Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality
Herausgeber | Editor | Éditeur: Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Mythos Czernowitz

Dieter A. Binder (Universität Graz, Österreich)
[BIO]

 

Im "Jüdischen Verlag" der Verlagsgruppe Suhrkamp erschien 1998 der vom rumänischen Germanisten Andrei Corbea-Hoisie herausgegebene Band "Czernowitz" mit dem Untertitel "Jüdisches Städtebild".(1) Ende 2004 brachte der Czernowitzer Germanist Peter Rychlo in Lojze Wiesers Reihe "Europa erlesen" den Band "Czernowitz" heraus.(2) Zu Beginn der 1990er Jahre widmete Verena Dohrn,(3) die deutsche Literaturwissenschafterin und Journalistin, in ihrem berührenden Essay "Reise nach Galizien" ein ausführliches Kapitel der Spurensuche "Von Tschernowzy nach Czernowitz". Spurensuche und aktuelle Erhebung verknüpften auch der Wiener Musikwissenschafter Otto Brusatti und sein Landsmann, der Fotograf Christoph Lingg, am Ende dieser Jahre in ihrem Band "Apropos Czernowitz".(4)

Diese Liste lässt sich fortführen: Rüdiger Wischenbart konzipierte zeitgleich mit Verena Dohrn Reisebilder für den Rundfunk, die schließlich in dem Band "Karpaten" und dem Untertitel "Die dunkle Seite Europas" auch Czernowitz / Tschernowzy / Cernuti fokussieren.(5) Corbea-Hoisie reflektiert sein Thema in dem Band "Czernowitzer Geschichte",(6) während Rychlo in einer Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina, "Die verlorene Harfe", 2002, sich als Übersetzer dieser Gedichte ins Ukrainische dem "Mythos Czernowitz" verpflichtet.(7) Karl-Markus Gauß und Martin Pollack haben eine vergleichbare Anthologie bereits 1992 mit Prosatexten unter dem Titel "Das reiche Land der armen Leute" versucht,(8) während kurz vor der Wende in Ost- und Westdeutschland mehrere Bände des reichen Werkes von Karl Emil Franzos erschienen sind.(9) Diesen Bänden ging die Neuausgabe der galizischen Geschichten Leopold Sacher-Masochs voraus, dessen "Don Juan von Kolomea" bei Bouvier 1985 in Bonn verlegt wurde.(10) Nahezu zeitgleich publizierte Georg Drozdowski seinen nostalgischen Erinnerungsband "eines alten Österreichers", "Damals in Czernowitz",(11) durchaus vergleichbar mit der deutlich feststellbaren Bereitschaft, Reprints alter Landeskunden und Reiseführer auf den Markt zu bringen. Hermann Mittelmanns "Illustrierter Führer durch die Bukowina" (Erstausgabe 1907) kehrte 2001 und in einer weiteren Auflage 2003 auf den aufnahmebereiten Markt zurück.(12) Im gleichen Jahr gab es die Neuauflage des Bandes von Drozdowski(13) und im Jahr darauf, nämlich 2004, den zweisprachigen Band "Die Bukowina", der erstmals 1899 als "allgemeine Heimatkunde verfasst anlässlich des 50 Jährigen glorreichen Regierungsjubiläums Seiner kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät unseres allergnädigsten Kaisers und Obersten Kriegsherrn [Franz Joseph I.] durch die k.k. Gendarmerie des Landes-Gendarmerie-Commandos No 13" vorgelegt worden war.(14) Nunmehr zeichnet das Bukowina-Zentrum an der nationalen Juri-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi für die Herausgabe verantwortlich, die 2005 auch die zweisprachige "Geschichte von Czernowitz" von Raimund Friedrich Kaindl aus dem Jahr 1908 neu herausgegeben hat.(15)

Neben den unterschiedlichen Aspekten dieser Bände wäre noch auf einen weiteren Darstellungsstrang zu verweisen, der in der Arbeit von Frank M. Schuster hervortritt: In seinem 2004 erschienenen Buch "Zwischen den Fronten" analysiert Schuster das Schicksal der osteuropäischen Juden während des Ersten Weltkrieges und spricht dabei auch Czernowitz und die Bukowina ausführlich an.(16) Ähnlich fokussiert der Sammelband "Zwischen Pruth und Jordan" Lebenserinnerungen Czernowitzer Juden.(17) Schließlich sei in diesem Kontext auch der 2005 publizierten Arbeit von Doris A. Karner "Lachen unter Tränen" gedacht,(18) die sich auf eine Spurensuche zur Geschichte des jüdischen Theaters in Ostgalizien und der Bukowina einlässt.

