Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | März 2006 | |
6.1. Modalitäten von Kulturkontakt |
Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei)
[BIO]
Betrachtet man die literarischen Erscheinungen unserer Zeit, so kann man mit Recht Doris Bachmann-Medick zustimmen, wenn sie diese neue Weltdimension folgenderweise betont: "A greater interest is now being taken in the conditions of literary production throughout the world and, consequently, in the historical and political positioning of each text in a field of tension of colonial and postcolonial experience. The new conceptions of world literature are process-oriented rather than canon-oriented and take into account the experience of cultural differences, as represented in an altered text corpus composed not only of European, but also of non-European texts that find "their" counterpart in colonialism and imperialism and develop their own, often very different, literary modes of expression."(1)
Im Rahmen unserer Sektion "Modalitäten von Kulturkontakt" ist es erfreulich, diese nur europäischen Kulturgrenzen durch die Beiträge von allen eingetragenen TeilnehmerInnen überschritten zu haben. Es werden in diesen Tagen sehr relevante und spannende Erfahrungen in Raum und Zeit besprochen werden. Hierfür bedanke ich mich bei allen auch bei denen, die in letzter Minute die Reise nach Wien nicht unternehmen konnten.
Vladimir Toporov hatte schon 1992 auf das Zusammentreffen zweier Kulturen aufmerksam gemacht, indem er schrieb: "Living in a world where contact of cultures and languages form an exceedingly dense and traditional structure usually inherited from the distant past, it is hard to imagine the significance of the first stunning encounter of two cultures, two languages, and the immensity of the consequences of that encounter."(2) Und er betont das Menschliche in diesem Prozess, - womit wir übrigens völlig übereinstimmen - wie folgt:
"It is important to bear in mind that such an encounter is always an experiment - witting or unwitting - and it is invariably a test of humanity, of predisposition to and a mission of humanity, unity in what is the most important for man."(3)
Genau dieser Bezug zum Menschlichen bzw. sein Impakt auf die Menschlichkeit des Rezipienten des Kulturschocks oder der kulturellen Einbettung wird uns drei Tage lang beschäftigen. Sind die Menschen bzw. Gesellschaften innovationsfähig oder beharren sie auf der Reproduktivität der Traditionen? Die Antwort wird gewiss einigermassen mehr oder weniger implizit zum Vorschein kommen.
Mit diesem Impulsreferat bleiben wir also doch in Europa, aber in einem Land, wo die Kulturvielfalt seit Jahrhunderten existiert und seit fast zweihundert Jahren durch die vier offiziellen Sprachen erhalten blieb und zum Alltag gehört, ich meine die Schweiz. Mein Ziel war es, die Auswirkungen der kulturellen Berührungen auf das Individuum als solches aufzuzeichnen. Unter vielen Möglichkeiten entschloss ich mich für einen deutschschweizer Autor, der in sich selbst durch die Lebensverhältnisse mehrere Kulturen aufnehmen musste: In einer Arbreshgemeinde geboren, italienisch eingeschult, dann im Emmental aufgewachsen und auf der heutigen Schweizer Kulturszene - sei es Theater oder Literatur - engagiert, stellt Francesco Micieli die Chance dar, die Pluralität der Identitätsaspekte zu einem ungewöhnlichen einheitlichen Reichtum zu bilden.
Micieli ist 1956 in Süditalien, in Santa Sofia d'Epiro, einem albanisch sprechenden Dorf geboren und als Kind 1965 in die Schweiz gekommen. Wir wollen hier Walter Vogt, einem anderen deutschschweizer Autor das Wort lassen und zwar einen Auszug aus dem 1986 verfassten Nachwort zum ersten Prosatext Micielis Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat anführen, wo er Folgendes zum Lebenslauf des Dichters bekanntgibt:
"Vielleicht sollte man an dieser Stelle dem Leser tatsächlich etwas erklären, lieber F.M. - eigentlich solltest Du es tun, weil Du alles besser, genauer weisst, selbst erfahren hast. Es gibt in Kalabrien, wo du herkommst, Dörfer, wo albanisch gesprochen wird. Italienisch ist in diesen Dörfern die Sprache der Mächtigen, der Regierung, der Kirche, Gottes, der Schule, der Polizei und der Armee.
