Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality
Herausgeber | Editor | Éditeur: Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)

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Entfremdete Heimat und der getrübte Blick der ExilantInnen

Helmut F. Pfanner (Nashville und Lochau)
[BIO]

 

Wie unsere Ansicht von der Wirklichkeit jeweils von subjektiven - vorrangig weltanschaulichen - Faktoren beeinflusst wird, so hinterlassen die der menschlichen Kontrolle entzogenen Faktoren von örtlicher und zeitlicher Distanz ihre Spuren in unserem Erkennungsfeld. Besonders deutlich erfahren dies alternde Menschen, wenn ihnen autobiographische Daten und Orte wohl als subjektiv richtig erscheinen, obgleich sie einer objektiven Prüfung nicht standhalten. Was diesbezüglich außer den altersbedingten Veränderungen des Gehirns in jedem Lebensalter eine Rolle spielt, sind ungewollte und nicht vorhergesehene Einschnitte in den menschlichen Erfahrungshorizont, die den starken Wunsch nach Vergessen oder Bewahren wecken. Negativ empfundene Ereignisse, zum Beispiel ein schmerzlicher Verlust, oder positiv sich der Erinnerung einverleibende Erfahrungen, namentlich die einer glücklichen Lebensphase, können dazu beitragen, eine örtlich oder zeitlich entschwundene Wirklichkeit entweder in ein dunkles Zwielicht des Schreckens oder in einen rosigen Glanz der Idealisierung zu versetzen. Beiderlei Folgen ergaben sich für deutsche und österreichische ExilantInnen, die unter der Gefahr für ihr Leben dem nationalsozialistischen Regime entflohen sind und in einem fremden Land entweder die Rückkehr in ihre Heimat abwarteten oder sich während ihres Aufenthalts in der Fremde zur andauernden Emigration entschlossen.(1) In der gegenwärtigen Untersuchung geht es darum, zunächst dem infolge von Nostalgie verklärten Bild der Heimat mancher deutschsprachigen ExilantInnen des Zeitraums von 1933 bis 1945 in den USA nachzuspüren und anschließend ihr nach 1945 fortbestehendes Bild der Heimat von in Relevanz zu ihrer Erfahrung der Wirklichkeit zu setzen.

Zunächst ist daran zu erinnern, dass der Begriff 'Heimat' jedem Menschen etwas anderes bedeutet: das Land der Geburt, das Elternhaus, dessen Umgebung, ein Dorf, eine Stadt, eine Landschaft in den Bergen oder an einem See, kulturelle oder religiöse Werte, die Muttersprache und vieles andere. Von der nationalsozialistischen Propaganda wurde der Begriff mit 'rassistischen' Kategorien versetzt mit der Absicht, den in die Fremde vertriebenen Deutschen und Österreichern das Recht auf Heimat in ihrem Geburtsland abzusprechen. Auch heute noch äußert sich in der Fremdenfeindlichkeit mancher Länder der Glaube, dass Heimat in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herkunft von Menschen stehe. Wie aber wohl keine Liebe stärker als die versagte ist, so folgt daraus, dass gerade bei den aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen die Liebe zu ihrer Heimat besonders starke Bindungen schuf. Der langjährige Präsident des Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, Fritz Beer, behauptete sogar, dass die von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Juden ihr Geburtsland, in dem ihre Vorfahren über viele Generationen hinweg gelebt hatten, vielleicht mehr liebten als andere Deutsche, weil ihnen alles versagt wurde, was die Grundlage ihrer Existenz gewesen war.(2) Es ist ohnehin bekannt, dass die deutsche Sprache, obwohl sie im 'Dritten Reich' durch ihren 'rassistischen' und militaristischen Gebrauch pervertiert wurde, als das vorherrschende Kommunikationsmittel der meisten deutschen und österreichischen ExilantInnen in der Fremde weiterhin gesprochen und künstlerisch gepflegt wurde.(3) Dieses Phänomen trug dazu bei, dass die exilierten deutschen SchriftstellerInnen sich vielfach als das 'andere Deutschland' - analog lässt sich dies auf die ÖsterreicherInnen übertragen - betrachteten, wobei sie ihre Sprache eng mit ihrer politischen Treue an das Land ihrer Geburt und somit an den Begriff 'Heimat' knüpften.