Durchaus vergleichbar, wenn auch deklarierter maßen nicht ausschließlich auf den jüdischen Aspekt eingeschränkt, ist der Band Cécile Cordons und Helmut Kusdats "An der Zeiten Ränder".(19) In den Jahren davor war es zweifellos Gregor von Rezzoris "Ein Hermelin in Tschernopol", der, 1958 erschienen,(20) in einer relativen starken Breitenwirkung das Bild dieser multikulturellen Stadt am Rande des habsburgischen Mitteleuropas mit Leben erfüllte, wenngleich dieser Band bereits das rumänisch gewordene Cernuti einführte.

Seit Karl Emil Franzos heftig bekämpfter Definition von Czernowitz als blühende Insel der Kultur in "Halb-Asien"(21) gehen die Darstellungen des "jüdischen" Czernowitz mit dem "deutschen" Czernowitz Hand in Hand.(22) Zweifellos findet man im assimilierten jüdischen Milieu dieser Stadt jene charakteristische Mischung aus jüdischer Identität und deutschem Bildungsideal, die typisch ist für weite Bereiche gerade des jüdischen Österreichs der Monarchie. Nicht zuletzt ist ja Franzos selbst ein beredtes Beispiel für diese Positionierung.

Nun ist aber dieses Bild gegenüber dem tatsächlichen Befund abzuwägen. Das Czernowitzer Judentum umfasst eine reiche Palette unterschiedlichster jüdischer Befindlichkeiten im religiösen und politischen Selbstverständnis. Neben orthodoxen, chassidischen und reformorientierten Gruppen, rund 400 Synagogen und Bethäusern im Großraum Czernowitz, findet sich eine sprachliche Pluralität und ein äußerst differenziertes kulturelles Selbstverständnis. So ist dieser Ort von wesentlicher Bedeutung auch für den Aufbruch des Jiddischen als Hochsprache, als nationales Bekenntnis.(23) In der Rezeption des jüdischen Czernowitz durch christliche Autoren ist dennoch eine auffallende Tendenz zur Verkürzung zu beobachten, die vielfach ins Anekdotische ausweicht, um an die Stelle eines konkreten Befundes eine plakative, vielfach an die Bilderwelt Chagalls erinnernde Simplifizierung zu erzielen, deren pittoresker Charme letztlich die Eigenposition im nationalen und sozialen Diskurs überhöht.(24)

Mit der Zerstörung und Vernichtung des multikulturellen Czernowitz, einsetzend mit der rumänischen Politik nach 1920,(25) gesteigert durch den Kahlschlag der ersten sowjetischen Säuberung(26) und "vollendet" im Mord an den Czernowitzer Juden in der Phase der rumänischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus,(27) entsteht eine Erinnerungslandschaft, die gleichermaßen von jüdischen Autoren (Paul Celan,(28) Rose Ausländer,(29) Josef Burg(30)) wie von nichtjüdischen Autoren (Gregor von Rezzori(31)) getragen wird. Angesichts der zerfallenden bipolaren Welt des Kalten Krieges, der Wiederentdeckung jenes Mitteleuropas, das zwischen 1945/46 und 1990 jenseits des Eisernen Vorhangs lag,(32) wird ein häufig falsch verstandener "Habsburger Mythos" lebendig,(33) der in der Sichtweise sich an Karl Emil Franzos annähert und die Geschichte zwischen 1945 und 1990 weitgehend ignoriert.(34) Im heutigen Czernowitz, im Czernowitz der Ukraine, wird förmlich ein "synthetisches" Judentum geschaffen,(35) das, als Lokalkolorit in das "Freilichtmuseum" Czernowitz eingebracht, darüber hinwegtäuscht, dass die Shoa und ihre Folgen aus Czernowitz einen "Ort des Erinnerns" gemacht haben. Das Erinnern wird aber weitgehend extern artikuliert.(36)

