Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.1. Modalitäten von Kulturkontakt
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei)

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Deutsche zwischen Ost und West. Fremdbild und Eigenbild vor dem Hintergrund eines Ungarnurlaubs

Anikó Zsigmond (Szombathely/ Ungarn)
[BIO]

 

Zum Gegenstand meines Kurzvortrags habe ich die Kurzgeschichte Die Wellen des Balaton von Siegfried Lenz(1) gewählt. Das Werk legt über ihren literaturwissenschaftlichen Stellenwert hinaus in einem breiteren kultur– und kommunikationswissenschaftlichen Kontext noch größere Zusammenhänge und Erkenntnisse dar.

Vor einer Auseinandersetzung mit dem Text möchte ich einige Begriffe deuten und das kurze Sujet zusammenfassen.

Im Ungarn der 70-er Jahre bereitet sich der Bruder eines Geschwisterpaares, der aus Westdeutschland kommt, in einem Hotel am Balaton, wahrscheinlich in Balatonfüred, auf ein Wiedersehen mit seiner Schwester vor, die in Ostdeutschland lebt. Beide haben auch ihre Ehepartner dabei, dem westdeutschen Ehepaar schließt sich beim Warten sogar auch ein bekanntes Paar aus ihrem Wohnort Bremen an. Der Bruder ist auf einer individuellen Reise nach Wien unterwegs, die Schwester befindet sich auf einer Gesellschaftsreise mit dem Bus in Ungarn. Die Reflexionen der Vergangenheit, die Gespräche der Protagonisten, die Wartezeit im Hintergrund mit dem ungarischen touristischen Milieu und die mißglückte Begegnung von einpaar Stunden machen die eigentliche Handlung aus, es bleiben für die Ursache der Krise, für die unterschiedlichen Sichtweisen und für die abweichenden kulturellen Identitäten Fragen offen, die im Referat beantwortet werden möchten. Meine Hypothese beruht darauf, dass trotz der gleichen Herkunft, der gleichen Sprache die kulturellen Identitäten der Geschwister nach der Flucht des Bruders aus der DDR vor 13 Jahren eine Veränderung erfahren haben und der verborgene Konflikt verbunden mit einer psychischen Verletztheit der Schwester und Schuldgefühlen des Bruders selbst im neutralen geografischen und kulturellen Hintergrund Ungarns nicht aufgelöst werden konnte. In meinem Referat will ich auf die Schilderung dieser kulturellen Differenzen tiefer eingehen, wobei ich Methoden und Begriffe der Kommunikationswissenschaft, interkulturellen Kommunikation und der Literaturwissenschaft zur Hilfe nehme.

 

2. Begriffsapparat

Kommunikation: der Begriff Kommunikation wird vielfach verwendet und definiert. In meiner Deutung gehe ich davon aus, dass damit jede Art von Verständigung zwischen Menschen bezeichnet wird, in einer offenen Deutung kann man "jedwedes Ereignis, das interpretativ nutzbar ist, Kommunikation nennen"(2). Kommunikation ist mit der Intention verbunden, dem anderen etwas mit Hilfe von Zeichen zu erkennen zu geben. Die Arten der Kommunikation manifestieren sich nach dem Grad, wie der eine seine Intentionen vermittelt: verbal oder nonverbal. Nicht nur sprachliche, sondern auch metasprachliche Zeichen sind bei der Kommunikation entscheidend. Bei spontanen, unbewussten Äußerungen oder bei metasprachlichen Äußerungen, die mit dem Gesagten allerdings nicht korrespondieren, stehen häufig Widersprüche im Hintergrund, die Konflikte aufdecken können. In unserem Fall liefert die Untersuchung des Kontextes, der Kommunikationssituation und mancher Kommunikationsfaktoren für die Krise der Geschwisterbeziehung eine deutliche Erklärung.