Wie sehr sich die deutschsprachigen ExilantInnen der dreißiger und vierziger Jahre an ihrer mitteleuropäischen Heimat fest klammerten, dafür gibt es in der Literatur viele Beispiele. In Karl Jakob Hirschs Roman Manhattan Serenade befällt den Protagonisten, ein in New York lebender deutscher Exilant namens Tom, während einer Party beim Anhören von amerikanischer Tanzmusik die ihm selbst ungewohnte Sehnsucht nach dem Klang von Volksliedern. Obwohl diese nicht näher bestimmt werden, geht aus dem Zusammenhang hervor, dass es sich um deutsche handeln muss, denn sogar noch nach der Party klingt seine Jugend und seine Vergangenheit weiter in ihm nach, was allerdings seine amerikanische Frau nicht verstehen kann: "Irgendwo rauscht der Wind noch durch die Wälder seiner Kindheit, wird die Musik seiner Jugend noch gesungen, leise geflüstert, trotz alledem ..."(4). Wenn Tom später einem in New York inhaftierten Nazi-Spion begegnet und von diesem im gemeinsamen Streitgespräch den Vorwurf zu hören bekommt, dass er gegen seine "Heimat" fechte, widerspricht er ihm heftig mit der Behauptung, dass er für sie kämpfe, nämlich für deren Befreiung von Leuten wie der angesprochene Nazi. (Ibid. 117)

Vielfach war die Bindung der ExilantInnen an ihre mitteleuropäische Heimat so emotionell geladen, dass sie ihre diesbezügliche Treue in lyrischer Form zum Ausdruck brachten. Ein besonders einprägsames Beispiel dafür findet sich in einem Gedicht des österreichischen Exillyrikers Friedrich Bergammer, der mit seinem bürgerlichen Namen Fritz Glückselig hieß und in New York einen kleinen Antiquitätenladen betrieb. Betitelt nach dem Standort dieses Ladens, "Madison Avenue", und aufgenommen nach dem Krieg in eine Anthologie des Autors mit dem Titel Flügelschläge,(5) beinhaltet das einstrophige Gedicht den assoziativen Übergang von einer kurzen Begegnung des lyrischen Ich mit einem "Wien, Wien nur du allein..." singenden Schwarzen in New York zu der im Liedtext genannten Heimatstadt des Exilanten; und es endet mit den Worten: "... .Das Lied verklingt/ Er weiß nicht, wem er eine Botschaft bringt./ der wie ein Engel für den Zweifler singt."(6)

Bereits im Titel eines anderen Gedichts, dieses von dem vielleicht bedeutendsten österreichischen Lyriker im amerikanischen Exil, Ernst Waldinger, wird der Bezug zur alten Heimat vollzogen, obwohl der Ausgangspunkt des sich erinnernden Dichters unmissverständlich die Riesenstadt New York ist. Dabei handelt es sich um ein mit "Die Narzissenwiesen von Aussee" überschriebenes Sonett, in dem die zwei Quartette die Empfindungen des aus dem Schlaf erwachenden lyrischen Ich wiedergeben und dessen geistigen Übergang von der Turbulenz der amerikanischen Metropole in die österreichische Alpenvorlandschaft nachvollziehen. Die beiden Terzette folgen mit dem genussvollen Ausdruck der traumhaften Empfindung der heimatlichen Luft und Wiesenflora und enden mit dem nostalgischen Vers: "O Duft der Heimat, nie genug gepriesen."(7) Es gibt von diesem Autor noch andere Gedichte, worin eine kleine Sinneswahrnehmung der amerikanischen Gegenwart plötzlich umschlägt in den Traum von der fernen mitteleuropäischen Heimat. Wodurch sich aber Waldingers nostalgische Erinnerungsgedichte von manchen anderen unterscheiden, ist die Bewusstseinsgewissheit des sich erinnernden Ich, dass seine inneren Bilder nicht der wahren Wirklichkeit sondern einem Traum entspringen. Besonders deutlich merkt man dies in dem Gedicht "Die Schönlaterngasse", das nur einige wenige versteckte Hinweise auf seine Entstehung in New York enthält, etwa wie folgt: "Aufschwillt die Flut, die an den Strand hier/ Mich warf" (Bauernstuben 19), während ein Großteil des vierstrophigen Textes den Blick auf die im Titel genannte Wiener Gasse freigibt und dessen Schlussstrophe in die drei Verse mündet: "Ein Traum reicht in der sanften Hand mir/ Gedanken, süß und heimwehbang,/ Nach stillen Gassen und Gesang." (Ibid.)