Als Pionier auf diesem Gebiet ist zweifellos Corbea-Hoisie zu sehen, der in Czernowitz einerseits einen Brennpunkt städtischer Kultur in Mitteleuropa definiert, andererseits auch im Wort des "österreichischen Jerusalems" die deutsch-jüdische Kultur der Bukowina analysiert. Dabei entsteht das Bild einer konzentrierten "jüdisch ultraorthodoxen Bevölkerung in den Ostregionen (Galizien, Bukowina, Oberungarn)" und deren "sprachlicher Widerstand gegen die zentralistischen Emanzipations-/ Assimilations-Vorgaben" im Gegensatz zu einem urbanen, dem Liberalismus zugewandten Judentum in den Städten; die Spannbreite bewegt sich dabei von einer "kleinbürgerlichen, nur schwach von westlicher ,Bildung’ berührten Schicht" (37) bis hin zu völligen Verknüpfung der Jüdischkeit mit der "deutschen" Staatskultur. Der soziale Status ist dabei sichtlich ausschlaggebend, wie weit außerhalb der Metropole lokale Assimilationsangebote (ungarische, tschechische, polnische, slowakische) angenommen werden oder jüdischnationale Forderungen greifen können und zur Umsetzung einer "eigen jiddischsprachigen oder hebräischen National-Kultur" führen. Der soziokulturelle Wandel des Czernowitzer Raums ab 1848 beschleunigte eine Entwicklung, die zu einer weitgehenden Identität zwischen jüdischem Bürgertum und liberal-zentralistischer "Verfassungspartei" führte, die in dem ethnischen Spannungsfeld zwischen Rumänen und Ruthenen/Ukrainern zunehmend als Vermittler auftreten konnte. "Die deutsch-jüdische ,Kultursymbiose’ schien", so Corbea-Hoisie, "niemals und nirgends vollkommener zu sein!"(38)

Angesichts des weitgehend gleichermaßen verteilten Potenzials der verschiedenen sprachlichen und ethnischen Gruppierungen dieses Raums nutzte man ab 1897 den Antisemitismus, um sich national scharf zu profilieren: Es begann mit dem "Verband der christlichen Deutschen" und wurde von den rumänischen, ruthenischen, polnischen Nationalisten fortgesetzt, die damit den Unterschied zwischen den "Autochthonen" und den "Fremden" herauszuarbeiten suchten. Während das jüdische Bürgertum sich als Repräsentanten des "Bukowinismus" sah, innerhalb dessen sie eine deutschjüdische Identität kultivierte, öffnete sich das Jiddisch sprechende Kleinbürgertum den jüdischnationalen Bestrebungen, nachdem 1908 die weltweit erste Konferenz für jiddische Sprache und Kultur in Czernowitz stattgefunden hatte. Man hatte in diesem Milieu die Krise des Liberalismus erkannt und setzte dieser in sozialer Hinsicht eine Annäherung an die Sozialdemokratie, in nationaler eine Annäherung an den Zionismus oder eben jene "Jiddischkeit" entgegen, die dem Jiddischen einen "dem Deutschen gleichrangigen Status" zugebilligt wissen wollte,(39) denn "Jiddisch, junger frajnt, is a loschn beazmoj!"(40) Corbea-Hoisie verweist bei dieser Entwicklung einerseits auf den sozialen Rahmen, das Kleinbürgertum, zum anderen auf eine Alterskohorte, die Studenten. Es wäre also zu prüfen, ob im Bereich dieser skizzierten Hinwendung zu einer nationaljüdischen Haltung oder zu einer zionistischen Position nicht auch erheblich früher als etwa in anderen Universitätsstädten, hier sei auf Graz verwiesen, die akademische Jugend aus jüdischen Familien unabhängig von ihrer sozialen Herkunft offener wurde für Modelle, die die "deutschjüdische Symbiose" als wenig zukunftsträchtig ansahen und an deren Stelle eine jüdische Selbstdefinition in nationaler Hinsicht zu setzen trachtete, also ein Konzept einer nicht mehr religiös definierten Identität suchte. Die Rahmenerzählung dafür ist auch hier der Antisemitismus der nichtjüdischen, national aber differenzierten Gesellschaft.

