Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality
Herausgeber | Editor | Éditeur: Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Frauen entdecken die Welt - Realität und Fiktion bei Autorinnen des Fin de Siècle

Stephanie Günther (Universität Erlangen, Deutschland)
[BIO]

 

Frauen haben zu allen Zeiten geschrieben.

Einen Vortrag mit dieser scheinbar banalen Aussage zu beginnen, mag überraschen. Noch mehr überraschen aber mag die Tatsache, dass zwischen 1871 und 1945 allein in der Stadt Berlin circa 200 Schriftstellerinnen am Werk waren.(1) Heute sind diese Berliner Autorinnen größtenteils in Vergessenheit geraten. Zu erwähnen, dass Frauen zu jedem Zeitpunkt innerhalb der Literaturgeschichte schriftstellerisch tätig waren, ist also nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Im Kanon der Literaturwissenschaft spielen Schriftstellerinnen eine untergeordnete Rolle, und werden verschiedene Literaturgeschichten nach Autorinnen einer spezifischen Epoche durchsucht, so ist das Ergebnis enttäuschend. (2) Dabei zeichnet sich insbesondere die Zeit der Jahrhundertwende, die im Folgenden für den Zeitraum von 1890 bis 1914 angesetzt wird, durch eine Vielzahl schreibender Frauen aus, von denen sich heute in erster Linie Ricarda Huch, Lou Andreas-Salomé, Franziska zu Reventlow und Else Lasker-Schüler größerer Bekanntheit erfreuen. (3) Insbesondere im Zuge der Frauenbewegung der 70er Jahre wurden schreibende Frauen wieder entdeckt, ihre Texte ‚ausgegraben’ und einer kritischen Prüfung unterzogen. (4)

Die mangelnde Beachtung, die Schriftstellerinnen um 1900 samt deren Werk bisher zuteil geworden ist, steht in einem starkem Kontrast zu der Aufmerksamkeit, welche das Thema ‚Frau’ zur selben Zeit erfahren hat. Dieses beherrscht um die Jahrhundertwende nicht nur den literarischen, sondern auch den philosophischen, psychologischen und medizinischen Diskurs. Zahlreiche Abhandlungen über das Wesen der Frau werden um 1900 verfasst. Man betrachte hierzu die Schriften eines Sigmund Freud oder Friedrich Nietzsche und die Flut populär- und pseudowissenschaftlicher Literatur, die um die Jahrhundertwende eingesetzt hat. Als Beispiele für letztere können unter anderem Paul Möbius´ 1900 erschienene Studie Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) oder Richard Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) genannt werden. Der von Männern unternommene Versuch, das Wesen der Frau zu definieren, führt fast immer zur Verwendung von Weiblichkeitsbildern, die bereits zu Stereotypen erstarrt sind:Man(n) greift zurück auf Namen wie "Lulu, Lilith, Mona Lisa", zudem Ophelia, Salome oder Undine, und bezeichnet damit Frauenfiguren wie die der femme fatale, femme fragile oder femme enfant, welche die wichtigsten Weiblichkeitstypen des Fin de Siècle darstellen. Durch eine derartige künstlerische Inszenierung und Stereotypisierung des Phänomens Frau gedenkt der männliche Betrachter - so der Großteil der Forschung - eine Kontrolle über das weibliche Geschlecht zu erlangen, die sich um so wichtiger erweist in Zeiten des sozialen und politischen Umbruchs, wie es um 1900 der Fall ist. (5)

Die Jahrhundertwende stellt eine Zeit des "kollektiven Aufbruchs der Frau"(6) dar. Frauen entdecken zu dieser Zeit in vielerlei Hinsicht die Welt, und der Hintergrund der historischen Frauenbewegung eröffnet hierfür neue Perspektiven. Es gelingt den Frauen in kleinen Schritten, Einfluss zu gewinnen, Mitspracherechte zu erlangen und das Bild in Bezug auf ihr eigenes Geschlecht sowie das Bild, welches der Mann von der Frau besitzt, zu verändern. (7) Und Frauen nehmen engagiert und vehement am Geschlechterdiskurs der Zeit teil. Der weibliche Geschlechterdiskurs, an dem sich viele Frauen teils in essayistischer, teils in fiktionaler Form beteiligen, ist dabei als ein Ergänzungs- und Gegendiskurs zu dem männlichen zu sehen.

