Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality
Herausgeber | Editor | Éditeur: Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Rekonstruktion deutsch-polnischer Interkulturalität
Kulturraum Schlesien

Norbert Honsza (Hochschule für Internationale Beziehungen Łódź, Polen)
[BIO]

 

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Der Kulturraum Schlesien ist mit einer Identitätsfrage verbunden, die keine statische ist und sich im Laufe der Jahrhunderte im Zuge einer zivilisatorischen Entwicklung verändert hat. Die europäische Integration hat diese Dynamik natürlich wesentlich beschleunigt. "Wenn wir uns heute mit Europa identifizieren, meinen wir als Bezugsgrößen: enge wirtschaftliche Verflechtungen, kulturelle Ähnlichkeiten, ähnliche politische Grundrechte, eine gemeinsame biblisch-christliche Tradition, ähnliche soziale Strukturen. Man könnte sagen: Europäer identifizieren sich in erster Linie mit dem jeweiligen nationalen Erbe und den nationalstaatlichen Strukturen und nehmen schrittweise in ihr Gemeinschaftsbewusstsein supranationale Einrichtungen und andere Länder auf" (Adolf Kruppa).

Bei allen Unterschieden (und Gemeinsamkeiten) bleibt die Sprachvielfalt als kultureller Träger typisch für Europa. Regionale Sprachen bedeuten zugleich kulturelle Eigenarten. Diese Vielfalt wird deutlich, wenn wir paradigmatisch einige hervorragende Dichter nennen, die im schlesischen Kulturraum wirkten: Böhme, Opitz, Gryphius, Eichendorff, Holtei, Hauptmann, Bierbaum, Kerr, Herrmann-Neisse, Scholtis, Bienek und viele andere. Diese Namen strahlen Ehrfurcht und Traditionsbewusstsein aus; ähnlich wie die mit Breslau verbundenen Persönlichkeiten - Ernst Cassirer, Norbert Elias und Edith Stein. Alle sind für die Mentalitäts- und Kulturgeschichte Schlesiens von prägender Bedeutung.

Mit Sicherheit gab es viele interdisziplinäre Bemühungen, die in der Nachwendezeit unternommen wurden, um ein vielschichtiges Bild der schlesischen Region zu entwerfen und somit vielleicht wieder zu einer engeren Symbiose der einzelnen Kulturräume zurückzukehren. All diese Bemühungen sind auch ein Beweis dafür, dass die fast schon sprichwörtlich gewordenen guten deutsch-polnischen Beziehungen über das semantische Feld hinausragen. Wir können heute beruhigt manchmal etwas abgenutzte Begriffe wie Verständigung, Versöhnung oder Partnerschaft, die in der emotionalisierten Wahrnehmungsphase eine wichtige Rolle spielten, ignorieren, um in eine etwas anspruchsvollere Beziehungsphase einzusteigen. Der deutsche Polendiskurs und der polnische Deutschdiskurs müssen sich von einer manchmal hartnäckigen Stereotypie befreien, um noch bestehende Versäumnisse und Forschungsdefizite anzusprechen. Es scheint mir eine beträchtliche Erweiterung eines eher geistigen denn eines symbolischen Dialogs zu sein. Somit kann man Anschauungen nicht teilen, dass der europäische Kulturraum Schlesien von der Nachkriegsgeneration überhaupt nicht wahrgenommen wird. Nur wurde das Thema in den letzten 30 Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts oft genug - und dies auf beiden Seiten - im Rahmen eines schematisierten Weltbildes gnadenlos oberflächlich behandelt. Politische Realitäten wurden verschwiegen, um auf historischen Besitzansprüchen zu beharren. Keineswegs möchte ich weite Gedächtnisräume ignorieren, denn bei der Betrachtung dieses Themas lässt sich der Gefühlshaushalt - wie es Sebald in Luftkrieg und Literatur betonte - nicht völlig ausschalten. Es existieren heute genügend ernsthafte Untersuchungen, die das Thema "Erinnern und Identität" behandeln und im Zuge einer Enttabuisierung stereotype Vorstellungen und Assoziationen, auch von Schlesien und über Schlesier "entgiften". Das bunte Mosaik der Nachbarschaft gestalten Menschen durch Ideen, Institutionen, Tagungen, Begegnungen und Bildungsreisen. Nach 1989 ist das Interesse an Geschichte und Kultur der heutigen Bewohner Schlesiens beträchtlich lebendiger geworden, was mit einem steigenden Regionalbewusstsein verbunden ist. Die bereits schon dritte Generation der in Schlesien lebenden Polen zeigt eine starke emotionale Bindung an die Geschichte und Kultur der Landschaft und bestätigt somit eine regionale Zugehörigkeit, die genau so wichtig ist wie die nationale Bindung.

