Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
6.8. Fremde erleben / Experience the Foreign |
Elene Chechelashvili (Tbilissi)
[BIO]
Georgien reicht von den Küsten des Schwarzen Meeres im Westen bis fast an das Kaspische Meer im Osten heran. Im Norden wird es vom Großen Kaukasus und im Süden vom Kleinen Kaukasus begrenzt. Dazwischen erstrecken sich verschiedene andere Gebirgszüge, von denen das etwa in der Mitte Georgiens in Nord-Süd-Richtung verlaufende Lichigebirge von besonderer Bedeutung ist, da es das Land seit jeher klimatisch und kulturell in zwei unterschiedliche Gebiete aufteilt. So sind etwa 80% des 70.000 Quadratkilometer großen Territoriums mit Gebirgen und Höhenzügen bedeckt, 50% des Landes liegt höher als tausend Meter. Der mächtige Kamm des Großen Kaukasus überragt um rund 1000 m die Grenzlinie des ewigen Eises. Die kaukasischen Berge sind reich an Wäldern, Heilquellen und Erzlagerstätten und die Eigenart und erstaunliche Mannigfaltigkeit des georgischen Klimas, bedingt durch das wechselvolle Relief, spielte eine entscheidende Rolle in der aktiven Entwicklung des Wirtschaftslebens. So ist es kein Wunder, dass die aufregenden Bergwelten des wilden und zerklüfteten Großen Kaukasus mit seinen repräsentativen Hochgebirgsgipfeln und die des viel älteren Kleinen Kaukasus mit den durch die langen Erosions- und Abtragungszeiten bedingten sanfter geschwungenen Formen und weiträumigen Hochplateaus und all die zwischen den Bergketten sich erstreckenden Täler, von denen keines dem anderen gleicht im Hinblick auf Größe und Ausdehnung, Anblick, Richtung und Vegetation, dem georgischen Land das verleihen, was seinen eigentlichen Reiz und Charme ausmacht, diesem Zauber kann niemand widerstehen. Aber auch die anderen mannigfaltigen Naturschönheiten wie die subtropische kolchische Niederung mit ihren Sümpfen im Westen und die trockenen, felsigen Steppen und Halbwüsten im Osten tragen zum Gesamtcharakter des wechselvollen georgischen Naturbildes bei. Diese günstige geografische Lage und die genannten Schätze machten Georgien seit der frühesten Menschheitsgeschichte zu einem bedeutenden Kulturzentrum an der Nahtstelle von Europa und Asien. Mit seinen national unterschiedlichen Landstrichen, den je eigenen Daseinsformen und Kulturen war es immer schon mit den Nachbarländern verbunden.
Eine liebenswürdige Legende über die Entstehung Georgiens erzählt: Als Gott vor Urzeiten alles Land an die Völker der Erde verteilt hatte, erschienen überraschend noch drei weinselige, hoch gewachsene, glutäugige und schwarz gelockte Abgesandte der Georgier. Sie baten darum, ihnen trotz ihrer Verspätung auch einen angemessenen Teil der Erde zu geben. Als der Herr die in poetischen Versen vorgetragene und in himmlische Melodien gekleidete Bitte der Georgier vernahm, wurden seine Augen feucht. "Die Erde habe ich an die Menschen verteilt", bedauerte Gott, "aber weil ihr Georgier so wundervoll reden, singen und musizieren könnt, schenke ich euch den Flecken Erde, den ich eigentlich mir selbst vorbehalten hatte." In diesem Stück Paradies leben sie heute noch.