Du bist in einem solchen albanisch, oder albanesisch sprechenden Dorf zur Welt gekommen, Kind gewesen, mit zehn in die Schweiz gekommen, nach Lützelflüh, sprichst heute noch mit Deinen Eltern albanisch, wohnst noch immer im Emmental, machst in Burgdorf Theater, in Bern Linguistik, sprichst mit den Kumpanen im A.L.P.E. italienisch, mit den KollegInnen deutsch, französisch, schweizer-deutsch."(4)
Hiermit befinden wir uns mitten in unserer Problematik: die Modalitäten von Kulturkontakt. Als Gegenstand unserer Untersuchung haben wir Francesco Micielis Trilogie herangezogen und zwar Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat 1986, Das Lachen der Schafe 1989 und Meine italienische Reise 1996, alle in einem Band 1998 neu erschienen.(5)
Wir möchten in dieser Untersuchung hauptsächlich textimmanent arbeiten, da die Kultureme, die Kulturkonflikte sowie die kulturellen Eigenschaften verschiedener Gesellschaften sowie ihre Auswirkungen auf das Ich dabei deutlicher hervorgehoben werden können.
Micielis erster Band der Trilogie heisst eigentlich Tagebuch eines Kindes - Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat. (I, 7-103) Das bedeutet aber nicht, dass es sich um ein Kinderbuch bzw. ein Buch nur für Kinder handelt. Es zeigt das Arbeitermigrantentum aus der Perspektive des in der Heimat bei den Grosseltern zurückgebliebenen Jungen. Die Tagebuchform erlaubt es dem Autor, das Werk sehr frei zu gestalten, er muss weder Roman-, noch Novellenform einhalten; ausserdem befreit er sich sogar von der Tagebuchform als solcher, indem er die Eintragungen ohne Datum aneinanderreiht, jedoch für jede Eintragung eine neue Seite benutzt. Die Typographie weist auch kurze Zeilen auf, die an eine Gedichtform in freien Versen erinnert, was eigentlich Walter Vogt auch schon erwähnt hatte, indem er diese Schriftweise folgenderweise charakterisiert: "Dicht, knapp, kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel, wie was man "Gedichte in Prosa" nennt. " (I, 102)
Von vornherein muss bemerkt werden, dass dieses Tagebuch von einem dreissigjährigen Erwachsenen - also aus der Distanz zu den Ereignissen - verfasst wurde, der die Erlebnisse des Alltags mit kindlichen Kommentaren versehen dem Papier anvertraut.
Der Ich-Erzähler ist das in Italien bei den Grosseltern zurückgebliebene Kind, das seine Eintragungen rückblendend mit der Entbindung seiner Mutter beginnt. Die kulturelle Einstellung der Gesellschaft wird sofort auf der ersten Seite laut: "Gut, sehr gut ... ein Bub ...nur Buben nützen." (I, 9) Ist diese Mentalität nur für Kalabrien typisch? Oder für arme Gegenden der Welt? Oder vielleicht auch in den mehr oder weniger bewusst patriarchalisch eingerichteten Gesellschaften? Man könnte sich auch fragen, wie war es vor fünfzig Jahren in der Schweiz?
Diese Einstellung besitzt im Buch ein Korrelat, das als Meinung des Dorfarztes geschildert wird, als er später im Werk gerufen wird, die kranke Schwester des Jungen zu untersuchen: "Er will nicht kommen, weil es Nacht ist / und weil Mädchen nichts nützen." (I, 12)
Eine Konsequenz der obigen Meinung bzw. des Verhaltens den Mädchen gegenüber erscheint in einer der darauffolgenden Eintragungen: "Meine Mutter kann nicht lesen. / Sie durfte nicht in die Schule./ Sie musste arbeiten." (I, 18) Dieselbe Thematik wird im zweiten Band, wo diese Frau nun auch wie ihr Mann in der Schweiz arbeitet, wiederaufgenommen, als sie sich auf der ersten Seite vorstellt:
"Ich heisse Caterina. Ich habe keine Sprache, nur Sprachfetzen.
Ich kann nicht lesen. Ich kann nicht schreiben.
Bildung sei nichts für Weiber, schrie mein Vater, als ich zur Schule gehen wollte.