Im Folgenden sollen ausgewählte Werke der Schriftstellerinnen Alice Berend, Margarete Böhme und Clara Viebig, deren Hauptschaffensphase in die Zeit der Jahrhundertwende fällt, im Hinblick auf die Frage untersucht werden, welche Weiblichkeitsentwürfe die Autorinnen in ihren belletristischen Werken entwerfen. Bei der Analyse der weiblichen Figuren in ausgewählten Romanen der Autorinnen findet die folgende Annahme Berücksichtigung: Die Geschlechterentwürfe in den fiktiven Texten der Schriftstellerinnen können "als Freiräume der Phantasie besonders aufschlussreiche Quellen für die Gestaltung von Weiblichkeitsvorstellungen - seien sie nun reaktionär oder progressiv -"(8) sein, jedoch dürfen diese nicht unmittelbar auf die gesellschaftliche Realität übertragen werden. Dennoch muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass Literatur immer im sozialhistorischen und soziokulturellen Umfeld entsteht und nicht unabhängig von diesem betrachtet werden kann. Dies bedeutet, dass eine Untersuchung der Frauendarstellung bei Margarete Böhme, Alice Berend und Clara Viebig in die gesellschaftliche und kulturelle Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingebettet werden muss. (9) Die historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen Deutschlands und insbesondere der Stadt Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinterlassen, wie sich bei der Analyse herausgestellt hat, ihre Spuren. Die Darstellung der Weiblichkeit in den Texten der Autorinnen und die individuellen Lebensumstände der Verfasserinnen, Realität und Fiktion, gehen also eine gegenseitige Beziehung ein. Dies heißt jedoch nicht, dass die Texte autobiographisch motiviert sein müssen.

Das schriftstellerische Schaffen von Alice Berend, Margarete Böhme und Clara Viebig fand größtenteils in Berlin statt. Während Berend gebürtige Berlinerin war und dort viele Jahre ihres Lebens verbrachte, gelangten Böhme und Viebig erst später in die Hauptstadt. Für jede der Autorinnen war an Berlin die Hoffnung geknüpft, sich dort als Schriftstellerin zu etablieren. Die Zeit um 1900 stellte sich dabei als eine künstlerisch und schriftstellerisch fruchtbare für die drei Autorinnen dar: Alice Berends Frühwerk ist in dieser Zeit anzusetzen, und Margarete Böhme und Clara Viebig veröffentlichten um die Jahrhundertwende den Großteil ihres umfangreichen Opus. Obwohl die drei Autorinnen an dem gesellschaftlichen Leben Berlins teilhatten - in Berends Haus in Berlin-Zehlendorf hatte sich schon bald ein kleiner Salon herausgebildet - kämpften sie nicht im Rahmen der Frauenbewegung der Jahrhundertwende für die Rechte der Frau. Dennoch waren sie von dieser Bewegung beeinflusst. Ein Blick auf die Biographie der Schriftstellerinnen lässt Ähnlichkeiten mit dem Konzept der ‚Neuen Frau’ erkennen, das von der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende entworfen und propagiert und dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch vorherrschenden traditionellen Frauenbild entgegengesetzt wurde.(10) Insbesondere Alice Berends Leben ist für damalige Verhältnisse sehr unkonventionell: Die Abnabelung von ihrem für Kunst und Literatur weder Verständnis noch Liebe aufbringenden Elternhaus, die Scheidung von ihrem ersten Ehemann und die darauf folgende Liebesheirat mit dem Maler Hans Breinlinger zeigen, dass diese Frau die Bereitschaft, die Konsequenz und den Mut besaß, sich nicht nur gegen den Willen ihrer Eltern, sondern auch gegen die Konventionen, Traditionen und Erwartungen der Gesellschaft durchzusetzen.