Heute brauchen wir nicht mehr die Geschichte zu verfälschen und wie einst von einer Wiedergewinnung der Westgebiete Polens sprechen. Die Vergangenheit wurde in der Nachkriegszeit selektiv wahrgenommen. Immer wieder sprach man von einer Zugehörigkeit Schlesiens zu Polen in der Piastenzeit und im frühen Mittelalter. Infolge einer systematischen Beseitigung von Denkmälern, Inschriften und Friedhöfen kam es zu einer manipulierten "Polnisierung" der Landschaft. In großen Städten wie Breslau konnte nicht alles beseitigt werden und man ignorierte viele alte Spuren. Erst Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts kam es zu spürbaren Veränderungen. Antideutsche Parolen wurden abgeschwächt und man reflektierte ohne Emotionen über das kulturelle Erbe in einem universellen europäischen Kontext.

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Der heutige geistige Dialog über den Kulturraum Schlesien ist eine wichtige Stimme im Diskurs, den wir vielleicht Postregionalismus nennen können, wie es übrigens in der literarischen Diskussion um die so genannten "kleinen Heimaten" geschieht. Der so genannte - wie es Helbig nannte - "ungeheure Verlust", wird von Horst Bienek als "verlorene Landschaften der Seele" bezeichnet. Wir wollen heute eher das, was einst geschichtlich "aufeinander prallte" und gewisse Phänomene fetischisierte, im Blickwinkel einer kulturellen Symbiose betrachten. Viele Schriftsteller der Nachkriegszeit - Horst Bienek, Günter Grass und Siegfried Lenz -, um nur auf einige hinzuweisen, bewegen sich doch in traditionsreichen Literaturlandschaften, um wiederum nur Schlesien (Martin Opitz, Angelius Silesius, Josef von Eichendorff, Gustav Freytag, Hermann Stehr, Gerhart Hauptmann), Ostpreußen (Simon Dach, Zacharias Werner, E.T.A. Hoffmann, Max Halbe, Ernst Wiechert, Johannes Bobrowski) und das Baltikum (Eduard Graf von Keyserling, Werner Bergengrün) zu erwähnen. Selbstverständlich waren sowohl die ethnischen, sozialen und kulturpolitischen Verhältnisse als auch die Traditionszusammenhänge, wie es gerade die niederschlesische Region zeigt, sehr unterschiedlich. Deshalb soll man in diesem kulturhistorischen Diskurs jede "Krähwinkel-Perspektive" vermeiden, um deutlich die Akzente auf Zusammenhänge von Eigen- und Fremdkultur zu setzen.

Schlesien (sowohl Ober- als auch Niederschlesien) wurde in den vergangenen zwanzig Jahren sehr oft in einem Europa vergleichenden Zusammenhang reflektiert, wobei an dieser Stelle nur auf zwei wichtige Namen zu verweisen wäre: Norbert Conrads und Hans Hecker. Der Sammelbegriff Europa - dabei denken wir an die vielen Staaten, Völker und Kulturen - ist gar nicht so leicht und einfach zu definieren. "Die Philosophen - meint Hecker - denken an Platon und Kant, die Musiker an Bach und Penderecki, die Historiker an das Imperium Romanum und den Dreißigjährigen Krieg, die Literaten an Walter von der Vogelweide und Adam Mickiewicz, die Politiker an den Euro und die Osterweiterung der Europäischen Union".