Kultur: bei der Suche nach Definitionen kann man mehr als 100 Definitionen der Kultur begegnen. Die für das Referat prägnanteste stammt von Geert Hofstede(3), nach dessen Auffassung die Kultur die mentale Programmierung bedeutet, die jedes Mitglied einer gegebenen Gemeinschaft, Organisation oder Gruppe erlebt und entsprechend derer er voraussichtlich folgerichtig handeln wird. Thomas (1993, S. 380-381) geht bei seiner Kulturdefinition von einem Orientierungssystem aus, das allen Mitgliedern einer Gemeinschaft vertraut ist. Es wird aus spezifischen Symbolen gebildet und beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder. Als zentrale Merkmale eines Kultursystems gelten die Kulturstandards. Es sind Merkmale, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird auf der Grundlage dieser Kulturstandards beurteilt und reguliert. Kulturelle Eigenheiten bilden die Schichten der Kultur, wie sie Hofstede nennt. Die Zuordnung zu einer bestimmten Schicht kann auf Grund gemeinsamer kultureller Faktoren erfolgen. Die Herausbildung einer kulturellen Schicht ist nicht ausschließlich nur durch ethnische, nationale, regionale, religiöse oder sprachliche Zugehörigkeiten, sondern durch das Alter, das Geschlecht, die soziale Schicht, den ausgeübten Beruf geprägt. In jeder Schicht soll eine Serie kultureller Eigenschaften nachgewiesen werden können. Hofstede hat diese Serie kultureller Eigenschaften hierarchisch in einem Modell, dem sog. Zwiebeldiagramm zusammengefasst.

Symbole umfassen Worte, Gesten, Bilder und Objekte, die eine Aussagekraft besitzen, mit denen sich die Menschen identifizieren, die derselben kulturellen Gruppe gehören.

Helden sind lebendige, verstorbene oder imaginäre Personen, die in einer gegebenen Kulturgruppe einen hohen Stellenwert besitzen.

Als Rituale gelten für das Kollektiv übliche Tätigkeiten.

Werte reflektieren die tiefste Ebene der Kultur. Sie sind in der Gefühlsebene der Menschen verankert, dienen als Orientierungsgerüst für das Denken und das Verhalten eines Individuums und bilden die Grundlage für Reaktionen und Bewertungen.

Stereotyp: ist ein Vorurteil. Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen gerichteten Überzeugung. Stereotypen sind kollektiv und ihrer Entstehung liegen Kontrasterfahrungen zugrunde. Stereotypen werden bei der Einschätzung von Kommunikationssituationen und kollektiven Gruppen verwendet.

In der Kurzgeschichte kommt deutlich zum Vorschein, wie das Alltagsleben so nebenbei von vielen Stereotypen durchdrungen ist.

 

3. Fremdbild und Selbstbild

Die Darstellung der unterschiedlichen Kommunikationselemente in der Kurzgeschichte skizziert das Selbst- und Fremdbild der betreffenden Figuren und die durch sie erfassbaren kulturellen Identitäten.

In meiner Untersuchung werden die wichtigsten Konstituenten der Situationen gedeutet. Eine Kommunikationssituation wird durch die Interaktion der unterschiedlichen Figuren und Figurenkonstellationen geprägt. Demgemäß lassen sich in der Kurzgeschichte 9 Kommunikationssituationen unterscheiden, die sich durch eine symmetrische Struktur je nach der Figurenkonstellation auszeichnen. In der Kurzgeschichte lassen sich 3 deutsche Ehepaare und das ungarische Hotelpersonal unterscheiden. Erst in der 6. Situation sind alle drei Ehepaare vorzufinden, sonst bilden die erste und die letzte Situation einen Rahmen, wo nämlich nur ein und dasselbe Ehepaar zu finden ist. Es gibt wenig kürzere Situationen, in denen nur Zustandschilderungen und Beschreibungen vorherrschen, sie besitzen zwar manche Aussagekraft, sind für die Zielsetzung des Kurzvortrags nicht so relevant. Die drei Ehepaare lassen sich durch folgende Sammelmerkmale bestimmen:

Das 1. Ehepaar: Dr. Thape und seine Frau Judit repräsentieren eine kulturelle Mischehe, denn Dr. Thape kommt aus der DDR, er verließ seine Heimat vor 10 Jahren illegal, machte eine Karriere als Patentanwalt, Judith ist eine Westdeutsche und Hausfrau.