Leben und Schreiben in der Großstadt gingen bei den Autorinnen eine enge Beziehung ein, und im Hinblick auf den literarischen Schaffensprozess Berends, Böhmes und Viebigs spielte die Stadt Berlin eine doppelte Rolle. Das Großstadtleben wirkte sich zum einen förderlich und inspirierend auf ihren Schreibprozess aus, wie aus Selbstaussagen der Autorinnen hervorgeht. Weiterhin diente ihnen die Stadt als motivische Quelle für ihre Werke: Die Verbreitung der Prostitution, die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf oder die Arbeitsbedingungen der Frau sind Themen, die im Berlin zur Zeit der Jahrhundertwende Relevanz und Brisanz besaßen. Insbesondere in den Werken Margarete Böhmes ist das sozialkritische Anliegen unverkennbar, ohne dass von der Schriftstellerin damit die Verbreitung aktivistischer Propaganda intendiert gewesen wäre. In den Romanen Berends und Viebigs finden sich detaillierte Milieuschilderungen, in denen dem Leser vor allem das Leben der unteren sozialen Schichten vor Augen geführt wird. Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Berlin des Fin de Siècle und die daraus resultierende Umbruchssituation wirkten sich auch auf die tradierten Geschlechterrollen aus. Frauen besaßen in der Großstadt mehr Entwicklungs- und Entfaltungsspielraum, so dass herkömmliche Modelle von Frau-Sein und Weiblichkeit in Zentren wie Berlin eher aufbrachen und Frauen dort neue Konzepte von Weiblichkeit erproben und leben konnten. Diese großstädtischen Entwicklungen nahmen wiederum Einfluss auf die in den Werken der Autorinnen gestalteten Weiblichkeitsentwürfe.

Zur Zeit der Jahrhundertwende erreichten die Romane Berends, Böhmes und Viebigs fast allesamt sehr hohe Auflagen. Ein Grund dafür, dass Alice Berend heute samt ihrer Werke in Vergessenheit geraten ist, mag darin liegen, dass die Schriftstellerin nicht aktiv an der ersten bürgerlichen Frauenbewegung teilnahm, und dass sie in ihren Werken die Gedanken und Ziele dieser Bewegung nicht unmittelbar umsetzte. Der Bekanntheitsgrad der Autorin Berend hat sich auch im Zuge der zweiten Frauenbewegung und der damit einhergehenden Wieder- und Neuentdeckung von Autorinnen nicht wesentlich geändert. Von einer ‚Renaissance’ kann - im Gegensatz zu Clara Viebig - nicht die Rede sein. Auch Margarete Böhmes Tagebuch einer Verlorenen war um die Jahrhundertwende ein großer Erfolg. Bis in die dreißiger Jahre wurde dieser Roman über hundert Mal aufgelegt und in mehr als 1.200.000 Exemplaren gedruckt. Mit diesen Zahlen nahm Böhme auf der Bestsellerliste um 1905 einen Platz vor Thomas Mann und Hermann Hesse ein.(11)

Die meisten der in den Romanen Berends, Böhmes und Viebigs entworfenen Weiblichkeitsentwürfe bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, Altem und Neuem, Regression und Progression. Innerhalb dieses Spannungsfelds lassen sich verschiedene Einteilungen der analysierten Frauenfiguren festmachen. In den untersuchten Werken der Autorinnen finden sich beschützende Mutterfiguren und sich widersetzende Töchter, Frauen, die sich letztendlich der männlichen Norm unterwerfen und fremdbestimmt werden, Frauen, die kämpfen, gebrochene Frauenfiguren, und Frauenfiguren, die herkömmliche Rollenmuster überschreiten und dem für die Jahrhundertwende so typischen Konzept der "Neuen Frau" entsprechen.