Wie auch andere ExilantInnen war sich Waldinger des Illusionscharakters seiner Erinnerungen an die alte Heimat wohl bewusst. Im Extremfall äußerten die AutorenInnen im Exil den Bruch zwischen Traum und Wirklichkeit durch einen abrupten Wechsel im Stil ihrer Aussage. Im Titelgedicht von Waldingers Gedichtsammlung Die kühlen Bauernstuben flüchtet das lyrische Ich zunächst in sechs vierzeiligen Strophen aus der Sommerhitze von Manhattan in die kühle Luft einer Alpenlandschaft; dann spricht es aber in der siebten und letzten Strophe plötzlich seine Vorliebe für den unwirtlichen New Yorker Sommer aus mit der Begründung, dass die Gegenstände seiner Erinnerungen - durch einen Gedankenstrich im zweitletzten Vers vom Vorherigen getrennt - von "Haß und Wahn gewitterfalb umloh[t] " seien. (Bauernstuben 10). In einem Gedicht des 1904 in Wien geborenen und 1971 in New York verstorbenen Autors Alfred Farau schlägt die Freude des lyrischen Ich über seine gelungene Flucht vor Verfolgung und Tod plötzlich um in die Sorge um die in der Heimat zurückgebliebenen Verwandten und Gesinnungsgenossen und endet mit der rhetorischen Frage der letzten Strophe: "Kann der gerettet sein, der immerwährend/ das grenzenlose Leid vor Augen sieht,/ der überdauern muß, wie Stück für Stück/ von seiner Welt versinkt und untergeht?!"(8)

In manchen Texten distanzierten sich die AutorInnen von einer Idealisierung der Heimat so weit, dass sie eine diesbezügliche Haltung ironisiert darstellten und so den Lesern deutlich deren Unwirklichkeit vor Augen führen. Erich Maria Remarque hat in seinem in USA spielenden Exilroman Schatten im Paradies eine Frau mit dem Namen Betty Stein gezeichnet, die mit so starken Heimweh an ihrer Geburtsstadt Berlin hängt, dass sie ihre New Yorker Wohnung mit den gleichen Möbeln wie früher ausstattet und die Wände mit Stichen von Berliner Stadtlandschaften ausschmückt. Trotz der aus Deutschland kommenden Berichte will sie es nicht wahr haben, dass in ihrer Heimat Terror und Vernichtung herrschen, und sie schmachtet sehnsüchtig dem Ende des Krieges entgegen, um in ihr Haus am Olivaer Platz zurückkehren zu können. Allerdings wartet sie auf diese - sowohl durch die Bombardierung der Stadt durch die westlichen Alliierten als auch durch ihren Beschuss durch die Rote Armee vereitelte - Möglichkeit vergeblich, weil ihre Hoffnung während einer vorübergehenden Gegenoffensive der Deutschen in Verzweiflung umschlägt und sie plötzlich stirbt.(9) Ein anderer Charakter des Romans namens Harry Kahn beschreibt den Grundzug von Bettys unrealistischen Hoffnungen treffend, wenn er sie mit der Beschaffenheit eines Vogelkäfigs vergleicht, worin die geblendeten Vögel die Gitterstäbe für harten Stahl halten und es zu spät merken, dass sie gekochte Spaghetti sind. Wenn die Vögel plötzlich - der Bezug auf das Kriegsende ist klar - ausfliegen können, wissen sie zunächst nicht, ob sie singen sollen oder klagen; dann merken sie plötzlich, dass es keinen Sinn hat zu singen, weil sie mittlerweile auch ihren letzten Besitz verloren haben, nämlich ihre romantischen Heimwehgefühle und ihren Hass. Wie fehl am Platz die Sehnsucht nach der Heimat für die exilierten Flüchtlinge aus dem 'Dritten Reich' in jeder Hinsicht war, hat Leonhard Frank in einem autobiographischen Zusammenhang sehr anschaulich zum Ausdruck gebracht. Der deutlich die Züge des Autors tragende Held seines Romans Links wo das Herz ist geht in seinem südkalifornischen Exilort Santa Monica jeden Abend an den Strand, um der untergehenden Sonne nachzublicken im Glauben, dass sich auf der anderen Seite des Ozeans seine europäische Heimat befinde, bis er sich eines Tages seines Irrtums bewusst wird, nämlich dass er nicht in die Richtung nach Europa sondern in die entgegen gesetzte starrte.(10)