Wir sprechen heute fast alle mit einer Stimme über die wünschenswerte Einheit Europas und vergessen manchmal, dass dieses Europa dennoch ein Kontinent der Unterschiede ist, ein Kontinent einer geradezu spektakulären Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Religionen. Von Harmonie oder friedlicher Koexistenz ist nicht einfach zu sprechen, wenn wir nur an die zwei letzten Weltkriege denken. Und trotzdem bleibt für viele Nichteuropäer der Europazentrismus ein fast musterhaftes Beispiel. "Jahrhundertlang haben wir Europäer uns bemüht" - räsoniert Hans Hecker - "das, was wir für unsere Kultur hielten, über den Globus zu transportieren. Die Suche nach günstigeren Verkehrswegen, Entdeckerfreude, Verbreitung des Christentums sowie Eroberungslust und Gier nach Macht und Gewinn, zahlreiche Faktoren kamen zusammen, um die europäischen Mächte zur Expansion über den Erdball hinweg anzutreiben. Große Völker und blühende Kulturen haben wir Europäer ausgerottet und in hohem Maße durch europäische Kultur ersetzt. Auswanderer nach Amerika oder Australien trugen das Ihrige dazu bei. Wer wird im Ernst bestreiten wollen, dass New York oder Sydney europäisch geprägte Städte sind? Wer könnte, wenn er dort in der Oper sitzt und Carmen oder Tannhäuser hört, sichere Kriterien für markante Unterschiede zum Teatr Wielki in Warschau oder zur Bastille-Oper in Paris nennen?"

Kann in einem solchem Zusammenhang, über Schlesien als europäisches Phänomen gesprochen werden? Selbstverständlich sollte man es tun, denn schon geschichtlich sind diese beiden Begriffe eng (manchmal in einer leidvollen Geschichte) verbunden. Ist Schlesien nur irgendeine Region in Europa, wie es viele sind oder kann man in diesem Fall von einem "Sonderstatus" sprechen? Solche und viele andere Fragen scheinen bei der Betrachtung dieses Themas berechtigt zu sein. Mit Recht stellen viele Forscher noch weitere Fragen, die unbedingt beantwortet werden müssen. Seine deutschen Bewohner mussten Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg zum großen Teil verlassen (natürlich wesentlich weniger Oberschlesier). Mitgenommen wurde die Alltagskultur, die Sprache (vor allem der Dialekt), spezifische Verhaltensweisen, auch die Erinnerungen, die bei der Identitätsfrage besonders wichtig sind. Die Fragen werden immer dringender: Sind die neuen Bewohner nun Schlesier geworden, die den materiellen Reichtum dieser Region nicht nur bewahren sondern auch aktiv rezipieren? Und obwohl Migrationen in die gesamte Menschheitsgeschichte (selbstverständlich mit grausamen dunklen Seiten) "eingeschrieben" sind und in einem Geschichtsdiskurs als etwas fast Selbstverständliches erscheinen, so haben fruchtbare Mischungen wandernder Völkerschaften zur Bildung moderner Nationen beigetragen. Die offene Lage Schlesiens, wie es Hecker formuliert - "brachte viele Anregungen, neue Menschen und Ideen, zugleich aber auch fremde Mächte und ihre Armeen, Krieg und immer wieder Not ins Land".