Sein Stock heulte auf meine Haut." (II, 109)
Es muss bemerkt werden, dass damit nicht nur das Verhalten der Frau gegenüber deutlich wird, sondern eigentlich auch der Zustand der extremen Armut in Kalabrien, wo - wenn schon Arbeit zu finden war - dann nur für Männer eine Hoffnung auf Broterwerb in Aussicht stand.
Schon die Geburt bedeutet für den Ich-Erzähler das Einbetten in eine bipolare Kulturwelt. Ein Arbresh zu sein, bedeutet - trotz der Staatsbürgerschaft - innerhalb der italienischen Geographie und Sozialstruktur das Anderssein, weil er zu den Nachfahren der vor Jahrhunderten in diese Gegend ausgewanderten Albaner gehört. In diesem Dorf leben also Familien, die ihre Sprache, ihre Sitten u.a. beibehalten haben. Ihr Albanisch ist nicht das Albanisch, das heute in Albanien gesprochen wird, sondern ein Italo-albanisch, das ihnen ihre Identität weiter erhält. Mit Recht betont Carla Capesciotti, als sie von der Anschauung Remo Bodeis berichtet, wonach "L'altro, lo straniero, nel suo doppio statuto di presente/lontano, visibile/sconosciuto, suscita inquietudine, ci obbliga a ridefinire le nostre frontiere."(6)
Der Junge lernt die Andersartigkeit kennen, die Differenzierung innerhalb einer und derselben Region, wobei der Grossvater ganz genau die Trennungslinie sowohl geographisch als auch kulturell zeichnet; es scheint nichts Gemeinsames unter den beiden Menschengruppen vorhanden zu sein. Es heisst im Tagebuch:
"Grossvater sagt, dass am langen Berg
viele Menschen wohnen.
Sie sprechen nicht unsere Sprache.
Sie sind keine Arbresh." (I, 22)
Das was ihnen aber doch gemeinsam ist, liegt in der Tatsache, dass die Armut auf beiden Seiten die Auswanderung hervorruft: "Aber auch von ihnen gehen viele ins Ausland" (I, 22), erklärt der Grossvater. In dieser Hinsicht können wir uns Charles Cornu anschliessen, wenn er diese Situation hervorhebt: "Zwei Stichworte von geradezu magischer Kraft springen einen namentlich aus den ersten beiden Dichtungen an: Ausland ist das eine, Armut das andere."(7)
Im dritten Band definiert Micieli mit Recht den kulturbedingten Unterschied direkt in Bezug auf das Phänomen Sprache und zwar: "Santa Sofia d’Epiro. [...] Auf der Piazza sind einige Männer wie überall in den Dörfern in Kalabrien. Man sieht ihnen die Minderheit nicht an. Nichts lässt auf italo-albanisch schliessen, nicht einmal der schlechte Zustand des Asphalts. Dann aber die Sprache, sie ist ihre Andersartigkeit. Vielleicht auch die Ikonen in der Kirche, die ein Maler aus Kreta gemalt hat. Sophia, Athanasios, Demetrios. Heilige, die Vorfahren auf ihren Booten beim Überqueren der Adria mitgenommen haben." (III,266/267) Schon im ersten Band der Trilogie hatte Micieli auf den sprachlichen Kontext der Religion hingewiesen und zwar auf eine Sprache, die keiner verstand, weil sie weder italienisch noch albanisch war:
"Ich gehe in die Messe.
Der Priester spricht eine Sprache,
die ich nicht verstehe.
Es ist griechisch, die Sprache der Bibel,
sagt meine Grossmutter.
Die Sprache Gottes müssen wir nicht verstehen.
Die Heiligen und der Zoti sagen uns,
was Gott will.