Dieses erstarkende "nationale" Selbstbewusstsein wurde von den "Bund"-Sozialisten, die wesentlich aus galizischen und russischen Erfahrungen schöpften, vom "Volksrat", der in den jüdisch-nationalen Studentenverbindungen von Czernowitz und in der Bukowiner Poale-Zion wurzelte, und der "Landespartei" des jüdischen Populisten Benno Straucher getragen. Straucher etablierte zusammen mit ruthenischen und rumänischen Reformern den "Freisinnigenverband", der entschieden am 1909/10 ausverhandelten Bukowiner Ausgleich mitwirkte, wobei damals die De-facto-Anerkennung der jüdischen Nationalität möglich wurde, wenngleich der Staat weiterhin an sich nur die "Israelitische Religionsgemeinschaft" rechtlich legitimierte. Für die aus der altliberalen Tradition kommenden Juden der Monarchie barg diese Entwicklung die Gefahr der "Selbst-Gettoisierung", wie es Theodor Gomperz scharf formulierte.(41) Als der Erste Weltkrieg dreimal russische Truppen in Czernowitz einrücken ließ, die zaristische Militärverwaltung mit aggressiver Willkür vor allem die jüdische Bevölkerung drangsalierte und die Kosaken ihre antisemitische Tradition auslebten, konnte die Monarchie nur mehr kurzfristig ihren Anspruch über die Stadt und die Provinz aufrechterhalten. In berührender Weise begrüßten die Vertreter des Czernowitzer Judentums den jungen Kaiser Karl und dessen Frau Zita, indem sie ihnen mit den Thorarollen entgegentraten.

Der Zerfall der Donaumonarchie brachte die Bukowina in den Verband Rumäniens, das zwar die Juden als Nationalität anerkannte, aber die in der Monarchie erworbene Autonomie der Provinz beseitigte und das Gebiet der zentralistischen Verfassung Großrumäniens unterwarf. Die Juden der Bukowina wurden nunmehr mit dem nahezu systemimmanenten Antisemitismus Großrumäniens konfrontiert, wobei ihnen die extrem misstrauische und nachtragende Bukarester Politik besonders verübelte, dass der Jüdische Nationalrat der Bukowina sich im November 1918 geweigert hatte, "dem Anschluss an Rumänien bedingungslos, das heißt ohne Garantien für die künftige Rechtsgleichheit, zuzustimmen."(42) Ein derartig selbstbewusstes Auftreten, das in den politischen Erfolgen vor 1914 wurzelte, irritierte die rumänische Regierung und diente den rumänischen Antisemiten als "Legitimation" für ihre widerliche Haltung. Die Flüchtlingsströme aus Galizien und Bessarabien veränderten die Strukturen der jüdischen Bewohner von Czernowitz erheblich. Weiters kam hinzu, dass die neue Verwaltung weitgehend jüdische, d.h. deutsch sprechende Beamte entließ und sie durch rumänische Hypernationalisten ersetzte. Dennoch bestanden die deutschjüdischen und die jiddischen Traditionen im politischen und kulturellen Bild des Raumes weiter, wenngleich zunehmend der Antisemitismus das spezifische Leben erschwerte. Die politischen Krise ging mit der ökonomischen Hand in Hand, der rumänische Terror, der von der "Eisernen Garde" und der "National-Christlichen Partei" ausging, wurde kurzfristig von Carol II. gebrochen, so dass über Czernowitz die galizischen und polnischen Flüchtlinge sich vor den Nazis und den Sowjets in Sicherheit bringen konnten. Das Moskauer Ultimatum vom Juni 1940 brachte letztlich den stalinistischen Terror in die Region, der primär die bürgerliche jüdische Oberschicht traf, während die Rückkehr der rumänischen Herrschaft unter dem Schild der vorrückenden Nazis im Juni 1941 nach Pogromen die systematische Liquidation der Bukowiner und Czernowitzer Judenschaft brachte. Der Hitler-Stalin-Pakt und schließlich der nationalsozialistische Überfall auf die Sowjetunion zerstörten endgültig jenes spezifische Leben, das den Mythos Czernowitz ausgemacht hatte.