Also auch Schlesien, oder vielleicht Schlesien besonders, war immer schon ein Land starker Gegensätze. Hier blühte ein kultureller und materieller Reichtum, um nur Breslau als Beispiel anzuführen, der im Zweiten Weltkrieg schonungslos vernichtet wurde. Deshalb scheint mir die Bemerkung von Hans Hecker auch so wichtig zu sein, wo er über die historische Region Schlesien räsoniert: "An der schlesischen wie an der europäischen Geschichte werden, sieht man genau hin, Nationalismus, Rassismus und ähnliche problematische Produkte des 19. Jahrhunderts zuschanden. Darin zeigt sich aber gerade die europäische Qualität Schlesiens, das so viele Völker, Bindungen und Fähigkeiten miteinander verbindet und die Bedeutung von Grenzen in Frage stellt".

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Selbstverständlich müssen wir uns auch fragen, wie wir im Zeitalter der Globalisierung (diese Bezeichnung erscheint immer öfter neben dem Schlagwort "Postmoderne"), im Rausch rasanter Medienereignisse mit den Begriffen Region und Europa in ihren vielen Verästelungen zurechtkommen. "Man spricht jetzt" - schreibt Hans-Georg Pott - "vom <Humankapital Mensch> und das ganz ungeniert. Seit dem Zusammenbruch der bipolaren Welt Ende der achtziger Jahre kann man mit dem Begriff Globalisierung natürlich auch die Hoffnung auf eine friedliche Welt der Demokratien verbinden, die auf eine Weltzivilisation mit universellen Menschenrechten zustrebt, in der die verschiedenen Kulturen ihren dann wohl mehr folkloristischen Platz haben."

Es handelt sich wohl nur um eine Binsenwahrheit, wenn wir feststellen, dass Funktionsbereiche und Betätigungsfelder jeder Gesellschaft über Regionen und Nationen hinweg reichen. Wie oft hören wir nach Erweiterung der Europäischen Union, dass "die Identifikation mit einer Nation, eher zu den Auslaufmodellen der Geschichte gehört" (H.-G. Pott). Der Satz: "Kein Mensch lebt global, sondern regional" ist in diesem Zusammenhang fast zu einem fetischisierenden Leitmotiv geworden. Der von Husserl eingeführte Begriff "Lebenswelt" kann eine immer öfter vertretene These bestätigen, dass viele Regionen (auch Schlesien) trotz politischer und sozialer Veränderungen weiterhin in "alten Räumen und Zeiten" leben, die man nun auch dank der Massenmedien durch ein zusätzliches "Weltfenster" beobachten kann. Aber dann müssen wir uns auch bewusst sein, dass eine zweite Realitätsebene entsteht, die wir sozusagen den Beobachtungen der Massenmedien zu verdanken haben, die die Begriffe "Identität" und "Differenz" aus einem tradierten "Kulturrahmen" herausnehmen und ihnen in den einzelnen Regionen eine neue Bedeutung geben. "Daß eine Kultur in dem, was sie vergleicht" - meint Niklas Luhmann in Gesellschaftsstruktur und Semantik - "über sich hinausgehen kann, ohne sich selbst zu verlassen, muß als bemerkenswert festgehalten werden. Sie greift in andere Zeiten, andere Länder, andere <Welten> über, aber lokalisiert ihren Vergleichsgesichtspunkt, ihr <Drittes>, gleichwohl in sich selbst".