Das 2. Ehepaar: Trudi und Reimond, Trudi ist Dr. Thapes Schwester, beide sind Ostdeutsche und kommen aus der DDR. Trudi ist Kindergärtnerin, Reimund ist Schiffbauarbeiter.

Das 3. Ehepaar: Herr und Frau Schuster sind Westdeutsche, begegnen zufällig dem Ehepaar Dr. Thape. Frau Schuster ist Frau Thapes Masseuse.

Es handelt sich um folgende Kommunikationssituationen:

  1. Ehepaar Thape am Seestrand
  2. Ehepaar Thape und Ehepaar Schuster beim Kaffee auf der Terrasse
  3. Ehepaar Thape am Seestrand
  4. Ehepaar Thape im Zimmer bei der Vorbereitung auf das Abendessen
  5. Ehepaar Thape und Ehepaar Schuster beim Abendessen im Restaurant
  6. alle drei Ehepaare im Restaurant
  7. die Geschwister mit ihren Ehepartnern im Restaurant
  8. die Geschwister mit ihren Ehepartnern im Zimmer Dr. Thapes
  9. Ehepaar Thape im Zimmer

Die 1.-5. Kommunikationssituationen schildern die Erwartungen des Ehepaars Thape, die 6-8. stellen die Begegnung dar und die 9. skizziert den schockierenden, abschiedslosen Abschluss der Begegnung. Die drei großen strukturellen Einheiten führen die Ereignisse langsam zum unerwarteten Schluss und die Analyse der kulturellen Komponenten, die sich in den Kommunikationseinheiten enthüllen, erklärt die Krise. Die einführende Einheit nimmt relativ viel Platz in der Erzählstruktur ein, denn die optimistischen und idealistischen Erwartungen Dr. Thapes sollen einen Kontrast zu den nüchternen Tatsachen der Entfremdungserfahrung der 2.-3. Einheit bilden.

In den Einheiten manifestieren sich folgende Komponenten der kulturellen Identität der Protagonisten. Es wird zunächst nach der kulturellen Gruppe eine Klassifizierung gemacht.

Merkmale

Westdeutsche: Ehepaar Schuster

Ost-Westdeutsche: Ehepaar Dr. Thape

Ostdeutsche: Trudi und Reimond

Wohnort

Bremen

Bremen

Stralsund

Geburtsort und Kindheit

BRD

BRD/DDR

DDR

Alter

40-50 Jahre alt

Aussehen

Kitschige Bekleidung:

Beim Abendessen: "rosafarbener Abendanzug mit Goldblattgürtel" und weiße Hose mit weinrotem Klubjackett"

modische Eleganz

Etwas altmodisch: Reimond im Hemd mit Schillerkragen, Trudi: "Dame im unzeitgemäßen Hut" (Frau Schuster)

Sozialer Status

Arbeiter

Intellektuelle

Arbeiter, Trudi hat mit dem Studium aufgehört

Lebensstil

Bürgerlicher Wohlstand, eigenes Auto

Urlaub: individuell, 3 Wochen

Bürgerlicher Wohlstand, eigenes Auto: Mercedes

Urlaub: individuelle Geschäftsreise, 3 Tage

ärmliche sozialistische Verhältnisse, Bus

Urlaub: Gruppenreise

Charakter

Frau: neugierig, lästig, geschwätzig, taktlos

Mann: gleichgültig, resigniert (Pantoffelmann)

Dr. Thape: mitten in den Erinnerungen, Nostalgie, ehrliche Freude und Erwartung, Ungeduld, Suche nach Bindungen zum Vaterland und zur Familie, Neigung zu den Wurzeln

Judith: unsicher, naiv

etwas derb, wortkarg, kühl

Judith über Trudi: "unbestimmte Schmerzlichkeit", über Reimond: "düsteres Aussehen", weichen den Fragen nach ihrem Lebensniveau und der politischen Situation des Vaterlandes aus

Rituale 1.

