Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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Die religiöse Stimme Johann Christian Günthers zwischen Barockrhetorik und subjektiver Dichtung

Laura Bignotti (Universität Brescia, Italien)
[BIO]

 

Johann Christian Günther (1695-1723) gilt heute als letzter großer Dichter des Barock und zugleich als wichtige literarische Übergangsfigur zum 18. Jahrhundert: In seinem lyrischem Werk, das weitestgehend noch den traditionellen Mustern und Motiven der für das 17. Jahrhundert typischen konventionellen Gelegenheitspoesie verpflichtet ist, erkannte die Forschung bereits vor langem einen besonderen, authentischen Ton. Trotz der noch nicht vollständig abgelegten Barockrhetorik sind Günthers rund sechshundert Gedichte an mehreren Stellen von einer für diese Epoche ungewöhnlichen Ausdruckskraft geprägt, die auf eine bislang unbekannte Subjektivität hinweist.

Günther ist vor allem durch seine Liebesgedichte und Studentenlieder bekannt. Hier hat die gegenwärtige Kritik, die sich im Gegensatz zur älteren Forschung in der Nachfolge Goethes der Heroisierung Günthers als erstem Erlebnislyriker oder "Kraftgenie" entzieht, die Vorzeichen einer neuen poetischen Sensibilität erkannt(1). Weniger bekannt sind jedoch seine geistlichen Lieder, mit denen auch Günther dem konfessionellen Zeitalter Tribut zollte(2), einer Epoche, in der fast alle Dichter zumindest einen Teil ihres poetischen Werkes religiösen Themen widmeten(3). Aufgrund ihrer hohen Konventionalität vernachlässigte die Kritik Günthers geistliche Lyrik lange Zeit(4). Man kann aber behaupten, dass auch in Günthers lyrischer Behandlung religiöser Themen seine literarische Position zwischen Epigonalität und Neuschöpfung deutlich wird. Gerade in diesem Zusammenhang stellt sich auch die zentrale Frage nach der Versprachlichung oder Entsprachlichung des Glaubens und damit nach der Bewahrung oder Auflösung sakraler Inhalte durch ihre Umgestaltung in eine literarische beziehungsweise lyrische Form.

Günthers Produktion situiert sich am Ausgangspunkt eines literarischen Prozesses, der allmählich zur ästhetischen Legitimation auch der Dichtung religiösen Inhalts führte(5). Schon die Legitimation der geistlichen Lyrik als solche basiert auf der zentralen Rolle der Verschriftlichung der Religion: Literatur im Sinne eines geschriebenes Textes wird zur wesentlichen Voraussetzung für die Textualisierung der sakralen Wahrheiten, und definiert sich so als Mittel ihrer Offenbarung und Überlieferung. Das Problem der sprachlichen Vermittlung des Glaubens ist deswegen eng mit der Frage der rhetorischen Versprachlichung verbunden, des weiteren mit dem Verhältnis zwischen Theologie, Poetik und Ästhetik (6).