Ich verstehe nicht, warum wir Gott
nicht verstehen dürfen." (I, 71)
Durch den Namen seines eigenen Geburtsortes ist die Autobiographie in dem letzten Band in Form von Rückblenden omnipräsent, wie auch die Anspielung an die orthodoxe Liturgie, die in der italienischen Umwelt nicht Brauch ist. Diese Haltung führt auch sprachlich zur Identifizierung des Autors mit dem Erzähler, wie es besonders auf dem Bahnhof Roma Termini deutlich wird: "Das Kind kehrt in die Erinnerung zurück. Es hört seine Mutter schreien, es hört seinen Vater schreien. Sie tragen Koffer, sie tragen Schachteln, sie tragen Fässer mit Öl, Fässer mit Wein. Das Kind bleibt stehen. Wir müssen umsteigen, sagen sie. Das Kind trägt die Züge. Sie fahren in ihm, sie halten nicht mehr an. Das ist sein Italien. Das ist mein Italien. Ich halte nicht mehr an. Eine Berührung bringt mich in die Menschenmenge zurück, in die Ansage, in die Durchmischung, in die Durchkreuzung von Geschichten, Biographien, Menschen, die aus-, ein- und umsteigen. Das Kind ist verschwunden, ich spüre noch seine Wärme an meiner Hand." (III, 264/265)
Dieses Ich-Erzähler-Kind wurde auch eingeschult; dies war eine Zeit der absoluten Trennung der Kulturen und der Erfahrung der dominanten Kultur, der Mehrheitskultur, wie es im Text lautet:
"In der Schule dürfen wir nicht albanesisch sprechen.
Albanesisch ist keine Sprache, sagt der Lehrer.
Er spricht nur italienisch.
Niemand verstehe uns.
Jetzt weiss ich, warum meine Eltern
nicht verstanden werden im Ausland." (I,55)
Der Leser entnimmt hier ein plausibles Bild des Vorgehens bei der Erziehung mit der persönlichen geistigen Verbindung, Deutung des Lebens der Eltern in der Fremde.
Im dritten Band aber, wo derselbe Ich-Erzähler erwachsen ist und mit dem Vater im Zug sitzt, der sie zur Beerdigung der Mutter in die Heimat bringt, wird eine andere Erinnerung aus dieser Zeit zum Anlass, eine Analyse seiner selbst zu machen, die in die gegenwärtige Situation mündet:
"Mein alltäglicher Gang zur Schule war eine Auswanderung. Von der Muttersprache in die Staatssprache. "Scuola elementare", hinter grossen Mauern. Die Gassen, die Plätze, die Bäume, die Häuser, die Olivenhaine, die Kastanienwälder waren Muttersprache. Alles Albanisch, fünfhundertjährig und mehr, den Türken entzogen. Im Laufe der Zeit ist es Italo-Albanisch geworden und stirbt in diesem Jahrhundert.
Schreibe also nicht Muttersprache, nicht Staatssprache, sondern Fremdsprache, ich schreibe Deutsch." (III, 221)
Der letzte Satz deutet auf eine Trennung von den Kinderjahren und dem bipolaren Kulturkontext, um eine Feststellung und auch eine Wahl kundzugeben. Obwohl das Deutsche aus dem Emmental biographisch gelesen fremd wirkt, spielt es eine entscheidende Rolle in der Verwirklichung des Ich des Erzählers. Dies hat treffend Charles Cornu erkannt, als er in seiner Rezension Folgendes schrieb: "... man begegnet einer Trilogie des Heimatverlustes und der Heimatsuche und des Heimischwerdens in der neuen, der deutschen, Sprache."(8) Bemerkenswert sind die letzten Zeilen des ersten Bandes, da sie mit einer aufgeregten Hoffnung enden und zwar der Freude, in der dritten Sprache "schon" ein Wort aufgenommen zu haben:
"Jetzt bin ich im Ausland.
Es ist Winter.
Alles ist voll Schnee.
Ich kann schon ein Wort in der fremden
Sprache.
Salü." (I,96)
Diese Feststellung des Kindes weist daraufhin, dass der Autor Micieli hier den Schlüssel zum Kontakt im "Ausland" preisgibt, und zwar das Erlernen der fremden Sprache. Mit diesem Schlüssel kann ein jeder es wagen, sich in der Fremde niederzulassen.