Das bringt mich zum zweiten Teil meiner Arbeit, wo es um die Frage geht, inwieweit die Heimat den nach dem Krieg dorthin zurückkehrenden ExilantInnen überhaupt noch den Erinnerungsbildern auch derjenigen unter ihnen, die sich keinen Phantasiebildern hingaben, entsprach. Eine gewisse diesbezügliche Skepsis äußerte sich bereits in einem Gedicht, das Carl Zuckmayer 1939 kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Amerika schrieb. Das dreistrophige Gedicht unter dem Titel "Elegie von Abschied und Wiederkehr" beginnt mit dem Vers "Ich weiß, ich werde alles wiedersehen/ ...", und wiederholt wird dieser Satz am Ende der ersten Strophe nochmals mit dem Nachsatz: ".../ Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen."(11) Auch Ernst Waldinger entledigte sich aller Illusionen, wenn er in einem undatierten Gedicht, dessen Provenienz sich jedoch aus dem textlichen Zusammenhang ohne weiteres auf des Autors New Yorker Exilzeit zurückverfolgen lässt, schrieb: "Im fremden Land, dem ich die Zuflucht danke, / Leb ich heut unbedankt, wie schon zu Haus;/ ..." (Bauernstuben 44) Zwar bezieht sich dieser Satz in erster Hinsicht auf die Erfolglosigkeit des deutsch schreibenden Lyrikers im fremdsprachigen Ausland; doch relativiert der Dichter seine Aussage dadurch, dass er um seine ungebührende Zurücksetzung hinter anderen Dichtern aus weltanschaulichen und 'rassischen' Gründen in der Heimat weiß,(12) eine Situation, von der er wusste, dass sie bereits in der Zeit vor seinem Exil und somit dem ‚Anschluss’ Österreichs an das 'Dritte Reich' bestand und somit auch nach dem Untergang des Nazistaates nicht wesentlich anders sein würde. Waldingers Überzeugung änderte sich auch nicht, als er 1958 erstmals nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrte und er seiner kritischen Begegnung mit der Heimat in mehreren Gedichten Ausdruck verlieh, zum Beispiel in dem Sonett "Die Leopoldstadt", worin es heißt, dass der Heimkehrer das Judenviertel "gänzlich judenfrei" fand, und dessen letzte Strophe lautet: "Und [er] dünkte sich so grenzenlos allein,/ als ob der schwarzen Brandruinen Schwäre/ Noch fremder als die letzte Fremde wäre."(13)

Nicht davon absehen kann man in diesem Zusammenhang von dem seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1949 oftmals zitierten Wort des ehemaligen Erfolgsautors der Weimarer Republik, Alfred Döblin: "Als ich wieder kam, da - kam ich nicht wieder."(14) Wenn sich dieser Satz auch in erster Linie auf die ausbleibende oder zumindest ungebührende Rezeption von Döblins Exilwerken im Nachkriegsdeutschland bezieht, so drückt er in zweiter Linie auch den des Autors vorausgehende Vorstellung übersteigenden Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung seines Heimatlandes aus. Döblin äußerte sich diesbezüglich direkt in einigen Ende 1945 aus Deutschland an Freunde in den USA geschriebenen Briefen, zum Beispiel dem vom 22. Oktober 1945 an Elisabeth Reichenbach, worin er den Schock seiner Ankunft in Baden-Baden beschreibt: "Die Hauptplage bleibt hier die Ernährung. [...] Es mangelt hier die Milch, die Butter, Fleisch, Zucker - auch der Kaffee. [...] Brot ist rationiert. [...] dies kennen wir aus der Zeit nach 1918, aber wahrhaftig, ein schroffer Übergang nach den amerikanischen Fleischtöpfen. [...] Und Salz ist rationiert. [...] Das zweite schlimme Problem ist die Wohnung; wo eine finden? Es sieht fast hoffnungslos aus."(15)