Die entsprechende Debatte konzentriert sich im Konfessionellen Zeitalter in Deutschland auf eine mögliche Versöhnung zwischen ästhetischem Anspruch und erbaulichem Zweck. Besonders im evangelischen Bereich dient die Rhetorik der Verkündigung der christlichen Botschaft, während bei den Katholiken hingegen eher die Vorstellung von der Unangemessenheit menschlicher Rede über Gott und über den Glauben vorherrscht. Obwohl auch für Luther das Ziel der Rhetorik im Zusammenhang mit der Heilsverkündigung nur darin besteht, den Gläubigen auf eine notwendige innere und lebendige individuelle Glaubenserfahrung vorzubereiten, bereitet er einer Funktionalisierung des menschlichen Wortes die Bahn, die aus der Macht des göttlichen Wortes hervorgeht(7). Es ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, an die Position zu erinnern, die der humanistische Spiritualismus im 16 Jh. vertritt, insbesondere Luthers Zeitgenosse Sebastian Franck (1499-1542/3). Der große Theologe und Humanist, der sich unter dem Einfluss von Luthers Lehren zum Protestantismus bekehrte, der aber die Idee eines dogmenfreien Christentums des Herzens entwickelte(8), gilt als Haupträpresentanten der «Verächter aller menschlichen Künste»(9) und deswegen auch der Literatur im religiösen Zusammenhang. Bei ihm wird bespielweise die Verachtung des fleischlichen Wortes gegenüber der inneren Rede des Heiligen Geistes ausdrücklich betont: «Das lebendig wort ist / das inwendig uns leret / und fruchtbar macht. Das tödt / das vns im Buchstaben vnd flaisch würt fürtragen»(10). Da die Bibel und jegliche Exegese ebenfalls aus "toten Buchstaben" bestehen, können auch sie sich einer solchen Beurteilungsgrundlage nicht entziehen(11). Auf diese Sprachauffassung, allerdings ohne denselben Radikalismus, wird die pietistische Rhetorik später teilweise zurückgreifen, zum Beispiel mit ihrem Hinweisen auf die Notwendigkeit einer schmucklosen, schlichten und belehrenden Rede(12). So zeigt Gottfried Arnold zwar keine Sprachbegeisterung aber doch immerhin keine Sprachverachtung, indem er das menschliche Wort als notwendiges Medium sowohl für die Vermittlung der Erkenntisse und die Bekehrung als auch als Mittel poetischer Gestaltung auffasst und anerkennt. Obwohl er die Notwendigkeit einer geistigen Erleuchtung für das richtige Verständnis der Heiligen Schrift betont, wendet er sich dennoch der poetischen Gestaltung religiöser Inhalte zu(13). Nicht zufällig findet das Paradoxon der dichterischen Darstellung des Unsagbarkeitstopos’ in Bezug auf Gott vor allem in der mystischen Lyrik seinen Ausdruck; so zum Beispiel in Silesius’ bekannten Epigrammen über das Schweigen über Gott:

«Das Wort schallt mehr in dir / als in deß andern Munde: / So du jhm schweigen kanst / so hörst du es zur Stunde»(14).

Die Frage nach der Möglichkeit, den Gegensatz zwischen «unmittlebarem Geistwort und vermittelndem sprachlichem Zeichen»(15) zu lösen, entwickelt sich in der literarischen Debatte des 17. Jahrhundert weiter bis hin zur Frage nach einer möglichen Versöhnung zwischen Religion und Kunst, besonders mit der Diskussion über die Notwendigkeit der Befreiung der geistlichen Dichtung von ihrer religiösen Funktionalisierung. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung von mehreren poetischen Traktaten symptomathisch für das Bedürfnis einer ästhetischen Legitimation der dichterischen Anwendung der Sprache, auch mit Bezug auf geistliche Themen. Diese Traktate stellen im Gegensatz zur Opitiz’schen Poeterey die Dichtung in den Dienst der Theologie(16), und legitimieren nicht nur die Versprachlichung, sondern auch die Poetisierung des religiösen Fühlens.

Besonders Sigmund von Birken leitet die Poesie aus der christlichen Tradition her: Die Poesie sei grundsätzlich eine christliche Kunst, denn

«Adam / der Fürst und Vatter unter denselben / hat ohnezweifel / mit seiner Eva im Paradeis unter dem Baum des Lebens / GOtt ihrem Schöpfer Lobgesungen. [...] an stat der eitlen irdischen Liebe raum zu geben / dichteten sie Lieder zur Ehre GOttes»(17).

Die Dichter, die sich der poesis sacra zuwandten und die Sprache deswegen auch als Mittel dichterisches Gestaltung schätzten, fanden also in der Poetik Birkens, in der Teutschen Rede-bind und Dicht-Kunst (1679), die Rechtfertigung ihres Werkes:

«Gott / der uns den Verstand und die Rede verliehen / hat uns ja nicht verboten / zierlich von und vor ihm zu reden»(18).

Johann Christian Günther war, wie oben bereits erwähnt, kein geistlicher Dichter im engeren Sinne, obwohl er in seinem späten Gedicht Der Unterschied unter des Phoebus Rohr und Davids Harfe den Sieg der christlichen gegen die heidnischen Dichtung ausdrücklich zelebriert: Hier wird die Poesie aufgefordert, alle weltichen Werte zu verleugnen, um sich gänzlich dem Lob des Schöpfers zuzuwenden:

«Gedenk auch nun einmal, getreue Poesie / an Sachen, die nicht so nach Welt und Thorheit schmecken [...] Du must dein Saythenchor nach Davids Harfe ziehn; [..] Betracht und schäze nur des Höchsten Werck und Wunder!»(19)

Das Motiv der Apologie der christlichen Poesie ist zwar konventionell, es gewinnt hier jedoch in Hinblick auf die biographische Situation des Dichters eine besondere Kraft. Die typische, traditionelle Argumentation wird von Günther durch eine persönliche, selbstkritische Perspektive umgestaltet, mit einer Art "poetisches" Bereuen wegen seiner früheren weltlichen Dichtung.