Kaffee auf der Terrasse

Kaffee auf der Terrasse

-

Rituale 2

-

Geschenke (wertvolle Manschettenknöpfe für Reimond, dem aber das passende Hemd dazu fehlt = kein alltäglicher Bedarf wie bei Dr. Thape)

"nichts anderes mitzubringen gewagt, als die Taschenuhr" des Vaters für Dr. Thape

Begrüßung der DDR-Gäste

Hände schütteln

umarmen

umarmen

Haus und Weltlauf

Einfamilienhaus

Einfamilienhaus, berufliche Laufbahn

Geburtshaus: Trudi: "alles wie früher zu Hause",

Reimond: "Auf die Frage: Wie geht’s?, würde ich nur sagen: keine Ersatzteile. Und dann im einzelnen begründen. Auf eine neue Dachrinne fürs Haus warten wir seit anderthalb Jahren, auf eine Verteilerbahn im Badezimmer siebzehn Wochen." (497)

Die Art der Kontakthaltung: Briefwechsel

-

Judith schickt ständig Pakete an Trudi

Trudi trägt die Pakete zum Roten Kreuz

Politische Gruppe

Freie Demokratie

Freie Demokratie

Geschlossener Kommunismus

Politik als Thema

Frau Schusters lästige Fragerei nach den Zuständen in der DDR

Peinliche Stille

ausweichende Antworten

Umgangsformen

auf Geselligkeitsrituale und Konventionen legen Großen Wert

auf Geselligkeitsrituale und Konventionen legen Großen Wert

Höfliche Umgangsformen sind nicht relevant (Trudi trinkt auch Bier)

Ziel der Reise

Urlaub machen

Begegnung und Geschäft

Urlaub machen

Erlebnis der Begegnung

Neugier

Erwartung, am Kontakt liegt für Dr. Thape sehr viel, Judith: ehrlich

Trudi: gleichgültig,

"Über ihr Glas hinweg mustert Judith ihre Schwägerin, prüfend, erstaunt, auch vielleicht um herauszubekommen, was sie zwingt, Trudis Überlegenheit anzuerkennen." (499)

Aus dieser tabellarischen Darstellung geht hervor, dass sich die kulturellen Merkmale der Mikrogruppen an bestimmten Stellen überschneiden. Was auffällt, ist jedoch, dass die kulturelle Korrespondenz zwischen den Geschwistern nur bezüglich der Vergangenheit der gemeinsamen Kindheit, zutrifft, sonst scheint die gemischte ost-westdeutsche Mikrogruppe eher die identitätskonstituierenden Komponenten des Westdeutschen erworben zu haben. Wenn wir die Merkmalgruppen der Tabelle in das Zwiebeldiagramm von Hofstede positionieren, können wir feststellen, dass die äußeren Schalen, die Oberfläche mit ihren Symbolen und eventuellen Ritualen, erschlossen worden sind, so kann man in die tiefere Schicht der Werte gelangen.

