Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Januar 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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Der Messias in der Schriftmaschine.
Gesetz und Schrift in Giorgio Agambens Kafka-Lektüren

Vivian Liska (Universität Antwerpen)
[BIO]

 

Vorstellungen einer kommenden Befreiung vom Gesetz und einer Aufhebung der Zeichenstruktur der Sprache gehören zum Kernbestand der Tradition messianischen Denkens. In einer Verbindung beider Erwartungen erfährt diese Tradition im Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben ihre jüngste Aktualisierung. Gestützt auf kabbalistische Schriften, neutestamentarische Verkündigungen und Walter Benjamins Sprachphilosophie verknüpft Agamben seinen Befund der heutigen Weltlage, einem allgegenwärtigen Ausnahmezustand, in dem die Herrschaft des Gesetzes das blosse Leben in Bann hält, mit der Nicht-Übereinstimmung von Wort und Welt, und seine Entwürfe einer messianischen Erlösung mit der Vorstellung einer Sprache, die nichts mehr mitteilt, sondern nur noch sich selber sagt.

In Agambens Lektüre von Kafkas "In der Strafkolonie", einem suggestiven und elliptischen Kurztext mit dem Titel "Idee der Sprache II"(1), liegt der Zusammenhang von Gesetz und Sprache in der schreibenden Foltermaschine auf der Hand, doch geht Agamben einen radikalen Schritt weiter als die bisherigen Deutungen der Erzählung und lässt Gesetz und Sprache gänzlich zusammenfallen: "Kafkas Legende", schreibt er, "wird um vieles klarer, wenn man begreift, dass der Folterapparat... in Wirklichkeit die Sprache ist" (121). Dass die Maschine "vor allem ein Instrument der Rechtsprechung und der Bestrafung" und auch, so Agamben weiter, "die Sprache auf Erden und für die Menschen ein solches Werkzeug ist" (121), entspricht jener von Benjamin übernommenen, mystischen Sprachtheorie, der zufolge die Willkür der Zeichen, bzw. der Verlust der adamitischen Namenssprache, eine Folge des Sündenfalls ist, der sich in der bürgerlichen Moderne fortsetzt und heute das nicht mehr wahrgenommene Symptom der Unerlöstheit des Menschen ist. Erst der Messias wird ihn, und mit ihm auch die Sprache befreien. Die Zerstörung der Foltermaschine am Ende von Kafkas "In der Strafkolonie" liest Agamben im Licht dieser Erlösungsvorstellung.

In seinen Ausführungen zum Ausnahmezustand in seinem Hauptwerk Homo Sacer lässt Agamben der messianischen Aufhebung des Banns eine Auflösung der Sprache entsprechen. Sprache erscheint hier als Schrift, also in jenem Zustand, der aus Agambens Sicht ihre Nähe zum Gesetz am eindeutigsten offenbart. Im messianischen Zustand steht Agamben zufolge "dem Gesetz, das sich im Unbestimmten des Lebens verliert, ein Leben entgegen steht, das sich vollständig in Gesetz verwandelt". Ebenso kehrt sich in diesem Zustand auch das Verhältnis von Leben und Schrift um. Agamben zitiert und kommentiert Benjamin: "Der Undurchdringbarkeit einer Schrift", die im Ausnahmezustand "unentzifferbar geworden ist und sich als Leben darbietet", steht im messianischen Zustand "die absolute Intelligibilität eines in Schrift aufgelösten Lebens" entgegen.(2) In diesem Sinn liest Agamben die Strafe der Verurteilten in Kafkas "In der Strafkolonie" gleichzeitig als Gesetz und als undurchdringliche Schrift, die ihnen ihre Schuld in die Haut einritzt, bis sich, in der sechsten Stunde ihrer Folterung der Umschlag ereignet und sie in die "absolute Intelligibilität" ihres nunmehr integral lesbaren Lebens erlöst sind. Im Gegensatz zu Benjamins Vorstellung eines "in Schrift aufgelösten Lebens", löst Agamben, für den - in der Nachfolge Paulus’ - Gesetz, Torah und Schrift als das zu Überwindende zusammenfallen, zuletzt die Schrift selbst auf.