Auch deswegen darf man Günthers religiöse Lyrik, rund einhundert Gedichte, nicht außer Acht lassen. Der größte Teil seiner geistlichen Lieder ist noch durch eine recht stark barocke Konventionalität gekennzeichnet; in manchen seiner Klagelieder aber, die der polemischen, aufrührerischen Klage eines verzweifelten Ich gegen einen abwesenden Gott eine Stimme verleihen, herrscht ein für die damalige Zeit unerhörter, bisweilen geradezu blasphemischer Ton vor:

«Dies ist mehr Grausamkeit als Zucht. / Versuch einmahl und geh gelinder, / Vielleicht gewinnt es eher Frucht; / Ein scharfer Streich und langer Grimm / Macht oft die besten Herzen schlimm [...] Was wiltu mit dem Schatten zancken? / Beweis an Stärckern deine Macht! / Wer wird dir in der Hölle dancken? / Ach, hastu dies noch nicht bedacht?» (20)

Wie die Forschung schon ausführlich bewiesen hat, greift Günther mit seiner Klage auf eine bekannte literarische Tradition zurück. Besonders im alttestamentarischen Buchs Hiob(21) finden die Verzweiflungsausbrüche und die Verfluchung der eigenen Geburt ihre Wurzel:

«Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt» (Hiob 3, 3).

Und so Günther:

«O daß doch nicht mein Zeug aus Rabenfleisch entsproßen, / O daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verboth, / O wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch gefloßen! / O daß doch nicht das Ey, in dem mein Bildniß hing / Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schoos entgieng, / Bevor mein armer Geist dies Angsthaus eingenommen! / Jetzt läg ich in der Ruh bey denen, die nicht sind [...] Verflucht sey Stell und Licht!»(22)

Seine desperatio findet aber auch in den Klagelieder Jeremias und im Psalmbuch, in dem Günther sich gut auskannte - er hat mehrere Gedichte Psalmversen gewidmet(23) - ein Vorbild(24). So zum Beispiel lauten zwei berühmte Psalmen:

«Ach du, Herr, wie lange? [...] Ich bin so müde vom Seufzen; / ich schwemme mein Bett die ganze Nacht / und netze mit meinen Tränen mein Lager. Mein Auge ist trübe geworden vor Gram / und matt, weil meiner Bedränger so viele sind.» (Ps. 6 , 4-8)

«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? / Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. / Mein Gott, des Tages rufe ich, / doch antwortest du nicht, / und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe [...] Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch / ein Spott der Leute und verachtet vom Volke» (Ps. 22, vv, 1- 7)

Und so bei Günther:

«Harter Himmel, ach wie lange /Zeigstu sein erschröcklich Licht? / Soll er mir jezund erscheinen, / o so gieb ihm bald sein Amt, / Eh mich ein verzweiflend Weinend / Noch zu größrer Not verdammt»(25)

«Nun, lieber Gott, du bleibst ja lange, / ich weis nicht, was ich dencken soll. / Der Zweifel macht der Hofnung bange, / Ich weine Bett und Bibel voll; / Ach, soll denn ich, nur ich allein / Ein Greuel meines Schöpfers seyn? [...] Du kommst mit Donner, Blitz und Sturm. / Wer ist der große Feind? Ein Wurm»(26)

Günther verschärft die Aussage der alttestamentarischen Vorlage trotz deren deutlichem Anklageton, indem er seine verzweifelte Provokation nicht nur gegen Gott Vater, sondern gegen die Dreifaltigkeit richtet(27): «Wo steckt denn nun der Gott, der helfen will und kan? [...] Wo bleibt denn auch sein Sohn? Wo ist der Geist der Ruh?»(28). Die blasphemische Klage bezieht also die neutestamentarische Gestalt Christi ein und stellt damit auch die Möglichkeit der Erlösung in Frage.

Ohne Zweifel kann man, ohne damit den Fehler der positivistischen, biographistischen Kritik zu wiederholen, in diesen Gedichten autobiographische Züge erkennen, die die Lieder als poetisches Zeugnis der tiefen desperatio des damals von Krankheit, Armut, Unruhe und Spott gequälten Dichters(29) ausweisen.