Der Ich-Erzähler erkennt aber die Welt der Sprache erst, nachdem er sie erlernt hat und skizziert erst im letzten Band dieses Erlebnis wirklichkeitsgetreu:
"Die Sprache ist anders. Keine Ausweise. Die Sprache, eine langsam eroberte Heimat. Vom ersten Salü über die Verwechslungen, Fehler, bis zu den kurzen, vorsichtigen Sätzen." ( III, 246)
Der komplizierte Weg zu diesem Ergebnis und zwar in einer der Schweizersprachen zu schreiben, wurde sehr deutlich durch Cornu dargestellt: " Francesco Micieli, der [...] von den in der Schweiz arbeitenden Eltern zu sich ins "Ausland" geholt worden ist, erzählt vom festen Grund eigenen Lebens und Erlebens aus." [...] "Jeder Satz lässt einen spüren: Da ist nichts bloss Nach- und Anempfundenes, sondern bei aller Kühnheit des Gestaltens melden sich hier persönliche Erfahrung, selbst Erlittenes und selbst Beobachtetes zum Wort."(9) Die Qualität des Deutschen wurde andererseits auch durch Beatrice Eichmann-Leutenegger besonders den ersten Band betreffend folgenderweise eingeschätzt: "Ein dichtes Gewebe entsteht, zwischen Poesie und Prosa, dabei von heimlicher Musikalität geleitet."(10)
In diesem Zusammenhang können wir Heinz Klunker nur zustimmen, als er zur Thematik Micielis und ihrer Handhabung in der Sprache Folgendes feststellte: "Micieli schreibt über die Familie, mischt Bitterkeit und Wärme und lässt alles Autobiographische welthaltig werden. Bei ihm vertragen sich die Pizza und Wittgenstein, Skanderbeg und die Carabinieri, der Grossvater und die Heiligen. Präzise Beschreibungen schlagen um in distanzierte Reflexionen, Ironie wird zum Werkzeug der Sinnproduktion."(11) Denn die ironische Perspektive wurde schon durch die Zitate aus dem Original deutlich, aber trotzdem in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Beispiel: "Zeiten, da wurde er häufig von Polizisten angehalten. Überall. Auf Brücken, bei Bahnhofausgängen, in Kneipen. Waren es die langen Haare. War es ein Blick, eine Art des Gehens. Scheinbarer Erzählstoff, ein Beweis seiner Fremdheit? Das glückliche Gefühl beim Zeigen seiner Aufenthaltsbewilligung. In der Schweiz Ausweis C, wie cittadino, citoyen. Der dritte Buchstabe, weil die Logik einfach ist: A, B, C. Anfänger, Betriebsbereit, Civilisiert." (III, 245/246)
Der Optimismus des "Salü" bei der Einreise in die Schweiz erweist sich auch bei der Anpassung des heranwachsenden Schülers und Jugendlichen und zeugt von seinem "Heimischwerden" trotz der Alterität, der mehrfachen Identität, die er innehat. Er erinnert sich aus der zeitlichen Distanz an das Verhalten zweier verschiedener Gruppen, die ihn wegen seiner Leistungen für die eigenen Kreise gewinnen wollen. Er geniesst Unterstützung von beiden Gemeinschaften der Gemeinde. Sprache allein genügt nicht, um akzeptiert zu werden, da oder dort.
Diese Doppelperspektive ist sehr deutlich in folgenden Erinnerungen zu spüren: "Ich hatte als erster Italiener die Sekundarschulprüfung bestanden und war zum Vorzeigeobjekt der emigratorischen Intelligenz geworden. Alle wollten mich mit ihren Töchtern verloben. Ich wurde zum Führer der italienischen Jugendbewegung gewählt." (III, 241) Einerseits sind es seine Landsleute im "Ausland" bzw. in Lützelflüh, die auf ihn stolz sind, da er im Namen der kleinen Gemeinschaft bewiesen hat, dass sie auch dieselben Fähigkeiten haben und dieselben Leistungen erzielen können.
Betrachten wir nun andererseits die Reaktionen der Einheimischen, wie sie Micieli schildert: "Ich war während meiner Zeit im Gymnasium Burgdorf der Liebling der Bürger, die anders sein wollten als die anderen und dazu einen Fremden brauchten. Ein Fremder im Haus, damit bewiesen sie ihre Toleranz, ihre Weltoffenheit, was in diesem Land viel bedeutet. Sie fuhren mich aus, nahmen mich bei ihren Spaziergängen mit, luden mich in Restaurants ein und veranstalten Feste, um mich zu zeigen." (III, 258) Inwiefern das Benehmen der Bürger dem entspricht, was Micieli schreibt, ist nicht die Hauptsache, wichtig scheint mir hier, dass dieses Benehmen der Einwohner eine Antwort auf die echten Bemühungen des Jungen gewesen ist, der seine Begabung fürs Studium entdeckt und positiv ausgewertet hatte. Bemerkenswert ist, dass es die Schweizer Erwachsenen sind, die ihn anerkennen, von seinen Schweizer Mitschülern ist nicht die Rede, eventuell deshalb, weil eine mehr oder weniger bewusste Eifersucht auf die Leistungen des Italieners, bzw. des Ausländers aufgekommen ist, die ja psychologisch gesehen nur normal ist.
