Was aber hat sie Wagner gegeben? Für die universale Konzeption brauchte Wagner Kalidasa nicht mehr, die konnte er der deutschen Tradition entnehmen, in die sie eingegangen war. Er hat zwar ein "indisches Drama" Die Sieger, das er am 16. Mai 1856 entworfen, das nie ausgeführt wurde; Wichtige Momente daraus gehen in christlicher Einkleidung dann in den Parsifal ein (CT2,659), aber mit Kalidasa hat das nichts zu tun. Ähnlich wie Goethe erscheinen auch Wagner die christlichen Symbole im heimischen kulturellen Kontext einfacher und faßlicher als die indischen, zu deren Verständnis "viel Bildung" gehöre (CT II, 1007). Zwei Motive jedoch hat er aus der Sakontala entlehnt. Sie sind nicht bloß dekorativer, sondern thematischer Natur: der sog. Schwanenmord und die Blumenmädchen.

Im 1. Akt des Parsifal dringt der Held in den Gralbereich ein und erschießt einen Schwan. Er wird von Gurnemanz heftig dafür getadelt, weil Tiere auf diesem Territorium "heilig" sind und Parsifal gegen die Achtung vor allem Leben verstoßen hat. Die dramatische Situation, daß der Held in einen befriedeten Bezirk eindringt, stammt aus der Sakontala und hat - wie schon erwähnt - Schiller zum Alpenjäger angeregt: König Duschmanta verfolgt ein Tier, als er es töten will, ermahnt ihn ein Einsiedler: "Sie darf nicht getötet werden! Diese Antelope, o König, hat in unserem Walde ihren Zufluchtsort ...!" In beiden Fällen hat der vollendete oder versuchte Tiermord eine Schwellenfunktion: Duschmanta dringt so in die Einsiedelei mit Sakontala ein, Parsifal kommt in den Gralstempel zu Amfortas. Beide werden zunächst scheitern, Parsifal unmittelbarer und offensichtlicher als Duschmanta.

Die zweite Episode: die Blumenmädchen. Sie leben in Klingsors Zaubergarten, in "tropische[r] Vegetation, üppigste[r] Blumenpracht". Sie sind in Blumengewänder gekleidet, "scheinen" selbst Blumen zu sein. Ihre Selbstaussagen sind Verführung: "Kannst du uns nicht lieben und minnen, wir welken und sterben dahin", umwerben sie Parsifal. Man hat den mittelalterlichen Alexanderroman als Quelle angesehen, wo die Krieger auf dem Indienzuge zu Blumenfrauen kommen und mit ihnen die Liebe genießen, ehe letztere ganz vegetabilisch verwelken. Das geschieht jedoch im ‚Parsifal’ nicht, es geht vielmehr um die blumenhafte Schönheit der Mädchen. Das hat Wagner aus der Sakontala. Hier ist die Analogie von Mädchen und Blumen deutlich: die Heldin und ihre Gefährtinnen werden mit Waldblumen (S. 8) verglichen, sie sind Schwestern der Pflanzen, die sie pflegen (S. 9), Duschmanta sieht in Sakontalas Lippen "ein rotes Blumenblatt", die Arme sind "biegsame Stengel", ein "Vermählungsfest der Pflanzen" wird beschworen, Blumenschmuck und -kleidung, Blumenvergleiche finden wir immer wieder. Wagner hat diese Analogien benutzt. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied: bei Kalidasa ist die Blumenwelt primordial-paradiesich, bei Wagner nicht, kein frühromantisches Bild der Einheit von Natur und Mensch, sondern teuflisch. Angelpunkt ist die Sexualität. Kalidasa sieht sie positiv, Sakontalas deutlich sichtbare weibliche Reize sind unschuldig. Wagner dagegen versteht Sexualität negativ, als Verführung. Kundry instrumentalisiert sogar ihre Attraktivität, um Parsifal in Klingsors Gewalt zu bringen, Heil bringt allein die Askese. Auch diese Vorstellung kommt zwar aus Indien, von Wagners Buddhismus-Rezeption, Kalidasa hingegen thematisiert die hinduistische Positivierung der Sexualität. Der Buddhismus hatte nicht nur bei Wagner den Hinduismus verdrängt oder überboten - das hatte schon mit Friedrich Schlegels kritischer Perspektive in seiner Abhandlung Ueber die Sprache und Weisheit der Indier von 1808 begonnen.

So zeigt sich in dieser Rezeption eine veränderte Bewertung. Der Sensualist Heine hatte noch die polnischen Frauen mit indischen Blumen rühmend verglichen, hier, beim späten asketischen Wagner, sind letztere zu "schönem Geteufel" geworden.

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Zwei Beobachtungen zum Schluß: die "erste Blume Indiens" in deutscher Sprache, Kalidasas Sakontala gab der deutschen Literatur einen wichtigen Impuls. Ihrer Kenntnisnahme verdanken wir die Entwicklung des romantischen Universaldramas und ihr Einfluß wirkt in dem deutschen Nationaldrama (wenn es denn eines gibt), in Goethes Faust sowie in Richard Wagners letztem Beitrag zum Musiktheater, dem Parsifal, dem "Allerinteressantesten", wie Thomas Mann spät nicht ohne besondere innere Beteiligung meint. Ja, "Sakontala muß man küssen", wie Goethe sagt. Vor dieser produktiven Wirkung verblaßt die Frage, ob es sich um eine "angemessene" Rezeption handelt. Mit Edward Saids und mehr noch seiner unkritischen Adepten denunziatorischer Aburteilung empirischer Bemühungen um den Orient kann ich mich hier nicht auseinandersetzen. Ich halte lediglich fest, daß die Begegnung mit indischer Literatur und Geisteswelt nicht nur die deutsche Dichtung immens bereichert hat, sondern daraus auch eine allgemeine Hochachtung vor der indischen Kultur erwachsen ist, die bis heute andauert. Indologie wird an immerhin acht deutschen Universitäten gelehrt. Ein positives, harmonistisches Indienbild gehört spätestens seit der Romantik zum "kulturellen Gedächtnis" der Deutschen. Das birgt allerdings auch Gefahren: die Komplexität und Widersprüchlichkeit des heutigen Indien zu übersehen oder zu überspielen und damit sowohl die Probleme der größten Demokratie der Welt wie auch die Anstrengungen bei ihrer Bewältigung zu unterschätzen. Küssen wir also Sakontala nicht nur, sondern betrachten wir sie und ihre Aufnahme bei uns mit aufmerksamem Blick.

© Volker Mertens (Berlin)


5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West

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Volker Mertens (Berlin): Sakontala ... muß man küssen. Indien, das Mittelalter, die Romantik und Richard Wagner. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_7/mertens16.htm

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