«Schmach, Armuth, Schmerz und Müh gebiehrt noch keine Ruh, / Mein Erbtheil ist verraucht, die Gönner sind verblichen, / Der Eltern Herz verstockt, / der beste Freund gewichen, / und wo mein Jammer klopft, da schlägt die Thüre zu»(30)

Günther verzichtet nicht einmal auf die gewagte Möglichkeit, Christus selbst als Identifikationsfigur zu wählen. Seinem lyrischen Ich gelingt es, sich hinter der Rolle des Gekreuzigkten zu verbergen, um durch die biblische Passionsmetaphorik seiner eigenen Leidenserfahrung Ausdruck zu verleihen(31).

«Gott lege, was er will und was mir zukommt, auf [...] Sein Zweck ist überhaupt des Weltgebäudes Heil; /Wir, ich und auch mein Creuz, sind davon nur ein Theil»(32).

Günther befreit also seine Klagelieder teilweise von der Konventionalität der anderen typisch zeitgenössischen Kirchenlieder und geistlichen Lieder(33). Gleichzeitg bedient er sich jedoch auch einer konventionellen, deutlich erkennbaren Muster. Die Versprachlichung des Religiösen wird ermöglicht durch die poetische Inszenierung eines lyrischen Subjekts sowie durch dessen Anlehnung an eine kodifizierte Rolle. Der Schrei der Verzweiflung erweckt den Eindruck einer unmittelbaren, authentischen Aussage des Ich. Diese jedoch fingierte Unmittelbarkeit wird durch den Gebrauch eines mittelbaren, rhetorischen Modelles möglich.

In seinem berühmtesten Klagelied - Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde - scheint Günther allerdings die Unzulänglichkeit der sprachlichen Vermittlung poetisch, im dichterischen Wort selbst darzustellen: «Ach Jesu, sage selbst, weil ich nicht fähig bin / Die Beichte meiner Reu»(34). Hier thematisiert er expressis verbis die Unfähigkeit des Ich, seinem Bekenntnis Ausdruck zu verleihen, und bittet Jesus um Hilfe, das Gefühlte zu versprachlichen; man könnte so weit gehen zu behaupten, Günther versuche, sich von den Grenzen einer sprachlich bedingten Gebundenheit zu emanzipieren. Mit der abrupten Schlußwendung (« die Rettung ist allein mein Tod und dein Erbarmen»(35)) gibt sich das Ich jedoch der Erlöserfigur Jesu, dem der Leidende seine Aussprache in Form einer Beichte anvertraut, hin; das Hiob-Modell ( «Von außen quälet mich des Unglücks starcke Fluth / Von innen Schröcken, Furcht und aller Sünden Wut»(36)) ist wieder deutlich erkennbar.

Günthers religiöse Lyrik umfasst auch geistliche Lieder, in denen der Autor sich explizit auf Bibelverse beruft. Hier verzichtet er bewußt auf die Prämisse eines konventionellen poetischen Modelles. In der Darstellung des lyrischen Subjekts vollzieht sich in vielen Fällen eine klare Annährung an die persönliche Situation des Dichters selbst, weshalb sich die Funktion des Ich nicht mehr oder nicht nur in der Rolle eines für die Gemeinschaft stellvertretenden Sprechers erschöpft. Im Gedicht Über die Worte: ich hatte viel Bekümmernüsz &, das ausdrücklich auf einen Psalmvers hinweist ( «Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen / aber deine Tröstung ergetzten meine Seele», Ps. 94, 19) - wird beispielsweise das traditionelle Argument des «Lebens schwerer Lauf» zum Medium einer poetischen Verarbeitung privater Erlebnisse:

«Seufzer sind mein Zeitvertreib, - / Brodt und Trunck mischt Asch und Thränen; / Creuz und Schwachheit biegt den Leib, / Und die Seele lechst mit Sehnen / Wie ein matt und durstig Reh / Nach der Hülf aus Salems Höh. / Freunde weichen wie das Laub / Welches Wind und Herbst verjagen; / Feinde treten mich in Staub, / Neider spotten meiner Klagen»(37)