Der innere Zwiespalt, der in fast allen Protagonistinnen der analysierten Romane vorherrscht, ist zurückzuführen auf das Aufeinanderprallen alter, eingefahrener Denk- und Handlungsmuster und der Vorahnungen und Visionen der Protagonistinnen einer noch nicht vollends angebrochenen ‚neuen’ Zeit. Die weiblichen Hauptfiguren der Romane Dore Brandt, Einer Mutter Sohn, Dida Ibsens Geschichte, Tagebuch einer Verlorenen, Christine Immersen, Sarah von Lindholm sowie Das tägliche Brot befinden sich alle auf der Suche nach dem eigenen ‚Ich’ und nach der eigenen Identität.

Die Art und Weise dieser Suche und deren Ausgang weisen dabei Unterschiede auf. Bei Dore Brandt beispielsweise, der Protagonistin aus Berends gleichnamigen Roman, und Christine Immersen aus Margarete Böhmes gleichnamigen Roman ist die Suche erfolgreich: Es gelingt diesen beiden Frauenfiguren, Selbst-Bewusstsein und eine eigene Identität aufzubauen und diese dauerhaft zu etablieren. Beide Frauen verkörpern das Konzept der ‚Neuen Frau’. So zweifelt Christine herkömmliche Auffassungen von der Ehe an, wenn sie sagt:

[...] im übrigen glaube ich, daß die letzten Ziele der Frauen von heute auf anderen Gebieten liegen, als dem traditionellen, der gesetzlichen Vereinigung zweier Wesen verschiedenen Geschlechts zum Zwecke gemeinsamen Haushaltens. Ich möchte aus der kleinbürgerlichen Enge des landläufigen Frauendaseins heraus, mir aus eigener Kraft ein Leben zimmern, ich möchte zu meinem bescheidenen Teil daran beitragen, auch anderen Frauen die Weite des Blicks und des Gedankens und der sozialen Rechte zu erobern, die heute Privilegium der Männer sind.(12)

Die Protagonistinnen Dida Ibsen und Thymian Gotteball aus Margarete Böhmes Romanen Tagebuch einer Verlorenen und Dida Ibsens Geschichte hingegen scheitern bei dem Versuch, sich als Subjekt zu konstituieren, Selbst-Bewusstsein zu entwickeln und auf diese Weise dem inneren Konflikt standzuhalten, der seinen Grund hat in dem Zusammenprall zwischen den Befreiungswünschen einerseits und dem Gefangensein in herkömmlichen Traditionen und Moralvorstellungen andererseits. Das allmähliche Scheitern Didas und Thymians resultiert aus einem immer stärker werdenden Identitätsverlust und einer Gebrochenheit des eigenen ‚Ichs.’ Bei Christine Immersen erfolgt die Identitätsbildung zunächst über ihren Beruf und das damit verbundene Engagement für bessere Arbeitsbedingungen der Frau. Mine Heinze aus Viebigs Roman Das tägliche Brot wiederum gewinnt ihre Identität durch die Mutterrolle. Dank ihres Kindes hat sie die Kraft, den Kampf in der Großstadt Berlin auf sich zu nehmen und zu meistern.