Zusammen mit meinen Freunden habe ich viele Gebiete meines Heimatlandes zu Fuß und zu Pferde durchstreift und dabei die landschaftlichen, kulturellen und ethnografischen Mannigfaltigkeiten Georgiens kennen gelernt. Gerade aus diesem Grund reifte die Idee heran, in Ostgeorgien, namentlich in Kartli, eine touristische Erholungszone für die Bewohner der Großstadt Tbilissi und ihrer Umgebung, wie auch für einen internationalen Tourismus zu schaffen. Dabei wäre meiner Meinung nach zunächst eine Ankurbelung und Entwicklung eines Binnentourismus, der es sich zur Aufgabe machte, die derzeit nicht gute Infrastruktur zu verbessern, eine gute Vorbedingung und bessere Basis für einen internationalen Tourismus. Doch bevor ich auf weitere Vorzüge einer solchen Tourismusentwicklung eingehe, möchte ich die Region Kartli ein wenig beschreiben.
Die Region Kartli liegt im Herzen Georgiens. Schon vor rund 1.75 Mio. Jahren lebte hier die frühe Menschheitsform des "Homo erectus", wie die Schädelfunde unter der Lava bei der Stadt Dmanissi aus den letzten Jahren zeigen. Die Fühbronzezeit des 4. und 3. Jahrtausends v.Chr. brachte die Kura-Araxes-Kultur hervor, woran sich die Trialeti-Kultur des 2. Jahrtausends v.Chr. anschloss. Zahlreiche archäologische Funde spiegeln nicht nur den hohen Standard der Lebensweise und Wirtschaft dieser frühen Menschheitszeit wider, sondern auch wesentliche kulturelle Veränderungen und Entwicklungen. Im 4. Jahrhundert v. Chr. war Kartli das Zentrum des östlichen Iberischen Königreichs. Unmittelbar an der damaligen Haupt- und Königsstadt Mzcheta kreuzten sich die Handelswege in Nord/Süd- wie in Ost/West-Richtung, Abzweigungen der Seidenstraße, auf denen neben den Kostbarkeiten auch die Weisheitsschätze der angrenzenden Länder strömten und Georgien zu einem Brückenland machten. Von Kartli ging zu dieser Zeit die Formierung des ersten einheitlichen georgischen Staates aus und vermutlich war es König Parnawas, der das Georgische Alphabet geschaffen hat. Griechen und Römer haben ihre Spuren hinterlassen, im 4. Jh. wird das Christentum zur Staatsreligion erhoben, Byzanz übt seinen politischen und religiösen Einfluss aus, die Perser überfallen das Land, und nachdem die Araber bereits bedeutende Territorien von Byzanz und Persien erobert hatten, geriet auch der Kaukasus in ihr Blickfeld. Jahrhunderte lang tobten erbitterte Kämpfe auf dem Territorium Iberiens. Erst im Jahr 1121, nachdem David der Erneuerer, König der Könige, die Heere der Seldschucken und Araber in der Schlacht von Didgori vernichtet hatte, begann für Kartli und auch Georgien ein Goldenes Zeitalter. Er verwandelte einen verödeten Landstrich in eines der mächtigsten christlichen Imperien, weit entfernt vom Zentrum des Christentums. Mit der Regentschaft der legendären Königin Tamara gelangte Georgien auf den Gipfel seines Ruhmes, seiner Macht und seines Reichtums. Tbilissi war inzwischen die neue Hauptstadt des Landes. Die weitere wechslvolle Geschichte darzustellen würde hier zu weit führen.