Die in der geistlichen Lyrik allgemein oft gestellte Frage nach Sünde und Schuld, Erlösung und Gnade prägt Günther durch eine ungewöhnlichen Privatheit, in der die zentrale Bedeutung von Glaube und Schrift deutlich evoziert wird: «Herr, mein Glauben und dein Wort / Stärckt mich hier und hält mich dort»(38). Ebenso betont Günther die heilende Kraft des Wortes in jenen Liedern, mit denen er der damals weit verbreiteten Tradition der Perikopendichtung Tribut zollte(39), seinen Geistliche[n] Oden über einige Sonn- und Festtage des sogenannten Christlichen Jahres des Herrn de Sacy(40). Die literarische Bearbeitung einer Perikope wird hier bisweilen zum Anlaß für eine Reflexion über seine eigene geistliche Existenz. Im Lied auf den XIV. Sonntag nach Trinitatis geht Günther vom Lukas-Evangelium von der Episode über die zehn Aussätzigen aus, um das heilende Wesen des Glaubens und die rettende Kraft des Wortes zu thematisieren:

«Ich steh und schrey dich sehnlich an: / Las die Erbarmung hören / Und mach aus mir durch Hülf und Rath / Ein Werckzeug deiner Ehren [...] Dein Wort, mein Glaube sind genug / Dem Schaden vorzubeugen»(41)

Das Vertrauen in das Wort wird in der poetischen Verschmelzung der formalen und der inhaltichen Ebenen besonders betont, indem Günther die Thematisierung des lyrischen Gotteslobs im Lied selbst zur Sprache bringt: «Da will ich nebst den Heiligen, / die deinen Thron umringen, / ein Lied von Ehre, Lob und Preis / In höherm Chore singen»(42). Die Verherrlichung der heiligen Schrift durch das menschliche Wort entspringt also einem Lyrikverständnis, demzufolge die dichterische Tätigkeit sogar Christus selbst zugeschrieben wird:

«Mit was vor Wachen, Lieb und Müh / Hatt er sie unterrichtet / Und zur Erbauung Tag vor Tag / Gelehret und gedichtet!»(43)

Günthers Bibeldichtung gilt als besonderes Zeugnis einer Lyrik, die als individuelle Ausdrucksweise einer geistlichen Existenz fungiert und somit als Stimme eines Gott zugewandten Ich erscheint. Diese Dichtung kann, auch durch ihre enge Anlehnung an die Bibel, die Kluft zwischen Mensch und Gott schliessen. Die menschliche Sprache, versteht man sie als "natürliche Sprache"(44), wird also sowohl zum notwendigen verbalen Ausdrucksmittel als auch zur Reflexionsmöglichkeit über den persönlichen Zustand des Ich. Die am biblischen Wort entwickelte poetische Arbeit sowie die rhetorische Umformung der Schrift erlauben dank der sprachlichen Intensität und Aussagekraft von Günthers Lyrik die Entfaltung eines eigenen, subjektiven eigenen Glaubenspotentials und betonen zugleich den transzendenten Bezug des individuellen Gefühls.

© Laura Bignotti (Universität Brescia, Italien)


ANMERKUNGEN

(1) Unter den neuensten kritischen Beiträgen vgl. J. Stüben (Hrsg.), JohannChristian Günther (1695-1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters, R. Oldenbourg Verlag, München 1997; U. Regener, Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung von Johann Christian Günthers "Verliebten Gedichten", Walter de Gruyter, Berlin-New York, 1989; H. Bütler-Schön, Dichtungsverständnis und Selbstdarstellung bei Johann Christian Günther. Studien zu seinen Auftragsgedichten, Satiren und Klageliedern, Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1981.

(2) Vgl. W. Krämer (Hrsg.), Johann Christian Günthers Gesammelte Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Verlag Karl W. Hiersmann, Leipzig 1930-1937, Bd. II: Klagelieder und geistliche Gedichte in zeitlicher Folge. (ab jetzt als Kr II zitiert).

(3) Vgl. D. Breuer (Hrsg.), Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, Rodopi, Amsterdam 1984; M. Szyrocki, Die deutsche Literatur des Barock, Reclam, Stuttgat 1979 (2003), bes. S. 268ff..