Die in vielen Romanen thematisierte Großstadtproblematik ist mit der Identitätsbildung der Frau eng verknüpft. Wie Georg Simmel feststellt, fällt es in der Großstadt aufgrund der Vielzahl der Reize und Eindrücke schwer, seinem eigenen Ich und seiner Individualität zum Ausdruck zu verhelfen.(13) Aber gerade aus diesem Grund wird die Betonung des eigenen Ichs notwendig und unerlässlich. Insbesondere für die Weiblichkeitsentwürfe der Dida Ibsen und Thymian Gotteball trifft folgende Aussage Hermann Bahrs im Hinblick auf die vielzitierte "Ichlosigkeit der Moderne"(14) zu: "Es [das Ich, S.G.] ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen." (15) Für Dida und Thymian bleibt das Ich eine Illusion. Sie werden in zunehmenden Maße ‚Ich-los’, denn die Welt um sie herum bietet ihnen keinen Halt und keine Orientierungshilfe, und sie zerbrechen an ihrer Situation. Die Versuche der Protagonistinnen, ihr Ich und damit ihre Weiblichkeit zu definieren, weisen letztendlich Ähnlichkeiten mit dem Bemühen der Männer auf, sich durch die Festlegung der Frau als das ‚Andere’ und ‚Fremde’ Klarheit über das eigene Ich zu verschaffen. Sie sind als Reaktionen auf die sich im Fin de Siècle wandelnden Geschlechterverhältnisse und damit als ein Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung der Zeit zu werten. Sowohl die Schilderung verschiedener Reaktionsweisen der Frau wie Unterwerfung, Kampf, Auflehnung gegen konventionelle Moralvorstellungen und Überschreiten herkömmlicher Rollenzuschreibungen als auch die gelegentliche Anlehnung an Stereotypen wie das der "femme fatale" oder "femme fragile" zeigen, dass die Autorinnen verschiedenste Reaktionsmuster der Frau auszuloten versuchen und sich auf diese Weise in Bezug auf ihr eigenes Geschlecht mehr Sicherheit und Klarheit erhoffen.

Auffallend ist, dass bei den in den Romanen entworfenen Protagonistinnen stereotype Weiblichkeitsbilder wie beispielsweise dasjenige der "femme fatale" oder "femme fragile" nie zur Gänze aufgegriffen werden. Thymian Gotteball und Sarah von Lindholm beispielsweise weisen auf der Oberflächenebene einige wenige Ähnlichkeiten mit der Figur der "femme fragile" bzw. "femme fatale" auf. Hierdurch wird einerseits der ‚schielende Blick’ der Frau deutlich, also ein Blick, der nicht unbefangen, unvoreingenommen und autonom ist, sondern durch die männliche Sichtweise von der Frau, männliche Beurteilungskriterien und männliche Wertvorstellungen beeinflusst wird.(16) Andererseits zeigt sich darin aber auch, dass die Schriftstellerinnen in der Lage waren, ihr eigenes Geschlecht aus der Distanz heraus zu betrachten.

In stilistischer Hinsicht werden die Suche und die individuelle Entwicklung einer jeden Protagonistin von den Autorinnen unterschiedlich gestaltet, und dies verweist auf die zur Zeit der Jahrhundertwende existierenden verschiedenartigen literarischen Tendenzen. Als Vertreterin des Naturalismus zeichnet Clara Viebig auch ihre in den Romanen gestalteten Personen in naturalistischer Manier: Ihr Blick auf die Weiblichkeitsentwürfe ist ein von außen gerichteter, mit dem die Frauengestalten als von der Natur determinierte Wesen entlarvt werden. In dem Roman "Das Weiberdorf" von Clara Viebig erweisen sich die Frauen in ihrem Handeln als Produkte ihrer Umwelt: Die Abwesenheit der Männer und der damit verbundene Liebesentzug fördern ihre Wildheit, Triebhaftigkeit, ja Liebestollheit zutage. Innerhalb der Schilderungen Margarete Böhmes nimmt die psychologische Innenschau vor allem in den Romanen "Tagebuch einer Verlorenen" und "Dida Ibsens Geschichte", aber auch in dem Roman "Christine Immersen" einen wichtigen Platz ein. Im Gegensatz zu den Werken Viebigs dominiert in denjenigen Böhmes die Beschreibung der Frau von innen.

Das Bekenntnis zu ihrem Frau-Sein, die Betonung ihrer Weiblichkeit und der mit dem weiblichen Geschlecht verbundenen Rollenattribute erweisen sich für die Protagonistinnen als ein wichtiges Mittel der Identitätsfindung. Insgesamt ist festzustellen, dass der Aufbruch im Geschlechterverhältnis nicht bedeutet, dass sich die Frau ‚vermännlicht.’ Gerade im Bekenntnis zu ihrem Frau-Sein, das nicht eine Anpassung und Unterwerfung, sondern in vielen Fällen eine intensive Auseinandersetzung mit diesem sowie mit der Geschlechterfrage zur Folge hat, ist die Neuartigkeit der Frauenentwürfe wie beispielsweise der Dore Brandt oder Christine Immersen zu sehen.