Was in Döblins Beschreibung die allgemeine Situation nach dem Kriegsende im besiegten Mitteleuropa betraf, wurde von anderen ExilantInnen als noch stärker auf die eigene Person bezogen. Besonders eindrucksvoll liest sich in diesem Zusammenhang der Bericht von Günther Anders über seine Wiederbegegnung mit seiner Geburtsstadt Breslau im Jahre 1966, somit einundzwanzig Jahre nach deren fast völliger Zerstörung während des letzten Kriegsjahres. Tagelang bewegte sich der Autor in der nun polnisch Wroclaw heißenden Stadt auf der Suche nach seinem Geburtshaus, weil ganze früher bewohnte Stadtviertel noch in Schutt und Asche lagen und die Umgebung seines ehemaligen Geburtshauses völlig unkenntlich war. Anders kommentierte die Vergeblichkeit seiner Suche nach der ehemaligen engeren 'Heimat' wie folgt sarkastisch mit ironischem Anklang an ein deutsches Soldatenlied: "In der Heimat, da gibt's ein Wiedersehen!/ Nichts wiederzusehen. Lehm. Luft. -"(16)

So eindrucksvoll einen auch das nicht mehr Erkennen der alten Heimat in den Memorieren mancher ehemaligen ExilantInnen beziehungsweise Rückkehrer anmutet, noch grauenhafter prägen sich ihre nur dem inneren Auge sichtbaren Wunden der heimatlichen Örtlichkeiten den LeserInnen ihrer aus der unmittelbaren Erfahrung hervor gegangenen Werke ein. So erinnert sich etwa Mimi Grossberg beim Anblick eines Autoparkplatzes in Wien an den kleinen Spielplatz, den es früher dort gegeben hat und der nach dem Krieg wie ihre Kindheit selbst verschwunden ist.(17) In der von Grossberg herausgegebenen Lyriksammlung Geschichte im Gedicht geben mehrere Texte Zeugnis von der Korrektur der sichtbaren Wirklichkeit durch die der historischen Wahrheit näher kommende innere Vorstellung der AutorInnen. In dem programmatisch "Die Rückkehr" betitelten Gedicht von Friedrich Torberg lauten die zwei letzten, gegen die vorausgehende Beschreibung des Sichtbaren in einer separaten Strophe abgesetzten Zeilen: "Aber wo ich auch gehe, /flattern die dunklen Gewänder der Toten um mich." (Geschichte 72) Ebenso auf die hinter der sichtbaren Wirklichkeit liegende unsichtbare harte Wahrheit bezogen, heißt es am Ende eines Gedichts der Wiener Exilautorin Stella Rotenberg nach der impressionistischen Wiedergabe ihres Anblicks einiger in ihrer Geburtsstadt stehenden Wohnhäuser: "Sie stehen/ als sei nichts geschehen."(18)