(4) Relativ wenige Beiträge hat die neuere Forschung seinen geistlichen Liedern gewidmet: vgl. z. B: U. Konrad - M. Pape, Johann Christian Günther in der Tradition der evangelischen Kirchenliteratur, in « Zeitschrift für deutsche Philologie» 100(1981); E. Osterkamp, Das Kreuz des Poeten. Zur Leidensmetaphorik bei Johann Christian Günther, in « Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte» 55(1981). Größere Aufmerksamkeit haben dennoch seine Klagelieder erfahren. Vgl. u.a. H. Bütler-Schön, Theodizeeproblem und Hiobnachahmung. Ein Beitrag zur Interpretation von Günthers Gedicht «Gedult, Gelaßenheit», in text+kritik 74/75, S. 13-25, und J. Stenzel, Ein anderer Hiob. Johann Christian Günthers Klagegedicht "Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärket wuerde", in Gedichte und Interpretationen, Bd. I: Renaissance und Barock, hrsg. v. V. Meid, Reclam 1982, S. 405-414.

(5) H.-G. Kemper, Religion und Poetik, in Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hrsg. von D. Breuer, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1995, Bd. I, S. 63-92, hier S. 78ff..

(6) Vgl. ebd. und H.-H. Krummacher, Zur Poetik der geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert, in Der junge Gryphius und die Tradition, Wilhelm Fink Verlag, München 1976, S. 393ff..

(7) D. Gutzen, «Es liegt alles am Wort». Überlegungen zu Luthers Rhetorik., in G. Ueding (Hrsg.), R hetorik zwischen den Wissenschaften: Geschichte, System, Praxis als Probleme des "Historischen Wörterbuchs der Rhetorik", Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1991, S. 229-236.

(8) Vgl. P. Hayden-Roy, The inner word and the outer world: a biography of Sebastian Franck, Lang, New York 1994.

(9) H. Marti, Die Rhetorik des heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus bei Gottfried Arnold. In: D. Blaufuß (Hrsg.), Pietismus Forschungen. Zu Philip Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld, Peter Lang, Frankfurt a. M., Bern, New York 1986, S. 197-294, hier S. 257.

(10) S. Franck, Das Theur und Künstlich Büchlin Morie Encomion, zit. nach H. Marti, Die Rhetorik des heiligen Geistes, S. 204.

(11) Ebd.

(12) Vgl. P.-A. Alt, Reinigung des Stils oder geistlicher Manierismus. Zur pietistischen Bildsprache, in Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, S. 563-577.

(13) H. Marti, Die Rhetorik des heiligen Geistes, S. 240-41.

(14) A. Silesius, Cherubinischer Wandersmann, Erstes Buch, 299. Kritische Ausgabe Reclam, Stuttgart 1984, S. 70. Vgl auch Andertes Buch, 8 (S. 73): «Schweig allerliebster, schweig: kanstu du nur gäntzlich schweigen: / So wird dir Gott mehr guts / als du begehrst / erzeigen».

(15) H. Marti, Die Rhetorik des heiligen Geistes, S. 283.

(16) Vgl. H.-G. Kemper, Religion und Poetik. S. 81 ff..

(17) S. v. Birken, Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst , Vorrede, Bl. 3-4 (unpag)., Nachdr. d. Ausg. Nürnberg 1679, Olms, Hildesheim 1973.

(18) Ebd., S. 190.

(19) Der Unterschied unter des Phoebus Rohr und Davids Harfe , Kr II, S. 251, V. 1-2, 15-20.

(20) An Gott , Kr II, S. 119-120, V. 26-30, 49-52.

(21) Vgl. u. a. H. Bütler-Schön, Theodizeeproblem und Hiobnachahmung.

(22) Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde , Kr II, S. 124, V. 52-61.

(23) Vgl. Kr II, S. 14, 18, 167, 215, 232, 239.

(24) Die Forschung hat sich bisher hauptsächlich auf das Buch Hiob als Modell für Günthers Klagelieder konzentriert.

(25) Als er sich über seinen unglückseeligen Zustand beklagete , Kr II, S. 106, V. 3-8.

(26) An Gott , Kr II, S. 119-120, V. 1-5, 53-54. Wenn in der biblischen Vorlage der Trost am Ende immer erscheint, fehlt in manchen Klageliedern Günthers, wie z. B. in diesem Fall, die typische Schlusswendung zur Ergebenheit und Demut.

(27) Vgl. J. Stenzel, Ein anderer Hiob, in Gedichte und Interpretationen. Renaissance und Barock, Reclam, Stuttgart 2001, S. 405-414, hier S. 408; vgl. auch J. Stenzel, "Mächtiges Überraschen". Gedichte von Günther, Brockes und Goethe, in Goethezeit - Zeit für Goethe, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003, S. 31-46, hier 31-33.

(28) Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde, Kr II, S. 123, V. 15-18.