Sämtliche untersuchten Frauenfiguren erweisen sich in ihren Handlungsweisen als kontext- und situationsgebunden. So werden bei der Figur der Sarah von Lindholm, die in einer von Männern dominierten und männlich geprägten Umgebung aufwächst, weibliche Rollenattribute von allgemein als männlich geltenden Verhaltensweisen überlagert. Gerade im Falle Sarahs wird mit traditionellen Geschlechterrollen gespielt. Die Übernahme männlicher Verhaltensmuster impliziert jedoch keinesfalls, dass die Frauenfiguren eine Identifikation mit ihrem Frau-Sein aufgeben.

Zum Abschluss sei an Margarete Böhmes Roman "Tagebuch einer Verlorenen" exemplarisch vorgeführt, warum dieser heute noch lesenswert ist, und warum diesem Werk ein Platz im literaturwissenschaftlichen Kanon eingeräumt werden kann oder vielmehr sollte. Mit der Protagonistin Thymian Gotteball führt der Roman das Schicksal einer Prostituierten im Berlin der Jahrhundertwende vor Augen. Durch die gewählte Gattung des Tagebuchs und die aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur vorgenommenen Schilderungen werden dem Leser deren Gedanken, Gefühle und innerste Regungen eindringlich vor Augen geführt, und die Unmittelbarkeit der Darstellung verleiht dem Roman eine große Authentizität. Die in dem gesamten Werk vorherrschende Subjektivität und Emotionalität der Darstellungsweise sind dabei in der Konzeption des Romans begründet und machen dieses Werk geradezu aus. Hierin liegt eine Stärke des Romans und keine mit etwaigen Kriterien wie der weiblichen Autorschaft oder gar der daraus resultierenden Annahme einer spezifisch weiblichen Schreibweise zu erklärende Schwäche. Durch eine Revidierung und Erweiterung des Kanons können diese Stärken aufgezeigt werden. In der Ausweitung der Grenzen gängiger Literaturkanones liegt somit ein großes Potential, denn durch sie kann der Entdeckung der Welt durch die Frau (noch) stärker Rechnung getragen und die Mannigfaltigkeit der Literatur noch deutlicher offenbart werden:

© Stephanie Günther (Universität Erlangen, Deutschland)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. hierzu Petra BUDKE und Jutta SCHULZE, Schriftstellerinnen in Berlin 1871-1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk, Berlin 1995, S. 5.

(2) Interessanterweise stellt sich die Lage um die Jahrhundertwende anders dar. Wie Michael S. Batts bei einer Untersuchung verschiedener Literaturgeschichten der Jahrhundertwende feststellt, wurden Schriftstellerinnen darin häufiger erwähnt. Aufgrund der Tatsache, dass die Literaturgeschichtsschreibung in männlicher Hand lag und Frauen sich häufig nicht scheuten, sozial brisante und die weibliche Situation betreffende Themen in ihre Werke einfließen zu lassen, sieht Batts das allmähliche Verschwinden von Frauen aus den Literaturgeschichten als nicht überraschend an. Vgl. Michael S. BATTS, Women in Histories of Literature at the Turn of the Century, in: Seminar 35 (1999), 220-232. Hier stellt sich meines Erachtens jedoch die Frage, warum Frauen dann zu ihrer Zeit - freilich separat abgehandelt unter Rubriken wie ‚Frauenliteratur’ oder ‚Lyrik von Frauen’ - so häufig in die Literaturgeschichten aufgenommen wurden.
Als Beispiele für Literaturgeschichten zur Zeit der Jahrhundertwende, die sich speziell mit dem Schrifttum von Frauen auseinander setzen, seien hier genannt: Ella MENSCH, Die Frau in der modernen Litteratur, Berlin 1898. Mensch beschreibt in diesem Werk spezielle Typen der Frau, die zurzeit um 1900 dargestellt worden sind. Theodor Klaiber, Dichtende Frauen der Gegenwart. Neun Porträts, Stuttgart 1907. Heinrich SPIERO, Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800, Leipzig 1913. Otto HELLER, Studies in Modern German Literature, Boston 1905, S. 231. Otto Heller trifft in Bezug auf eine Trennung zwischen Literatur von Frauen bzw. Männern bereits im Jahre 1905 die wichtige Feststellung: "It is the prevailing practice of historians of German literature to maintain a somewhat rigid separation of sexes, in their classification of writers."