Für die Einrichtung einer touristischen Rekreationszone speziell in der Ardschewani-Trialeti-Zone innerhalb Kartlis sprechen nun mehrere Gründe. Dieses Gebiet des Trialetischen Gebirges, Wasserscheide für die Flüsse Tana, Kawtura und Tedsami im Norden, Vere, Algeti und Chrami im Osten und Süden eignet sich in hervorragender Weise sowohl für einen Öko- und Wandertourismus wie auch für einen Kulturtourismus. Es bietet die Möglichkeit der Einrichtung einer großartigen touristischen Infrastruktur für Wanderer, Reiter und Autofahrer und liegt nur etwa 30 bis 40 km weit von Tbilissi entfernt, was von besonderer Bedeutung für die Bewohner der Hauptstadt ist, da sie eine traditionelle wirtschaftlich-kulturelle Beziehung zu dieser Gegend haben. Die Hauptgründe liegen aber in der überwältigenden Naturschönheit, die ein wechselvolles Bild bietet von alpinen Bergregionen mit ihren Schluchten und Urwäldern bis hin zu trockenen Alpweiden, Steppen und Halbwüsten, und dem unermesslichen Reichtum an historisch-kulturellen Baudenkmälern wie steinzeitlichen Höhlen (Gochnari-Höhlen im Algetital; von großer Bedeutung Uplistsiche nördlich der Kura zwischen Gori und Kaspi), mittelalterlichen Stadtbefestigungen (Samschwilde und Chuluti im Chramital; Birtwissi im Algetital), Burgen und Brücken (u.a. Rkoni-Festung und Rkoni-Brücke am Tedsami) wie auch einer großen Fülle von Kirchen- und Klosteranlagen (in allen genannten Tälern) von historisch und architektonisch unterschiedlichstem Gepräge. Es ist nahezu unmöglich, die schier unendliche Fülle aller von Natur und Menschenhand geschaffenen Sehenswürdigkeiten aufzuzählen.
Etwas genauer sei nur das Tal des Tedsami beschrieben: Er beginnt seinen Lauf unterhalb einer der höchsten Erhebungen des Trialetischen Gebirges, der Ardschewanikette mit einer Höhe von 2757m, und fließt in nordöstlicher Richtung zur Kura hin, die ihn unweit von Kaspi aufnimmt. Entlang des Flusses zeugen sieben Brückenruinen, deren Pfeiler bis heute erhalten geblieben sind, von der einstigen strategischen Bedeutung dieser Schlucht. Unweit des Rkoni-Klosterkomplexes spannt sich sogar eine noch völlig heile und funktionstüchtige wunderschöne mittelalterliche Steinbogenbrücke mit schlanken Bauproportionen über den Tedsami. Von allen Denkmälern der Tedsamischlucht hat das Kloster Rkoni mit seinen zugehörigen Gebäuden wie z.B. der dreischiffigen Basilika aus dem 7. Jh., dem Glockenturm und vor allem der einzigartigen dreistöckigen Turmkirche große Bedeutung. Besonders sehenswert und typisch für diese malerische Gegend ist auch das Dorf Ertatsminda mit der Kuppel- Kirche des Hl.Estate inmitten des Dorfes, von einer Mauer umgeben und mit gut erhaltenen Wandmalereien und Steinschnittornamenten versehen. Historisch bedeutsam und von Legenden umwoben steht sie da und macht großen Eindruck auf jeden Besucher.
Bei diesen touristisch sehr attraktiven Kulturdenkmälern fügt es sich glücklich, dass sie von einer wunderbaren Natur umgeben sind. So lässt sich hier ein Naturtourismus bestens mit einem Kulturtourismus verbinden. Die Kulturdenkmäler sind mit dem Auto erreichbar, während sich der obere Teil der Schlucht nur dem Gebirgswanderer erschließt, dies aber in vorzüglicher Weise. Die Gebirgsflora ist hier sehr mannigfaltig, man findet endemische Enzianarten, den weißblütigen Rhododendron, dessen Blätter und Blüten einen wunderbaren Tee abgeben, die Iberische Iris und zahlreiche Moosarten; weiterhin die Kaukasische Fichte und Kiefer, die Nordmannstanne, wilde Birnbäume und Haine von Eichen, Linden und Ulmen. Die gemischten Wälder wechseln mit Bergweiden und in der schwer zugänglichen Landschaft kann es vorkommen, dass man die Canons zwischen den engen Felswänden mit ihren Strömungen und Wirbeln bis zu den Knien im Wasser durchwaten muss. Ebenso mannigfaltig wie die Pflanzenwelt ist auch die Gebirgsfauna. Bär, Wolf, Wildschwein, Fuchs Reh und Hase sind hier heimisch, in den luftigen Höhen Adler, Geier und Birkhahn und im Wasser des Tedsami finden Forellen und Barben beste Lebensbedingungen. Die bunten Gesteinsschichten einzelner Felsabschnitte geben der Landschaft einen besonderen Reiz. Die erhaltenen Steinbrüche aus vergangenen Zeiten weisen auf die hohe Kultur der Steinverarbeitung hin. Die umliegenden Dörfer, zumeist mit Griechen angesiedelt, waren berühmt für den Steinschnitt in Grabmälern, Säulenstämmen, Kapitellen und Bauornamenten.