Die Entsolidarisierung der Gesellschaft setzte sichtlich 1918 massiv ein, da nun nicht mehr das charakteristische Biotop einer ziemlich ausgewogenen multikulturellen, multikonfessionellen und multiethnischen Gesellschaft bestand, dessen größter politischer Erfolg zweifellos im Bukowina-Ausgleich zu sehen war, sondern durch den rumänischen Zentralismus der Interessensausgleich weitgehend zerstört wurde. Hinzu kamen gravierende soziökonomische Veränderungen, die die bis dato allgemein akzeptierten gesellschaftlichen und kulturellen Codes erschütterten und schließlich in eine Minderheiten-Angelegenheit verwandelten. Die neue herrschende Schicht kam nicht aus diesem Milieu, die alte herrschende Klasse hatte abgedankt oder zog sich in private Zirkel zurück. So blieb deren Codierung noch Bestandteil einzelner Fragmente der alten Gesellschaft, die allerdings nicht mehr die Kraft und Anziehung besaß, die Zuwanderer zu integrieren und so zu einem gemeinsamen politischen Engagement zu animieren. Der anwachsende Antisemitismus isolierte die jüdische Gesellschaft in nahezu allen sozialen Segmenten, bevor die "Eiserne Garde", bzw. die Nazis die Macht übernahmen. Innerhalb der alten Gesellschaft von Czernowitz brach damit die dominante deutschjüdische Symbiose zusammen, die an der westlichen Aufklärung und an der deutschen Klassik orientierten alten Segmente konnten angesichts eines Nationalsozialismus, der zunehmend auch die nichtjüdische deutsche Sprachgemeinschaft von Czernowitz erfasste, wohl kaum mehr ihrer eigenen Jugend, geschweige denn den Zuwanderern von 1918ff. ihr kulturelles Selbstverständnis verdeutlichen. Die normative Kraft des faktisch Erlebten musste einfach Barrieren errichten. Letztlich spiegelt der schmale Band Gregor von Rezzoris "Blumen im Schnee" genau diese Fragmentierung, in der noch das "alte Czernowitz" nachschwingt, in dem aber die alte Ordnung durch den Ersten Weltkrieg, durch die familiären Brüche und durch den Verlust der Heimat gekennzeichnet wird.(43) Der Mythos Czernowitz verflacht, er fließt ein in das sagenhafte "Maghrebinien" und kultiviert im Westen das Bild seiner orientalischen Tradition und im Osten das Bild seiner westlichen Sehnsucht.

© Dieter A. Binder (Universität Graz, Österreich)


ANMERKUNGEN

(1) Jüdisches Städtebild Czernowitz. Hg. v. Andrei Corbea-Hoisie und Fotografien v. Guido Baselgia und Renata Erich. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag 1998.

(2) Czernowitz. Hg. v. Peter Rychlo. Klagenfurt / Celovec: Wieser 2004 (= Europa erlesen.).

(3) Verena Dohrn: Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europas. Frankfurt/M.: S. Fischer 1991.

(4) Otto Brusatti, Christoph Lingg: Apropos Czernowitz . Wien – Köln – Weimar: Böhlau 1999.

(5) Rüdiger Wischenbart: Karpaten. Die dunkle Seite Europas. Wien: Kremayr & Scheriau 1992.

(6) Andrei Corbea-Hoisie: Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)-Europa. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2003.

(7) Die verlorene Harfe. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina. Hg. und übersetzt v. Peter Rychlo . Cernivci 2002.

(8) Karl-Markus Gauß, Martin Pollack: Das reiche Land der armen Leute. Literarische Wanderungen durch Galizien. Wien: Jugend und Volk 1992.