(3) Albert Sörgel bemerkt: "Selten war der Anteil der Frauen an der Literatur so groß wie in der Zeit des Naturalismus." Albert SÖRGEL und Curt HOHOFF, Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Erster Band, Düsseldorf 1964, S. 299.

(4) Teilweise wurden die Texte von Jahrhundertwende-Autorinnen neu aufgelegt, wie dies in den 90er Jahren unter anderem mit vielen Romanen der Schriftstellerin Clara Viebig im Rhein-Main-Mosel-Verlag geschehen ist. Auch einige Werke Alice Berends wurden von dem Berliner Frauenverein AVIVA wieder aufgelegt, und Margarete Böhmes Tagebuch einer Verlorenen erschien 1989 als Neuauflage im Suhrkamp-Verlag.

(5) Vgl. stellvertretend hierzu Bettina Pohle, Kunstwerk Frau. Inszenierungen von Weiblichkeit in der Moderne, Frankfurt a. M. 1998, S. 107/108; Dorothee Scholl, Biblische Frauengestalten in Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende, in: Volker Kapp, Helmut Kiesel und Klaus Lubbers (Hg.), Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt, Berlin 1997, S. 158 [hier finden sich weitere Literaturangaben]; zum sozialhistorischen Hintergrund der Jahrhundertwende und der ersten bürgerlichen Frauenbewegung, die beide sehr gut erforscht sind, vgl. u.a. Ann Taylor Allen, Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800-1914, Weinheim 2000; Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933, Göttingen 1981; Ingeborg Drewitz (Hg.), Die soziale Rolle der Frau im 19. Jahrhundert und die Emanzipationsbewegung in Deutschland, Bonn 1983. Weitere Literaturangaben zum sozialhistorischen Hintergrund der Frauenbewegung finden sich bei Elke Frederiksen (Hg.), Die Frauenfrage in Deutschland 1865 - 1915. Texte und Dokumente, Stuttgart 1981, S. 433-438.

(6) Sabine FEHLEMANN, Von Königinnen und Mägden. Die Frau als Motiv bei Männern und bei Frauen, in: Ulrich Krempel und Susanne Meyer-Büser (Hg.), Garten der Frauen: Wegbereiterinnen der Moderne in Deutschland: 1900-1914, Hannover 1996, S. 61.

(7) Obwohl diese Veränderungsbestrebungen der Frau von männlicher Seite heftigst bekämpft wurden, gibt es auch Stimmen der Anerkennung, die Frauen und den von ihnen behandelten Themen entgegen gebracht wurden. Exemplarisch sei an dieser Stelle Otto Krack zitiert, der über Inhalt und Art der Darstellung bei der Schriftstellerin Gabriele Reuter schreibt: "So hatte noch kein Sittenschilderer diese kleine Welt im Verborgenen beleuchtet; so wahr und offen hatte noch Niemand über die vielgerühmte deutsche Sittsamkeit gesprochen. Eine Frau musste kommen, um uns die Augen zu öffnen, um uns zu sagen, wie es in Wahrheit aussieht." Otto KRACK, Schreibende Frauen, in: Die Zukunft 24 (1898), S. 330.

(8) Natascha WÜRZBACH, Einführung in die Theorie und Praxis der feministisch orientierten Literaturwissenschaft, in: Ansgar NÜNNING (Hg.), Literaturwissenschaftliche Perspektiven. Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier 1998, S. 137.