Eine globale Kommunikation kann nicht das Gespräch der Menschen in den Regionen über Europa ablösen. Im Handbuch. Interkulturelle Kommunikation und Kooperation, herausgegeben 2003 von Alexander Thomas, lesen wir: "Das Erfassen, Studieren und Verstehen fremdkultureller Werte, Normen, Sitten, Gebräuche, Verhaltensregeln, Menschen- und Weltbilder, kurzum des fremdkulturellen Orientierungssystems, reicht also nicht aus. Hinzukommen muß ebenso das bewußte Erfassen, Reflektieren, Vergleichen und Verstehen des eigenkulturellen Orientierungssystems auf der Grundlage des alltäglichen beruflichen und privaten Lebens, das aber inzwischen so selbstverständlich geworden ist und so routinemäßig zum Einsatz kommt, daß es niemandem mehr bewußt ist". Was im Handbuch so eindeutig formuliert wird, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Kulturalisierung der Konflikte, die in der Ära vor 1989 sehr oft mit der ideologieträchtigen Formel "Kampf der Kulturen" bezeichnet wurde. Aber Kulturen als solche können nicht kommunizieren, das tun Menschen, die in eine Vielzahl von Prozessen der Verständigung (und Abgrenzung) verwickelt sind. In seinem jüngsten Buch Niederschlesien. Land der Begegnung zitiert Andrzej Zawada aus einem 1847 erschienenen Reisebericht von Wincenty Pol: "Die ethnographischen Verhältnisse Schlesiens sind sehr interessant, und es würde sich lohnen, daß jemand sie gemäß der Notwendigkeit der heutigen Zeit aufklärt. Größere Städte ausgenommen, wo die deutsche Sprache überwiegt, spricht hier das Volk im allgemeinen zwei Sprachen, und die polnische Sprache verhält sich hier zur deutschen wie sich ein Haus zu seiner Straße verhält; alle Angelegenheiten im Haus erledigt das Volk unwillkürlich auf polnisch, alle außerhäuslichen Dinge auf deutsch. Alle Aufschriften in den Geschäften sind in zwei Sprachen geschrieben, sogar Deutsche, Eigentümer von Landbesitz, die ihre Güter in den Gegenden haben, in denen die einheimische Bevölkerung polnisch spricht, lernen hier notwendigerweise die Sprache des Volkes. Für das Volk hier ist also die polnische Sprache die Haus- und Kirchensprache". Es ist eine Beschreibung von Zuständen, die die heutigen multikulturellen Erfahrungen vorwegnimmt.

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Der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien wurde über viele Jahre ideologisch instrumentalisiert. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass Schlesien über 30% aller in Polen registrierten Kunstdenkmäler besitzt. Die physische Auslöschung deutscher Kulturerzeugnisse war viele Jahre eine Realität und man kann sich heute nur wundern, dass ein so ausgewiesener Denkmalschutz-Experte wie Professor Stanislaw Lorenz nach dem Krieg fordern konnte: "Wir haben weder einen Grund, die Denkmäler des deutschen Hochmuts zu bemitleiden noch die Pflicht, sie zu beschützen". Der staatliche Apparat spannte fragwürdige "Piasten-Forscher" ein, um den Mythos einer Zurückerlangung zu pflegen.

Das heutige Schlesien hat sich glücklicherweise aus der schlechten Versuchsphase einer Polnisierung befreit und realisiert seit mindestens zwanzig Jahren eine glaubhafte und überzeugende Fusion verschiedener Erinnerungen - ohne Größenwahn auf der einen und Xenophobie auf der anderen Seite. Heute gehört es nicht nur zu einer Selbstverständlichkeit sondern auch zur festen Norm, das Erbe deutscher Kultur zu behüten, um es - wie es Jan Josef Lipski bezeichnete - ohne Lügen und ohne Verschweigen für die Zukunft zu bewahren. "Wir erleben mit" - reflektiert Walter Schmitz - "wie sich Staat und Nation entflechten, wie Aufgaben, auf die wir keineswegs verzichten wollen: die Garantie der Sicherheit nach innen, die Vertretung der Gesellschaften im Verbund der europäischen Union weiterhin durch die politischen Körperschaften, die in den Verfassungen der Staaten verankert sind, übernommen werden, wie aber die identifikatorische Klammer des Nationalen sich lockert, wie Identifikationen sich nun an Regionen binden, aber auch aus gemeinsamen Erfahrungen an gemeinsamem Handeln, aus dem Engagement in eine Zivilgesellschaft gespeist werden. Damit ist über <Souveränität> neu zu sprechen".