(9) Karl Emil Franzos: Erzählungen aus Galizien und der Bukowina. Berlin: Nicolai 1988 (=Deutsche Bibliothek des Ostens bei Nicolai); Karl Emil Franzos: Judith Trachtenberg. Erzählung. Berlin: Nation 1987 (Wien: Globus 1988); Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Mit einem Nachwort von Jost Hermand. Frankfurt/M.: Athenäum 1988.

(10) Leopold von Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hg. v. Michael Farin. Bonn: Bouvier 1985.

(11) Georg Drozdowski: Damals in Czernowitz und rundum. Erinnerungen eines Altösterreichers. Klagenfurt: Kleine Zeitung 1984.

(12) Hermann Mittelmann: Illustrierter Führer durch die Bukowina. (EA Czernowitz 1907/1908). Hg. v. Helmut Kusdat. Wien Mandelbaum 2001.

(13) Georg Drozdowski: Damals in Czernowitz und rundum. Erinnerungen eines Altösterreichers. Klagenfurt: Georg-Drozdowski-Gesellschaft und Carinthia 2003.

(14) Die Bukowina. Eine allgemeine Heimatkunde, verfasst anlässlich des 50 Jahrigen glorreichen Regierungsjubiläums Seiner kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät unseres allergnädigsten Kaisers und Obersten Kriegsherrn [Franz Joseph I.] durch die k.k. Gendarmerie des Landes-Gendarmerie-Commandos No 13, (Czernowitz 1899). Hg. v. Bukowina-Zentrum an der nationalen Juri-Fedkowytsch-Universiträt Tscherniwwzi". Tscherniwzi: Selena Bukowina 2004.

(15) Raimund Friedrich Kaindl, Geschichte von Czernowitz von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart. Festschrift zum sechzigjährigen Regierungsjubiläum Sr. Majestät Kaiser Franz Joseph I. und zur Erinnerung an die erste urkundliche Erwähnung von Czernowitz vor 500 Jahren (Czernowitz 1908). Hg. v. Bukowina-Zentrum an der nationalen Juri-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi . Tscherniwzi: Selena Bukowina 2005.

(16) Frank M. Schuster: Zwischen den Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914 – 1918). Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2004 .

(17) Gaby Coldewey u.a.: Zwischen Pruth und Jordan. Lebenserinnerungen Czernowitzer Juden. Köln – Weimar – Wien 2003.

(18) Doris A. Karner: Lachen unter Tränen. Jüdisches Theater in Ostgalizien und der Bukowina. Wien: Edition Steinbauer 2005 (Theaterspuren.).

(19) Cécile Cordon, Helmut Kusdat (Ed.), An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte, Literatur, Verfolgung, Exil, Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2002.

(20) Gregor von Rezzori: Ein Hermelin in Tschernopol. Ein maghrebinischer Roman. Hamburg: Rowohlt 1958.

(21) Karl Emil Franzos, Von Wien nach Czernowitz, in: Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien: Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland und Rumänien. Leipzig: Duncker & Humblot 1876, Bd. 1, 91 – 113; wiederabgedruckt in: Rychlo, Czernowitz, 16 – 32.

(22) Vgl. z.B. Drozdowski, Damals, 14 – 19.

(23) Dieser Vorgang ist im Wesentlichen identisch mit der Kreierung etwa des slowakischen Nationalgefühls, um nur eine der kleinen slawischen Sprachen zu nennen, deren "Nationswerdung" über Grammatik, Wörterbuch und schließlich Verwendung als Sprache einer eigenen "nationalen" Dichtung gelaufen ist.

(24) Dieser Vorgang setzt letztlich bereits in der Bilderwelt Karl Emil Franzos’ ein, lässt sich aber auch bei Ivan Franko (vgl. Ivan Franko, Meine jüdischen Bekannten, in: Gauß, Pollack, Land, 68 – 77) und vielen Texten jener Autoren nachweisen, die sich in dem von Andrei Corbea-Hoisie herausgegeben jüdischen Städtebild von Czernowitz finden.