(9) Die Ansicht Heike Schmids erscheint mir als einsichtig: "Nicht zu trennen ist des weiteren die ‚reale’ Frau von ihren fiktiven, weil literarischen Geschlechtsgenossinnen. Das solchermaßen entstandene, zusammengeschmol-zene Konstrukt exakt in seine Teile zu trennen, ist schlicht unmöglich." Schmids Ansicht zufolge vermag sich die Frau ausschließlich aus einer männlichen Perspektive heraus zu betrachten: "Da sich Frauen lediglich aus der Perspektive anderer, aus einer männlichen Optik heraus kennen, entsteht aus weiblicher Identität und patriarchaler Ideologie ein nicht aufzulösendes Konglomerat." Heike SCHMID, Gefallene Engel. Deutschsprachige Dramatikerinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert, St. Ingbert 2000, S. 19. Vgl. hierzu die abweichende Ansicht Rainer Baasners, der literarische Weiblichkeitsentwürfe stets als abgekoppelt von der gesellschaftlichen Realität sieht: "Literarische Texte sind immer Imaginationen des Weiblichen; es geht nie um wirkliche Frauen, sondern um Konstruktionen biologischer und sozialer Weiblichkeit, die die Freiheit der literarischen Fiktionalität nutzen." Rainer BAASNER unter Mitarbeit von Maria Zens, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft: Eine Einführung, Berlin 1996, S. 153, 154.

(10) Die Bezeichnung ‚Neue Frau’ wurde von Theoretikerinnen der Jahrhundertwende immer wieder in deren Schrifttum verwendet, vgl. hierzu auch Lily von GIZYCKI (= Lily BRAUN), Die neue Frau in der Dichtung, in: Die neue Zeit 14 (1895/96), S. 293-303; Elisabeth DAUTHENDEY, Vom neuen Weibe und seiner Liebe. Ein Buch für reife Geister, Berlin o. J.; Lily BRAUN, Die neue Frau in der Dichtung, Stuttgart 1896.

(11) Vgl. hierzu Arno BAMMÉ, Der literarische Nachlaß der Husumer Erfolgsschriftstellerin Margarete Böhme (1867-1939). Klagenfurt 1993 [Veröffentlichungen aus dem Forschungsprojekt "Literatur und Soziologie", Heft 4], S. 7. Zur Auflagenhöhe der Autorinnen vgl. die Ausführungen im VI. Kapitel; vgl. hierzu auch Donald R. RICHARDS, The German Bestseller in the Twentieth Century. A Complete Bibliography and Analysis, Bern 1968.
Wie Bammé festhält, war der Roman Tagebuch einer Verlorenen "zum kulturellen Ereignis geworden." Bammé, Der literarische Nachlaß der Husumer Erfolgsschriftstellerin Margarete Böhme, S. 49.

(12) Margarete BÖHME, Christine Immersen, [1913], Dresden/Leipzig 1914, S. 76.

(13) Georg SIMMEL, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Rüdiger KRAMME (Hg.), Georg SIMMEL, Gesamtausgabe. Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901 - 1908, Frankfurt a. M. 1995, S. 116-131.

(14) Vgl. Walter FÄHNDERS, Avantgarde und Moderne 1890-1933, Stuttgart 1998, S. 85.

(15) Hermann BAHR, in: Gotthart WUNBERG (Hg.), Hermann Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, Stuttgart / Berlin 1968, S. 190, 191.

(16) Vgl. Sigrid WEIGEL, Der schielende Blick, in: Sigrid WEIGEL und Inge STEPHAN (Hg.), Die verborgene Frau. Sechs Aufsätze zu einer weiblichen Schreibpraxis, S. 83-137.


 

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Stephanie Günther (Universität Erlangen, Deutschland): Frauen entdecken die Welt - Realität und Fiktion bei Autorinnen des Fin de Siècle. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_2/guenther16.htm

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