Das Ehepaar Thape verkörpert mit seinem Lebensstil eine Wertvorstellung der westlichen Wohlstands- und Konsumgesellschaft, was an folgenden kulturellen Standards zu beobachten ist:

Negative Kulturstandards ergeben sich aus dem Verhalten der Schusters. In ihrer Denkweise sehen wir die Kehrseiten der Errungenschaften der westlichen Demokratie:

Weitere Werte erschließend, bekommen wir allmählich die Erklärung für Dr. Thapes Zwischenstellung zwischen der ost- und westdeutschen Kultur. In ihm sind nämlich allgemeinmenschliche, kulturunabhängige Werte in der Tiefe verankert: Geschwisterliebe, Neigung zur glücklichen Kindheit und Familie, er hat diese Werte beibehalten, hat aber an ihrer Stelle Werte vorangestellt, die er in einer anderen Kultur als Kulturstandards sich angeeignet hat. Die Figuren der Schusters bilden einen sehr treffenden und erschreckenden Kontrast zu seiner eigenen gegenwärtigen Position und zu der vergangenen Position. Zwar teilt Dr. Thape die kleinbürgerlichen Ansichten der Schusters nicht, sie zählen zu der kulturellen Identität, an der er auch Anteil hat. Sein früheres Eigenbild (ostdeutsch) ist ihm fremd, das erworbene Fremdbild (westdeutsch) ist ihm aber nicht ganz eigen, trotzdem hat er Anteil daran. Das ist der Grund dafür, dass er die Anwesenheit der Schusters immer lästiger findet, immer ungeduldiger wird, bis er sich zur Konfrontation entschließt und zu Frau Schuster sagt: "Damit Sie es nun endlich wissen, ich bin nicht von Bremen hierher gefahren, um mir Ihre Ansichten über Körperflora anzuhören." (495)

Siegfried Lenz präsentiert einen Protagonisten, dessen kulturelle Identität sich nicht etablieren konnte, und eben diese fehlende Festigung entlarvt die innere Krise der Persönlichkeit. Dr. Thape konnte einen Teil seiner Selbstverwirklichung in einem anderen zwar gleichsprachlichen kulturellen Kontext um den Preis des Verzichts auf einen Teil seiner früheren Identität durchführen. Die äußeren Umstände haben keinen Kompromiss zugelassen. Diese Erkenntnis wird ihm nach der 13 jährigen Trennung von der Familie bewusst, die Distanz ist zu groß geworden, so dass sich Judiths Befürchtungen, in der Person Trudis und Reimonds Fremde zu treffen, am Ende zu bestätigen scheinen. Wo sie am darauf folgenden Morgen nur einen Brief von Trudi finden, in dem sie erklärt, dass sich eine einmalige Chance geboten hätte, für zwei Tage in die Pußta zu fahren, steht die Krise und die Entfremdung der Kulturen am Höhepunkt. Judith sagt: "Da ist etwas falsch gelaufen." (503) Für Dr. Thape gilt dieser Moment als eindeutiges Scheitern, was zu seiner bisherigen glänzenden Laufbahn im Widerspruch steht. Dieser Moment beweist, dass Kultur ein dynamisches System ist, sich im ständigen Wandel befindet. Dr. Thape hatte eine falsche Illusion von der Unveränderbarkeit der Dinge. Mit seinem Schwager führt er einen metaphorischen Dialog darüber, in dem seine unterschiedlichen Ansichten zum Vorschein kommen:

"Es ist nun mal so, sagt er {Reimond}, alles färbt auf uns ab, die Dinge, die Ideen, die Verhältnisse, so oder so, je nachdem, wo einer lebt. {…} Leider, lieber Reimond, bin ich nicht ganz deiner Meinung, sagt Berti: auf die Blassen, die Farblosen, da färben die Verhältnisse vielleicht ab, aber nicht auf Leute, die sozusagen eigene Grundfarbe mitbringen." (501)

Die ostdeutsche Perspektive ist sehr begrenzt skizziert worden, wahrscheinlich, weil sie auch Siegfried Lenz nicht richtig geläufig war, aber diese Metapher spiegelt sehr treffend die zwei verschiedenen Aspekte der kulturellen Identität von Ost und West. Reimond ist der Meinung, dass die formalen, äußeren Umstände das Individuum und seine innere Überzeugung prägen. Die DDR-Politik, wie die kommunistische im Allgemeinen, hat dem Individualismus keinen Freiraum gelassen, sondern erstrebte eine Uniformierung der Gesellschaft, so dass dem Einzelnen nichts anderes übrig blieb, als sich zu fügen. Berti (Dr. Thape) ist überzeugter Individualist, er meint, man kann aus eigener Kraft die eigene Individuation (Selbstverwirklichung) vorwärts treiben und wer einen starken inneren Halt besitzt, der kann seine inneren Werte bewahren.