Diese Episode zeigt auch, dass die zweite Generation im Ausland das Trauma der Trennung, bzw. des Andersseins einfacher verkraftet. Wir wollen einige Aspekte aus dem Leben der Mutter, der Caterina des zweiten Bandes, heranziehen und sehen, wie sie die zwei Kulturen (Kalabrien und das Emmental) erlebt bzw. verarbeitet hat. Das Auffallendste ist das Bewusstsein der Entwurzelung im Leben in der Schweiz, wie es Caterina darstellt:
"Manchmal denke ich, es ist eigenartig, hier zu sein und doch nicht hier zu sein. Wir sind fremde Bäume. Wir stehen da, wir haben keine Wurzeln, wir geben nur Schatten. Die Schweiz packen wir in unsere Koffer, wenn wir in der Heimat Ferien machen. Käse, Schokolade, Uhren. Für die, die geblieben sind.
Unsere Schweiz sind die Geschenke.
Wenn wir zurückkommen, packen wir unsere Heimat ein. Öl, Wein, Pecorino, Früchte und kalabresische Würste. Wir fressen unsere Heimat wie die Hexe ihre Kinder." (II,167)
Hiermit schildert Caterina das Pendeln mit den Klischees eines jeden Landes aber ohne ein echtes Zuhause zu haben, ohne menschlichen Bezug. Die Geschenke sind ein Ritual, den diejenige, die nicht von der Heimat wegfuhren, einfach erwarten, ob verwandt oder nicht. Sie erzählt diese Sitte unter vielem anderen Erlebten dem Schweizer "Schreiber", der ihre Geschichte aufschreibt. Dies wird eigentlich von Carla Capesciotti in Anlehnung an Pino Fasano als das Fremdsein bzw. die Begegnung zweier Kulturen folgenderweise geschildert: "L'incontro con l'altro genera sempre narrazione, che è il solo modo di comunicare un'esperienza, un vissuto che implica contesti diversi, una diversa dimensione dello spazio e del tempo"(12) und zwar entsteht dabei eine Schilderung von anders Erlebtem, die man mitteilen möchte. Das ist der Fall der echten Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, ein incontro, wo die Kommunikation die Hauptrolle spielt.
Auch Micieli verfährt ähnlich, besonders bei den Helden aus den ersten beiden Bänden, wo das Kind und dann die Mutter von ihrem Alltag und ihrer Umwelt berichten; im dritten verwendet er vielmehr den inneren Monolog, da Vater und Sohn sehr karg mit der Sprache umgehen. Jeder von beiden ist in seinen Gedanken vertieft, wobei der Leser hauptsächlich den Fluss der Gedanken des Sohnes erfährt. Es handelt sich in verschiedenen Phasen seines Lebens volens nolens um den Kulturkontakt, den er gemeistert hat.
Caterina also, als Italienerin in die Schweiz zum Arbeiten gekommen, bezeichnet ihr Heimatland wie folgt: " Ich kenne auch Italien nicht. Italien ist eine lange Reise in die Schweiz und zurück. Italien ist volle Züge; Schweiss; schwere Koffern; Kaffee aus Thermoskrügen; umsteigen in Milano Centrale und Roma Termini. Und dann endlich Santa Sofia, das albanische Dorf auf den kalabresischen Hügeln, geschützt vom Heiligen Thanasi. Gut, dass ihr gekommen seid, heisst es an beiden Dorfeingängen; albanisch, italienisch und englisch." (II, 159) Für sie gilt nicht Italien als Heimat sondern "Santa Sofia, das albanische Dorf auf den kalabresischen Hügeln". An einer anderen Stelle hatte sie zwischen Vaterland und Heimat auf ihre Art und Weise unterschieden: "Das Vaterland ist nicht die Heimat. Das Vaterland sind die Römer, Garibaldi mit seinem schönen Bart, die Könige, die Soldaten, vor allem die gefallenen. Das Vaterland ist mein toter Grossvater." (II, 155)
Lützelflüh im Emmental weist eine unerwartete multinationale Realität auf:
"Ich arme Kirchenmaus packe Käse ein.