Die Einrichtung und Entwicklung eines Binnen- wie internationalen Tourismus in der beschriebenen Region brächte nicht nur für die Gäste einen hohen Gewinn, sondern vor allem auch für die Menschen, die in ihr leben und gelebt haben. Die Verbesserung der Infrastruktur, der Wiederaufbau von verlassenen Dörfern und verwüsteten Landstrichen, Einrichtung von Lehrpfaden, Geländetafeln, Informationsstellen und die Entwicklung eines Agrobusiness mit größeren Farmwirtschaften könnte neu Arbeitsplätze schaffen und damit sogar die ehemaligen Dorfbewohner zur Rückkehr bewegen. Naturschutz und eine gesunde Ökologie sollten dabei nicht außer Acht gelassen werden. Die Produktion von Ökoprodukten käme sicherlich auch den Märkten der Großstadt zugute.
Natürlich sind die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade von Wanderungen und Hochgebirgstouren zu berücksichtigen. Die beigefügte Karte verweist gemäß den Regionen auf drei Kategorien, welche die physische Kondition, das Alter und die Wünsche des Einzelnen berücksichtigen: Die schwierige Kategorie I für den Gebirgstourismus (grün), die leichtere Kategorie II für normale Wanderungen zu Fuß und zu Pferd (blau) und Kategorie III für den Autotourismus (rot). Dem entsprechend wären Ferienhäuser für die mittleren und Berghütten für die höher gelegenen Regionen einzurichten, wozu sich die Ortschaften Rkoni, Sakavre, Mgebriani und Manglissi bestens eigneten. Auch an die Einrichtung von Basislagern für Jugendliche und Bergsteiger wäre zu denken, um allen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Alles zusammengenommen, die Stärkung des Bewusstseins für das historische Erbe, die Aufmerksamkeit auf eine schöne und gesunde Natur, verbunden mit einem modernen Naturschutz wie auch einem Ökologiebewusstsein, könnten eine gute Grundlage bilden für Erlebnisbereitschaft, Ruhe- und Erholungsbedürftigkeit, ein gesundheitsbewusstes Leben und Identitätsfindung in der eigenen, bzw. fremden Geschichte. Für die Aufgaben, die mit einem solchen Großprojekt verbunden sind, braucht man natürlich erfahrene Fachleute. Doch die sollten sich in Georgien wohl finden lassen.
© Elene Chechelashvili (Tbilissi)
Chuluti Festung |
Pitareti Kirche |
Ikvi Kirche |
Steinbogenbrücke über Tezami Fluss |
Endemische Enzianarten
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Weißblutiger Rhododendron
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Iberische Iris |
Moosart |
Forelle
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Birkhahn |
Zwischen engen Felswänden
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Grabstein |
Rkonis Kloster
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Estate Kitche |
Metechikuppel Kirche aus dem 13. Jahrhundert
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Kwatackewi Kuppelkirche aus dem 12 Jahrhundert |
Höhlenstadt Uplisziche
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Wandmalerei in der Kirche von Atenis Sioni aus dem 7. Jahrhundert |
6.8. Fremde erleben / Experience the Foreign
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