4. Stereotypien von Ungarn

In der Kurzgeschichte zeigt sich Ungarn ausschließlich nur als Urlaubsland von der Seite seiner Hotellerie. An den Kommunikationssituationen, in denen die Deutschen mit den Ungarn in Kontakt treten, sind Hotelmanager, Kellner, Stubenmädchen, Zigeunermusiker beteiligt. Im Großen und Ganzen lässt sich feststellen, dass vom ungarischen Hotelpersonal der Manager und die Zigeunermusiker als sehr höflich und zuvorkommend wahrgenommen werden. Kellner und Stubenmädchen haben Sprachschwierigkeiten und demonstrieren nicht immer einen hohen Grad von Gastfreundschaft. Man muss z.B. sehr lange auf die Bedienung warten, was z.B. das Ehepaar Schuster besonders beanstandet. Im gegenständlichen Bereich sticht das Ungarische durch Altmodisches, Schmutziges, etwas Heruntergekommenes ab, das ungarische Benzin riecht stark, die Lackfarbe der Gartentische wirft sich in Streifen auf, der altmodische Ausflugsdampfer ist mit verwaschenen Rostflecken übersät. Die Zigeunerkapelle liefert Musik, typische ungarische Speisen wie Fischsuppe, original ungarisches Hirtengulasch werden serviert. Wein wird gekostet und zum ungarischen Essen gehört der Pflaumenschnaps. Außer der Erholung am Balaton stehen den Gästen Ausflüge in die Pußta zur Verfügung, wo sie echte wilde Pferde sehen können. Das sind die ziemlich stereotypisierten Informationen, die im Zusammenhang mit Ungarn vermittelt werden. Die Perspektive von Lenz war in erster Linie auf deutsche kulturelle Identität ausgerichtet.

 

5. Schlusswort

Der Sinn der Kurzgeschichte "Die Wellen des Balaton" liegt wohl in der Darstellung der Verschiebung und der Verlagerung von kulturellen Identitäten. Siegfried Lenz, dem in seinem Schaffen sehr viel an der Frage der Vergangenheitsbewältigung liegt, machte eben dieses Problem zu einem wichtigen thematischen Aspekt dieser Kurzgeschichte. Die Wurzeln dieser traurigen Situation liegen in der jüngsten Vergangenheit. Antworten und Lösungen seitens Lenz bleiben offen. Er scheint der Position Dr. Thapes, des Ostwestdeutschen Distanz und Identifikation, Kritik und Verständnis entgegenzubringen. Die Etablierung von zwei deutschen Wertesystemen hat einen dissonanten Zustand und eine problematische kulturelle Identität für Dr. Thape und auch für Siegfried Lenz zur Folge gehabt. Siegfried Lenz hat es ganz richtig geahnt, dass sich diese zweifache deutsche kulturelle Identität auch auf die Gegenwart auswirken.

© Anikó Zsigmond (Szombathely/ Ungarn)


ANMERKUNGEN

(1) In: Siegfried Lenz: Einstein überquert die Elbe bei Hamburg. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1975.

(2) R.Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen 1994, S. 104.

(3) Geert Hofstede: Kulturen und Organisationen. 1991.


6.1. Modalitäten von Kulturkontakt

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For quotation purposes:
Anikó Zsigmond (Szombathely/ Ungarn): Deutsche zwischen Ost und West. Fremdbild und Eigenbild vor dem Hintergrund eines Ungarnurlaubs. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_1/zsigmond16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 9.3.2006     INST