Die an keine bestimmte Adresse gerichtete und an keine feste Form gebundene Aussage des zitierten Gedichts von Rotenberg lässt es offen, ob sie nur reine Beobachtung oder auch eine versteckte Anklage an die Scheinrealität des beobachteten Objekts enthält. Diesbezüglich eindeutig ist es dagegen, wenn Hilde Spiel, eine Autorin welche die Kriegsjahre in Großbritannien verbracht hatte, in einem Brief an ihren ersten Ehegatten, Peter de Mendelssohn, der vor ihr aus dem Exil zurückgekehrt war, nach Berlin schrieb, wie entsetzt sie sei über seinen Bericht darüber, dass manche Berliner Künstler anscheinend "unbeschadet aus dem Dritten Reich aufgetaucht waren".(19) Weiter unten berichtet Spiel von ihrer eigenen Rückkehr in ihre Heimatstadt Wien in einem "schizophrenen Seelenzustand" (ibid. 226) und von ihrer Ungewissheit, ob es sich bei einem ihr begegnenden "selbsternannte[n] Widerständler mit dem wieder abgelegten Parteiabzeichen" nicht um den früheren Mörder ihrer Freundin handle (ibid. 227). Gleichfalls auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Augenschein der Unschuld und der verdrängten Schuld bei manchen Einwohnern Wiens nach 1945 bezogen, ist folgende Aufzeichnung in dem Prosatext "Aus dem Tagebuch eines Emigranten" von Alfred Farau: "Was war am schwersten, wenn man hinüberfuhr? Der Zugang zu den Menschen. Weil es keiner gewesen sein wollte."(20) In den Augen der Rückkehrer erweckten die in der Heimat angetroffenen Menschen großenteils den Eindruck, als ob es für sie keinen Einschnitt in der deutschen und österreichischen Geschichte gegeben habe.

Natürlich lässt sich im Nachhinein kaum feststellen, ob die Kluft zwischen den ExilantInnen und den daheim Gebliebenen allein aus den Versteckstaktiken der Letztern oder mindestens teilweise auch aus dem Unverständnis der ersteren herrührte. Karl Jakob Hirsch, der nach dem Krieg im Auftrag der amerikanischen Besatzungsmacht von New York nach München zurückkehrte, stieß auf das Unverständnis einer Frau, welche die Kriegsjahre als Exilantin in England verbracht hatte und sich nun - "natürlich auf englisch" - darüber wunderte, dass er kein Heimweh habe, worauf er ihr entgegnete, dass er keinen Grund dazu habe, weil er nun "daheim" sei.(21) Während diese Anekdote den Schluss zulässt, dass sich auch unter ExilantInnen eine Diskrepanz auftat, nämlich zwischen jenen, die der Heimat ihre Treue hielten und anderen, die ihr den Rücken kehrten, empfand es Hirsch als unverständlich, dass die schrecklichen Erfahrungen der Nazizeit die Deutschen nicht aus ihren alten Gewohnheiten gerissen hatten. Als ein Zeichen ihres ungebrochenen "Ordnungssinn[s]" sah er im Münchener Hofgarten einen alten Mann, der - wie es aussah - freiwillig die Beete und das Gras sauber kehrte und seine Tätigkeit mit dem Satz kommentierte: "Ich muß doch den Saustall etwas aufräumen, es sieht ja furchtbar aus." (Quintessenz 259)

Wohl hört sich dieser Bericht von Hirschs Begegnung mit einem seinem anerzogenen Charakter gemäß handelnden Alten ziemlich harmlos an. Anders jedoch klingen die Aussagen von Rückkehrern, die in den ihnen in der Heimat begegnenden Menschen Anzeichen einer ungebrochenen Nazigesinnung sahen. So fragt sich das lyrische Ich in der letzten Strophe des sechsstrophigen Gedichts "Abschied von New York, 1946" von Karl Farkas:

Sind Volksgenossen schon wieder Spezi?
Schreit man schon wieder '"Rotfront" oder noch "Siegheil"?
Gebraucht man "Küss die Hand" und "Euer Gnaden" -
Oder mehr Phrasen à la Berchtesgaden
Und war seit jeher für das Gegenteil? (Geschichte 85)

Handelt es sich hier auch nur um mittels rhetorischer Fragen zum Ausdruck gebrachte Vermutungen, so wird die Aussage gezielt ernster in einem Gedicht von Margarete Kollisch anlässlich der Rezeption der von Mimi Großberg herausgegebenen Anthologie Österreichisches aus Amerika (März 1974), worin, das heißt in Kollischs Gedicht, die zentrale dritte Strophe lautet:

Ein junger Wiener rümpft seine Nas':
"Es war amol, ist ein verbrauchter Gspass.
Was wissen die von unseren Problemen?
Amerika, sei stad, du kannst di schämen." (Geschichte 88)