(29) Für eine Biographie des Dichters vgl. W. Krämer, DasLeben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695-1723. Mit Quellen und Anmerkungen zum Leben und Schaffen des Dichters und seiner Zeitgenossen, Klett-Cotta, Stuttgart 1980.

(30) An Gott um Hülfe , Kr II, S. 69, V. 3-6.

(31) Vgl. E. Osterkamp, Das Kreuz des Poeten. Zur Leidensmetaphorik bei Johann Christian Günther.

(32) An Herrn M(arckard) von R(iedenhausen), J. U. C. Anno 1720 , Kr II, S. 93, V. 133-137.

(33) Zur Debatte über den terminologischen Unterschied zwischen Kirchenlied und geistlichem Lied vgl. u. a. I. Scheitler, Das Geistliche Lied im deutschen Barock, Duncker & Humblot, Berlin 1982, und H.-G. Kemper, Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts, in A. Dürr - W. Killy (Hrsg.), Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. Text-, musik- theologiegeshichtliche Probleme, Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1986, S. 87-108.

(34) Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde , Kr II, S. 124, V. 65-66.

(35) Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde , Kr II, S. 125, V. 70.

(36) Ebd., V. 68-69.

(37) Über die Worte: ich hatte viel Bekümmerüsz &, Kr II, S. 215, V. 19-30.

(38) Ebd., V. 53-54.

(39) Über die Gattung der Perikopendichtung vgl. S. Berning, Sinnbildsprache. Zur Bildstruktur des Geistlichen Jahrs der Annette von Droste-Hülshoff, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1975, Kap. II: Zur Gattungsgeschichte der lyrischen Perikopenzyklen, S. 7-41; H.-H. Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition, Wilhelm Fink Verlag, München 1976, S. 69-164.

(40) Kr II, S. 263-311, zum ersten Mal als Geistliche Oden über einige Sonn- und Festtage des sogenannten christilchen Jahres des Herrn de Sacy verfertiget erschienen, in Der Sammlung von Johann Christian Günthers / aus Schlesien, Theils noch nie gedruckten / theils schon heraus gegebenen Teutschen und Lateinischen Gedichten Vierdter Theil oder Dritte Fortsetzung, bey Michael Hubert, Breßlau und Leipzig 1735, S. 213-260. Die Forschung hat diesen Gedichten bisweilen sehr selten Aufmerksamkeit gewidmet; diese wenigen Beiträge darüber hinaus an manchen Stellen fragwürdig, insbesoders mit Bezug auf zwei Kernpunkte: Zunächst die Figur des «Herrn de Sacy» (Le Maistre de Sacy, 1613-1684) als Verfasser des «Christlichen Jahres», der Vorlage der Geistlichen Oden, bezeichnet (der Autor des Christlichen Jahres - L’Année Chrétienne - scheint eigentlich De Sacys zeitgenosse Nicolas Le Tourneux zu sein); ferner die Entstehung dieser Gedichte im Zusammenhang mit der von Franz Anton Graf von Sporck herausgegebenen Sammlung Geistreiche Gesänge und Lieder (1725-26), in die angeblich auch Günthers Geistliche Oden hätten aufgenommen weden sollen. Ausführlicher problematisiert in: L. Bignotti, Sulla genesi delle Geistliche Oden über einige Sonn- und Festtage des sogenannten christilchen Jahres des Herrn de Sacy di Johann Christian Günther , inL’analisi linguistica e letteraria 2 (2005), im Druck.

(41) Auf eben den vorigen Sonntag. Evangel. Luc. XVII. V. II. , Kr II, S. 267, V. 33-40.

(42) Ebd., V. 49-52.

(43) Am Tage Bartholomäi, Evangel. Luc. XXII. V. 24. & , Kr II, S. 271, V. 41-44.

(44) Vgl. H. Brinkmann, Methodische Zugänge zur religiösen Lyrik, in Zeitschrift für deutsche Philologie 102, 1993, S. 1-48, hier S. 1: «Wenn sich die religiöse Lyrik an Gott wendet, dann ist sie zwar auf die "natürliche Sprache" angewiesen, aber sie nimmt diese Sprache als ein Medium, das der besonderen Aufgabe durch übertragene, "mediale" Audsdrucksweise gerecht wird».


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Laura Bignotti (Universität Brescia, Italien): Die religiöse Stimme Johann Christian Günthers zwischen Barockrhetorik und subjektiver Dichtung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/bignotti16.htm

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