Schweizer Käse für die ganze Welt.
Hinter den Maschinen stehen Türken, Spanier, Jugoslawen, Italiener. Eine internationale Versammlung. Vor hunderten von Jahren sind wir vor den Türken geflüchtet.
Oh, du schöne Morea...
Jetzt arbeiten wir zusammen im Ausland.
Skanderbeg, unser albanischer Nationalheld, würde die Welt nicht mehr verstehen.
Sind das die alten Kämpfer, die Helden?
Was soll die Angst in ihren Augen?
Keine Säbel, keine Pferde, nur noch ein wenig Stolz und viel Tschaffe.
Lieber Skanderbeg, so hat sich die Welt verändert." (II,141)
In diesem Ausschnitt des zweiten Bandes mischen sich albanische Geschichte, osmanische Geschichte und das Ausland, als verbindender Knoten all der genannten Völker. Der industrialisierte Export von Emmentaler Käse fordert noch immer Arbeitskraft, sogar aus dem Ausland. Gerade diese Arbeit verbindet die Bürger der Nationen, die in der Geschichte Kriege gegeneinander führten. Vor der Maschine, der Arbeit und dem Ausland sind nun alle gleich, ob ehemalige Beherrscher oder Beherrschte. Deshalb klagt Caterina, weil ihre Kultur wegen der Armut verloren geht und der vergötterte Skanderbeg kaum mehr etwas bedeutet.
Das was Claire Kahmann in Hinsicht auf das Fluchtmotiv behauptet und zwar: "Flucht ist eines der zentralen Themen, vielleicht sogar das stärkste unter ihnen überhaupt. Es zieht sich wie ein roter Faden durch jeden einzelnen der drei Teile und taucht in immer wieder neuen Facetten auf"(13) ist meines Erachtens eine einseitige Reduktion des Werkes, besonders wenn man dieses "Thema" auf den dritten Teil beziehen will. Schon im zweiten ist es fraglich, wenn man daraus "das stärkste" Thema machen will; einzelne Episoden des ersten Teils sprechen dafür, aber als "roter Faden" im ganzen Werk scheint es mir nicht der Fall zu sein.
Die Trilogie bietet vielmehr in jedem der Bände eine Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage, bzw. mit dem Anderssein und kulminiert in der bewussten Wahl einer Heimat, sei sie sprachlich oder geographisch oder rein innerlich vorhanden. Wie Elias Canetti, dessen Muttersprache auch nicht Deutsch gewesen ist und der sogar im englischen Exil die deutsche Sprache weiter zum Schreiben verwendet hat, so scheint Francesco Micieli sich für das Deutsche entschieden zu haben, auch wenn er in Meine italienische Reise u.a. Folgendes feststellt: "Ich schaue in die italienischen Worte - in meine Stiefmuttersprache. Ich bin nicht der, der ich bin. Die Texte, die ich schreibe, sind schon lange da. Ich überschreibe Teile aus einem ewigen Text so gut ich kann, so gut ich höre." (III, 220)
"Mir wird bewusst, dass ich italienisch denke. Wahrscheinlich erkennt mein Gehirn die Grenze und entzieht die Gedanken der deutschen Sprache. Codeswitching, ich muss übersetzen, wenn ich schreiben will." ( III, 250) Er ist aber nicht der Einzige, denn viele Schweizer Schriftsteller denken "Schwizer Dütsch", benutzen aber Hochdeutsch beim Verfassen ihrer literarischen Werke. Wie Urs Widmer nach einer Lesung in Izmir erklärte, übersetze er innerhalb des Deutschen.
Sogar die Erzählhaltung wird bei Micieli bewusst in Frage gestellt: Ein Bild wird zum Anlass, sich selbst als Erscheinung, als ein Ich neu zu betrachten: " Es gibt Aufnahmen von mir, die nicht mich darstellen. Sie stellen keine Nähe her, erwecken keine Familiarität. Sie zeigen mir meine dritte Person. Es ist die Beleuchtung, der Aufnahmewinkel, das Papier, das Ich des Photographen, ich weiss es nicht. Von nun an nenne ich mich er. Es soll keine Regel geben." (III, 224) Offenkundig wechselt der Autor von der ersten zur dritten Person des Narrativen: "Von nun an nenne ich mich er." Diese Distanz kann der Schriftsteller Micieli dadurch einfacher gewinnen, weil er die Vielfalt in sich trägt und nur zuzugreifen braucht.