Heute lässt sich kein Hehl mehr daraus machen, dass nach dem Krieg in bestimmten Kreisen sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Nazigesinnung weiter lebte. Gleichfalls ist bekannt, dass die Siegermächte in dieser Hinsicht selbst nicht ohne Schuld waren. Im unmittelbar nach dem Kriegsende einsetzenden 'Kalten Krieg' haben sie sich des Wissens und Geschicks führender Nazis bedient und ihnen im Gegenzug entweder Straffreiheit oder die Flucht in ein sicheres Land oder sogar beides ermöglicht. Der zum einen Teil in England und zum anderen in USA emigrierte Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz schreibt in seinen Memoiren darüber, dass er bei seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1946 einen früheren SS-Offizier antraf, der sich als Freund eines angeblich am missglückten Aufstand vom 20. Juli 1944 beteiligten Widerstandskämpfer ausgab und sich nun im Dienste der britischen Militärregierung befand. Auf Putlitz' diesbezügliche Frage entgegnete ihm der angesprochene britische Offizier: "Wir brauchen gute deutsche Polizeibeamte. [...] sie wissen genau, dass wir genügend belastendes Material besitzen, um sie an den Galgen zu bringen. Sie sind viel zu klug, jetzt irgendwelche Sabotagearbeit zu riskieren. Aus diesem Grunde können wir uns auf sie hundertmal sicherer verlassen als auf jeden anderen."(22)

Wirkliche oder eingebildete und deshalb nicht weniger gefürchtete Begegnungen mit kaschierten und somit ihre wahre Gesinnung verbergenden früheren Nazis bewogen manche ehemaligen ExilantInnen, entweder in ihr Gastland zurückzukehren oder in ein neues Land, zum Beispiel nach Palästina oder in die Schweiz, zu emigrieren. Auch wenn sie früher am Heimweh an ihrer alten Heimat gelitten hatten, so stellte sich ihnen nach der Rückkehr - ganz gleich ob probeweise oder für immer - erneut das Heimweh ein, diesmal in umgekehrter Richtung, also weg aus der alten in die neue Heimat. Grete Hartwig hat diese Situation in ein längeres zweistrophiges Gedicht gebannt, worin die erste Strophe das Heimweh des lyrischen Ich von New York nach Wien zum Ausdruck bringt und die zweite Strophe das genaue Gegenteil, nämlich das Heimweh von Wien nach New York. (Geschichte 75).

Damit schließt sich der Kreis von der Erfahrung einer entfremdeten Heimat, die ExilantInnen infolge ihres immer größer werdenden Abstands von der Wirklichkeit in einem der vielen Gastländer der Erde machten, bis zu ihrer nach der Rückkehr erfolgten Entdeckung, dass auch die Wirklichkeit der Neubegegnung mit der alten Heimat nicht ihren Erwartungen entsprach. Die bewusste Flucht in die friedliche Szene einer Wiener Tramfahrt, wie sie Ernst Waldinger in seinem Gedicht "Der Fünfer-Wagen (Phantasie für Wiener Flüchtlinge mittleren Alters)" zum Ausdruck bringt (Bauernstuben 34-35), liest sich heute genau so irreal wie die Strophe in einem 1939 in Paris entstandenen Gedicht des kurz zuvor aus Wien geflüchteten Dichters und Theaterregisseurs Ernst Lothar, worin der Autor seine geplante Rückkehr mit den die Wirklichkeit völlig verkennenden Worten ankündigte: "Es wird ein Geleite stehen/ habtacht zu unserer Ehr!/ wir werden inmitten gehen/ Und Österreichs Fahnen wehen -/ So unbefleckt wie vorher." (Geschichte 39-40). Was ich mit meiner Arbeit zu zeigen versuchte, ist die große Breite und Spannkraft der Beziehungen zwischen den ExilantInnen und ihrer Heimat, wobei es zu einer großen literarischen Dynamik kam, die trotz des vielfach getrübten Blicks der ExilantInnen ihrer jeweiligen Heimat eine erstaunliche Menge an sprachlichen Denkmälern entstehen ließ.

© Helmut F. Pfanner (Nashville und Lochau)


ANMERKUNGEN

(1) Eine Darstellung der deutschsprachigen ExilantInnen, die nach 1933 in New York lebten, einschließlich des Versuchs ihrer Kategorisierung befindet sich in Helmut F. Pfanner, Exile in New York: German and Austrian Writers after 1933 (Detroit, MI: Wayne State University Press, 1983), insbesondere das Kapitel 'Diaspora", S. 143ff. Fortan zitiert als Pfanner mit Seitenangaben im Text.