Bei Agamben erfolgt Gerechtigkeit also nicht etwa in der Sprache, sondern in ihrer erlösenden Zerstörung. Der rettende Umschlag ereignet sich im Zerbersten der Maschine, denn hier siegt "die Rechtsprechung über die Rechtsprechung, die Sprache über die Sprache" (123-124). "Statt zu strafen, mordet" die Egge nunmehr: an diesem Punkt, an dem das Gesetz aufgehoben wird, offenbart es sein mörderisches Wesen, verschwindet der Unterschied zwischen Strafe und Mord. An diesem äussersten Punkt der Ununterscheidbarkeit, ereignet sich in der Offenbarung des mörderischen Wesens des Gesetzes die Erlösung. So deutet Agamben auch das Ende der Erzählung, an dem der Offizier den Verurteilten befreit und sich selbst in die sich dabei zerstörende Maschine begibt, allerdings ohne, wie die anderen Verurteilten vor ihm, die versprochene Erlösung zu erfahren.

Agambens Lektüre zielt auf die rettende Zerstörung der Schriftmaschine am Ende der Erzählung, an dem der Offizier den Verurteilten befreit und sich selbst in die dabei zerfallende Maschine begibt. Anders als den anderen Verurteilten wird dem Offizier nicht das spezifische Gesetz, das sie übertreten haben - etwa "ehre deinen Vorgesetzten" - eingeschrieben, sondern die nicht mehr an den Buchstaben sondern an den Geist gebundene Vorschrift "sei gerecht" in die Haut geritzt. An diesem Punkt zerbirst die Schriftmaschine, tritt die Sprache in einen anderen Zustand ein. Agamben lässt gängige Deutungen hinter sich, denen zufolge der Offizier in seiner Eigenschaft als Richter die in die Maschine eingegebene Vorschrift "Sei gerecht!" und damit seine Ungerechtigkeit abbüsst, während gleichzeitig die Maschine als Komplizin seiner Schuld zugrunde geht. Agambens Lektüre zielt vielmehr auf die Erlösung, die sich durch die Zerstörung der Schriftmaschine ereignet. So handelt es sich für ihn "bei der Vorschrift ‚sei gerecht!’, nicht um ein Gebot, das der Offizier verletzt hätte, sondern um die Anweisung, die zur Zerstörung der Maschine selbst auffordert." Gerechtigkeit gebietet demnach die Zerstörung der Rechtssprechung, und insofern die Foltermaschine für Agamben die Sprache ist, die Zerstörung der Sprache selbst. Darauf zielt denn auch Agambens Lektüre von Kafkas Erzählung: Agamben zufolge hat der Offizier "den Befehl mit der Absicht gegeben, die Maschine zu zerstören" (123). Dass dieser - ein wirklicher Souverän, der als einziger das Gesetz aufheben kann - eine Christusfigur ist, ergibt sich nach den von Agamben suggerierten Voraussetzungen aus Kafkas Beschreibung des sterbenden Offiziers von selbst. Das Bild des Sterbenden mit dem "ruhigen, überzeugten Blick" und der "Stirn durchbohrt von der Spitze des großen eisernen Stachels" (124) könnte dem Dornenbekrönten nicht ähnlicher sein. Dass er in der sechsten Stunde - der biblischen Sterbensstunde Christi - nicht, wie die anderen, die Erlösung erfährt, erweist sich in diesem Kontext als schlüssig. "Für ihn", erklärt Agamben, "gab es in der Sprache schon zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu verstehen" (124). Er, der gekommen ist, das Gesetz aufzuheben, wusste offensichtlich schon immer vom wahren Sinn der Sprache, deren messianische Bestimmung es ist, nichts mehr zu bedeuten und nicht mehr gedeutet werden zu müssen. Indem Agamben gerade den gewaltsamen, machtvollen Souverän, den Offizier, zur Christusfigur werden lässt, bekräftigt er seine Vorstellung eines messianischen Umschlags der Extreme. In seinem Akt - der Zerstörung der Maschine, in der Sprache als Schrift und Sprache als Gesetz aufeinandertreffen - vollzieht sich die Transformation vom herrschenden Souverän in den erlösenden Messias. Die Transformation, die dabei Kafkas Text unter der Feder seines Interpreten erfährt, ist jener von Saulus in Paulus durchaus anverwandt. Sie verdankt sich der Differenz eines Buchstaben, der - Agambens messianischen Vorstellungen zum Trotz - nicht tötet, sondern die alten Schriften zu neuem Leben erweckt.

© Vivian Liska (Universität Antwerpen)


ANMERKUNGEN

(1) Agamben, Giorgio, Idee der Prosa, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1987, S. 121-125. Alle Zitate aus diesem Text verweisen mit Seitenangaben im Text auf diese Ausgabe.

(2) Agamben, Giorgio, Homo Sacer, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2002, S. 66.


6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift

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For quotation purposes:
Vivian Liska (Universität Antwerpen): Der Messias in der Schriftmaschine. Gesetz und Schrift in Giorgio Agambens Kafka-Lektüren. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/liska16.htm

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