Wir merken durch die obige Auseinandersetzung, dass die Sprache in der Trilogie zu einem Leitmotiv ausgearbeitet worden ist, und Susanne Savel-Damm hat es auch erkannt, indem sie die albanischen Worte am Ende des dritten Bandes, die Sohn und Vater einander sagen, als der Sohn in die Schweiz zurückkehrt und der Vater nun in Santa Sofia bleibt, hervorhebt, indem sie dazu schreibt: "Es scheint ein endgültiger Abschied, der auch versöhnlich macht, angedeutet in den letzten Worten - muttersprachliche Worte."(14)
Bei Francesco Micieli bedeutet aber Sprache Faktor einer Identität, bedeutet Werkzeug, Kunst herzustellen, ist Bestandteil des Affektiven im Menschen. Betrachtet man das Werk und seinen Autor etwas genauer, so ist festzustellen, dass bei den Protagonisten der Werke wie auch beim Schriftsteller selbst die verschiedenen kulturellen Elemente nicht analytisch existieren, sondern als eine einmalige Synthese da sind. Die Komplexität der menschlichen Seele ist durch einen anderen Menschen schwer zu erschliessen und Francesco Micieli scheint uns in dieser Hinsicht zu ermahnen, indem er im letzten Band der Neapolitanerin und uns allen, seinen Lesern, eindeutig klar macht, dass er sein Geheimnis für sich behält: "Meine Hand schreibt Deutsch - was die Seele macht, sage ich Ihnen nicht." (III, 228)
© Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei)
ANMERKUNGEN
(1) Doris Bachmann-Medick, Cultural Misunderstanding in Translation: Multicultural Coexistence and Multicultural Conceptions of World Literature, http://webdoc.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic96/bachmann/7_96.html S.2, Zugriff am 17.03.2003
(2) Vladimir Nikolajewitsch Toporov, Translation: Sub Specie of Culture , www.erudit.org/revue/meta/1992/v37/n1/004495ar.pdf, S.33. Zugriff am 14.05.2003
(3) Ebd., S.33.
(4) Walter Vogt, Nachwort, in: Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat, Kurt Salchli Vlg., Bern 1986, S.96/97. Die 1998 im Zytglogge Verlag Bern erschienene Triogie beinhaltet dieses Nachwort auf Seiten 99-103.
(5) Francesco Micieli, Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat, Das Lachen der Schafe, Meine italienische Reise,Trilogie. Bern: Zytglogge, 1998. Demnächst wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe zitiert.
(6) Carla Capesciotti, Fiaba e intercultura, in Alfredo Luzi (ed.), Fiabe e Popoli. Verso un'Europa multiculturale. Metauri Edizioni, Fossombrone 2000, S.29-45, hier S.30.
(7) Charles Cornu: Die Augen voll, die Hände leer - Francesco Micielis drei Prosadichtungen in einem Band, in: Der kleine Bund, 5. Dezember 1998. Freundlich überreicht vom Zytglogge Vlg., Bern.
(8) Charles Cornu, ebd.
(9) Charles Cornu, ebd.
(10) Beatrice Eichmann-Leutenegger: Familienalbum, in: NZZ vom 9. März 1999. Freundlich überreicht vom Zytglogge Vlg., Bern.
(11) Heinz Klunker: Eine langsam eroberte Heimat - Francesco Micielis Gastarbeiter-Trilogie - eine Familiensaga aus vielfacher Fremde, in: Lesart 4/1998, S.77 Freundlich überreicht vom Zytglogge Vlg., Bern.
(12) Carla Capesciotti, op.cit. S.32.
(13) Claire Kahman: www.literatour-express.de, Pilotausgabe 1999, überreicht vom Zytglogge Vlg., Bern.
(14) Susanne Savel-Damm, in: Bibliotheksnachrichten 2/99 abrufbar unter: www.biblio.at/rezensionen
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