(25) "Die zentralistische Verfassung des rumänischen Königreiches traf die bis dahin autonom verwaltete Bukowina besonders. So wurden die Bukowiner Juden systematisch aus dem Staatsdienst eliminiert, weil sie nicht genug rumänisch sprachen"; ein Befund, der wohl auch die deutschsprachigen Bukowiner insgesamt und losgelöst von der konfessionellen Frage traf. Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitz. Bilder einer jüdischen Geschichte, in: Corbea-Hoisie, Czernowitz, 20.

(26) Corbea-Hoisie, 24.

(27) Vgl. Czernowitz, in: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Hg. v. Israel Gutman, Eberhard Jäckel. Berlin: Argon 1993, 297f.

(28) Eine Gauner- und Ganovenweise gesungen zu Paris emprès pontoise von Paul Celan aus Czernowitz bei Sadagora, in: Paul Celan, Gesammelte Werke. Frankfurt/M. Suhrkamp 2000, Bd. 1, 229f.(EA: Paul Celan, Die Niemandsrose. Frankfurt/M.: S. Fischer 1963.)

(29) Bukowina I, Czernowitz, Bukowina II, abgedruckt in: Rychlo, Harfe, 172 – 176.

(30) Josef Burg, Michael Mertens, Irrfahrten. Ein ostjüdisches Leben. Winsen: Hans Boldt 2000; ders.. Sterne altern nicht. Erzählungen. Winsen: Hans Boldt 2004; ders., Ein verspätetes Echo. A Farschptikter Echo. München: P. Kirchheim 2000.

(31) In diesem Kontext sei auf Gregor von Rezzoris Erinnerungen "Mir auf der Spur" (München C. Bertelsmann 1997) verwiesen, wo er seine eigenen Erinnerungen an Czernowitz (27 – 30) kontrastiert mit den wenig originellen Äußerungen von Nicolaus Sombart (Pariser Lehrjahre 1951 bis 1955. Hamburg: Hoffmann und Campe 1994) und dessen Konstrukte äußerst vehement zurückweist (77 – 84).

(32) Das russische Tschernowzy ist weitgehend außerhalb des Betrachtungshorizonts. Dohrn, Wischenbart oder Brusatti sind darauf bedacht, den verödeten Zustand zu dokumentieren und ihn in einem ansatzweisen Vorgehen mit dem blühenden Czernowitz zu verknüpfen.

(33) Czernowitzer Pasticcio: Texte, Fakten, Anekdoten; eine Textsammlung, herausgegeben anlässlich des 10. Gründungsfestes der "Katholischen Czernowitzer Pennäler" / Red.: Raimund Lang. - Innsbruck: Traditionsverb. "Kath. Czernowitzer Pennäler", 2004; " Czernowitz und die Bukowina einst und jetzt", Ausstellung auf der Schallaburg 2000.

(34) Dies bedeutet, dass die Kulturleistung des habsburgischen Reiches gleichsam auch in einem postkolonialen Duktus gelesen wird.

(35) Vgl. die jiddischen Musikgruppen "Frejlachs aus Czernowitz" oder "Galizianer". Ein extremes Beispiel für dieses "synthetische" Judentum ist zweifellos die Gastronomie von Kazimirez in Krakau.

(36) So erschienen die einschlägigen Publikationen weitgehend im deutschsprachigen Raum, während man in Czernowitz selbst, sichtlich eingebettet in eine neue kulturelle Selbstdefinition, vorwiegend auf das Wiederentdecken der habsburgischen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgreift.

(37) Corbea-Hoisie, Geschichten, 31.

(38) Corbea-Hoisie, Geschichten, 36.

(39) Corbea-Hoisie, Geschichten, 37.

(40) Burg, Echo, 8f. "Jiddisch ist eine Sprache für sich!"

(41) Corbea-Hoisie, Czernowitz, 19.

(42) Corbea-Hoisie, Czernowitz, 20.

(43) Gregor von Rezzori, Blumen im Schnee. Porträtstudien zu einer Autobiographie, die ich nie schreiben werde; auch: Versuch der Erzählweise eines gleicherweise nie geschriebenen Bildungsromans. München: Bertelsmann 2001.


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Dieter A. Binder (Universität Graz, Österreich). Mythos Czernowitz. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_2/binder16.htm

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