(2) Fritz Beer, Kaddisch für meinen Vater: Essays, Erzählungen, Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Christian Haacker. (Wuppertal: Arco Verlag, 2002), S. 162.

(3) Zum Sprachproblem im Exil siehe das Kapitel "Mistress Language" in Pfanner, S. 95ff.

(4) Karl Jakob Hirsch, Manhattan Serenade. Hg. von Helmut Pfanner. Exil Dokumente: Verboten - verbrannt -vergessen. Bd. 4. Bern etc.: Peter Lang, 2001, S. 34; Seitenangaben fortan unter Serenade im Text.

(5) Friedrich Bergammer, Flügelschläge: Dichtungen (Wien: Bergland Verlag, 1971), S. 12.

(6) Hier zitiert nach Geschichte im Gedicht: Das politische Gedicht der austro-amerikanischen Exilautoren des Schicksalsjahres 1938. Eine Auswahl, zusammengestellt und mit verbindendem Text versehen von Mimi Grossberg. New York: Ariadne Press, 1993, S. 47; Seitenangaben fortan unter Geschichte im Text.

(7) Ernst Waldinger, Die kühlen Bauernstuben: Gedichte (Wien: Verlag A. Sexl, 1946), S. 17; Seitenangaben fortan unter Bauernstuben im Text.

(8) Alfred Farau, Das Trommellied vom Irrsinn: Gedichte aus dieser Zeit (New York: Writers Service Center, 1943), S. 6.

(9) Erich Maria Remarque, Schatten im Paradies: Roman (München: Droemer Knaur, 1971); hier zitiert nach Pfanner, S. 145.

(10) Leonhard Frank, Links wo das Herz ist (München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1952), S. 294.

(11) Carl Zuckmayer, Gedichte (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1976), S. 183.

(12) Vgl. in diesem Zusammenhang den Aufsatz von Helmut F. Pfanner, "Josef Weinheber und Ernst Waldinger: Österreichische Lyriker im Licht und Schatten des Nationalsozialismus", In Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit 1945. Hg. von Jörg Thunecke. Amsterdam: Atlanta, GA: Rodopi, 1998, S. 67-82.

(13) Ernst Waldinger, Noch vor dem Jüngsten Tag: Ausgewählte Gedichte und Essays. Hg. und mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß (Salzburg: Otto Müller, 1990), S. 106.

(14) Aus Alfred Döblin, Schicksalsreise: Bericht und Bekenntnis (Frankfurt am Main: Josef Knecht, 1949); hier zitiert nach Alfred Döblin, Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen (Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 1980), 431.

(15) Alfred Döblin, Briefe II (Düsseldorf und Zürich, 2001), S. 195.

(16) Günther Anders, Die Schrift an der Wand: Tagebücher 1941 bis 1966 (München: C. H. Beck, 1967), S. 323.

(17) Mimi Grossberg, Gedichte und kleine Prosa (Wien: Bergland Verlag, 1972), S. 58.

(18) Stella Rotenberg, Die wir übrig sind (Darmstadt: J. G. Bläschke, 1978), S. 34.

(19) Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten: Erinnerungen 1911 - 1946 (München: List Verlag, 1989), S. 210.

(20) Alfred Farau, Aus dem Tagebuch eines Emigranten und anderes Österreichisches aus Amerika. Hg. von Harry Zohn. New York etc.: Peter Lang, 1992), S. 25.

(21) Karl Jakob Hirsch, Quintessenz meines Lebens. Hg., und mit einem Vorwort von Helmut F. Pfanner (Mainz: v. Hase und Koehler Verlag, 1990), S. 257; fortan zitiert unter Quintessenz im Text.

(22) Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz. Unterwegs nach Deutschland: Erinnerungen eines ehemaligen Diplomaten ([Berlin}: Verlag der Nation, 1971), S. 346.


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Helmut F. Pfanner (Nashville und Lochau): Entfremdete Heimat und der getrübte Blick der ExilantInnen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_2/pfanner16.htm

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