Regionale Aktivitäten zeigen oft modellhafte Kooperationen, egal ob sie in Breslau, Kratzkau, Kreisau, Lomnitz, Allenstein, Danzig, Leipzig Düsseldorf oder Külz durchgeführt werden. Diese Aktivitäten sind die glaubwürdigste Annäherung an Europa. Das ist ein Teil einer entideologisierten und unverfälschten Regionalgeschichte.

Die Qualität Schlesiens ist nach der politischen und gesellschaftlichen Wende zum Gütezeichen europäischer Regionen geworden. "Europa zeigt sich heute als das, was es heute ist: als tägliche Aufgabe". (H. Hecker) Diese tägliche Aufgabe realisiert Schlesien über tausende Aktivitäten, die trennende Gräben und Barrieren beseitigen. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich, intensive deutsch-polnische Zusammenarbeit im Bildungsbereich der Jugendlichen, Städtepartnerschaften, Rettung und Renovierung von Schlössern, Kirchen und anderen Kulturdenkmälern, Zusammenarbeit der Museen, enge Zusammenarbeit mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien und eine weit aufgefächerte Kultur- und Wissenschaftskommunikation der Breslauer Universität mit europäischen Hochschulen, Reflexionen über unerwünschte Erinnerungen wie Flucht und Vertreibung, literarische Identitätssuche und viele andere Themen sind in einen Katalog von schon geleisteten Unternehmungen und noch weit mehr bevorstehenden Aufgaben eingeschrieben. Das sichert eine weitere Dynamik in der Entwicklung der schlesischen Region, der bestimmt in den kommenden Jahren keine Stagnation droht.

"Vielleicht sind gerade deswegen die Bezeichnungen <Schlesien> und <Europa> - räsoniert Hans Hecker - zu Begriffen geworden. In ihrer Offenheit liegen ihre exemplarische Bedeutung, ihr Reichtum und ihre Eignung als Größen, auf die wir uns unter den unterschiedlichen Bedingungen und mit den unterschiedlichen Vorstellungen und Zielsetzungen beziehen können. Erinnerung und Hoffnung, Erfahrung und Zielsetzung, Gefühl und Verstand lassen die mitteleuropäische Region Schlesien und die Weltregion Europa zu Bezugsgrößen werden, die sowohl Heimat als auch Weltbürgertum umfassen und möglich machen.

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Schlesien war und ist eine kulturelle Realität (weder verloren noch wieder gewonnen), ein europäischer Raum, der bislang an den geistigen Strömungen immer rege beteiligt war. Breit aufgefasste Geschichtsbilder (oft wesentlich korrigierte) müssen unsere Gedächtniskultur bestimmen. "Und die verpflichtet auch - meint mit Recht Theo Mechtenberg - für die Zukunft zu einer bestimmten Kultur unserer Beziehungen, die es verbietet, eigene Interessen auf Kosten des Anderen zu verfolgen. Auch eine von einem Selbstklärungsprozess bestimmte Relativierung der eigenen Geschichte, wie sie etwa im Historikerstreit versucht wurde, kann letztlich die Grundlage unserer mühsam gewonnenen Beziehungen in Frage stellen. Sie ist gerade darum so gefährlich, weil gemeinhin das Plädoyer für einen Schlussstrich unter die Vergangenheit im Namen der Zukunft geführt wird und dadurch eine sich möglicherweise auf dem Vormarsch befindende Unkultur der Erinnerung wiedergewonnene Zukunft unserer Beziehungen aufs Spiel setzen könnte".

© Norbert Honsza (Hochschule für Internationale Beziehungen Łódź, Polen)


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For quotation purposes:
Norbert Honsza (Hochschule für Internationale Beziehungen Łódź, Polen): Rekonstruktion deutsch-polnischer Interkulturalität. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_2/honsza16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 10.3.2006     INST