Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horvath (Universität Debrecen) / Eszter Pabis (Universität Debrecen) / Tamás Lichtmann (Debrecen)

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Geschlecht als Identifikationskategorie im Italienischen Futurismus

Christina Parzinger (Universität Wien)
[BIO]

 

 

Nicht bloß das eigene, auch das Bild der anderen will in seinen Komponenten und in deren Entstehung erfasst und analysiert werden. Erst dann wird sich Bedingtes von Zufälligem, Zeitliches von Dauerndem unterscheiden lassen.(1)

 

Einleitung

Die Misogynie im Futurismus ist noch immer einer relativ wenig erforschter Aspekt der italienischen Avantgardebewegung. Derweilen handelt es sich um einen sehr interessanten Punkt, denn vor allem in der ersten Phase des Futurismus engagierten sich nicht wenige Frauen in der Italienischen Avantgarde um Tommaso Filippo Marinetti, was zunächst angesichts der extrem sexistischen Positionen des Begründers des Futurismus überraschen mag.

Im vorliegenden Beitrag soll vor allem der Frage nachgegangen werden, welche allgemeinen Möglichkeiten für Frauen bestanden, sich in der futuristischen Avantgarde zu positionieren. Im Anschluss soll anhand einer kurzen Skizzierung der Positionen der Futuristin Rosa Rosàs ein Ausblick darauf gegeben werden, welche Lösungsansätze die Schriftstellerin und Künstlerin für den Antagonismus von diskursiver Ausgrenzung und individuellem Wunsch nach Zugehörigkeit, mit dem sie als weibliches Mitglied in der Futuristischen Avantgarde konfrontiert war, entwirft.

 

Gruppenidentität im Futurismus

Die im Gründungsmanifest des Futurismus zu findende gebetsformelhafte Wiederholung des "noi" wirft zunächst die Frage nach der sprechenden Person bzw. den sprechenden Personen auf. Zwar wurde das aus dem Jahre 1909 stammende "Manifesto del Futurismo" allein von Marinetti verfasst, doch ist der auch für die folgenden Manifeste charakteristische kollektive Handlungscharakter bereits eindeutig. Die futuristische Avantgarde hat sich stets als Gruppe gesehen, die eine gemeinsame Linie vertritt mit konkreten Forderungen und Ansichten. Der Vergleich mit einer politischen Partei ist durchaus legitim, zumal sich Marinetti bereits 1916 für die Gründung eines "partito futurista" ausgesprochen hat. Innerhalb des Kollektivs gab es einen klar hierarchischen Aufbau, an dessen Spitze unangefochten Marinetti stand.

Ein Abweichen von den futuristischen Positionen war für die Mitglieder nur bedingt möglich, was sich im Verhalten und Auftreten der Futuristen widerspiegelt. So schreibt Boccioni 1912 an Severini:

[...] é necessario che il gruppo marci di comune accordo finché le esposizioni sono collettive. Cosí per esempio noi tutti c’impegniamo a rifiutare d’esporre soli; anche se invitati con qualsiasi offerta, nelle città dove le esposizioni futuriste non sono state fatte.(2)

Von den Mitgliedern wurde demnach erwartet, dass sie sich für die gemeinsamen Ziele engagieren. Wer sich zum Futurismus bekannte und aufgenommen wurde, hatte sich zudem mit der futuristischen Ideologie zu identifizieren. So wurden die Manifeste, in denen die futuristischen Positionen und Forderungen formuliert wurden, in den meisten Fällen von mehreren Mitgliedern unterschrieben.

Die Formulierung der eigenen Positionen und Forderungen in Form von Manifesten war ein wesentlicher Teil des futuristischen Programms. Dabei wird der ästhetische Anspruch durch eine politische Dimension erweitert. Ziel ist es mit den Manifesten ein möglichst großes Publikum zu erreichen und damit die im Ästhetizismus vorherrschende absolute Trennung von Kunst und außerkünstlerischer Wirklichkeit aufzuheben. Der elitäre Anspruch der Kunst wird abgelehnt, das Kunstwerk für alle zugänglich gemacht. Doch auch wenn die Mitglieder des Futurismus einen radikalen Bruch mit der bisherigen Kunstauffassung forderten, blieb der Anspruch auf Ästhetik. Die Kunst sollte nicht abgeschafft werden, sondern in dem neuen Lebensentwurf der Futuristen ein durchdringender Teil des Lebens werden(3).

Im Manifestantismus der Avantgarde zeichnet sich der Futurismus in der Machart seiner Manifeste trotz seiner Forderungen nach der Ablehnung alles Alten mehr durch ein Anschließen an Traditionen des 19. Jahrhunderts, als durch einen Traditionsbruch aus. So bleibt das Verhältnis von Postulat und Form des Manifestes zunächst eher konventionell(4).

In Hinblick auf den Inhalt und die Aussage handelt es sich laut Steven Mentor bei Manifesten allgemein um ein eigenes literarisches Genre mit spezifischen Eigenschaften(5), wobei ein wichtiges Charakteristikum der futuristischen Manifeste ihr durchgehend destruktiver und radikaler Handlungscharakter ist.

In den Manifesten werden bestimmte Ausgangspunkte festgelegt, die gleichzeitig als offensichtlich und nicht hinterfragbare Tatsachen formuliert werden. So entwickelt die futuristische Avantgarde ihr Programm auch trotz der Forderungen nach einem aktiven Eingreifen in soziale, gesellschaftliche und politische Bereiche allein gemäß der eigenen Ideologie:

Zwar weist die Avantgarde in ihrer Teleologie durchaus Analogien zu anderen, politisch radikalen Positionen auf, sie entwickelt ihre Standpunkte aber, wie die Manifeste zeigen, aus sich selbst heraus.(6)

Angesichts der "Utopie der Ganzheitsentwürfe"(7), das heißt des Anspruchs alle Lebensbereiche gemäß der eigenen völlig neu formulierten futuristischen Überzeugungen revolutionieren zu wollen, kommen den Manifesten zwei wichtige Funktionen zu: sie erklären nicht nur die Positionen und Inhalte der futuristische Ideologie, sondern beschreiben gleichzeitig, wie diese nun auf konkrete Bereich des Lebens angewendet werden sollen.

 

Die binäre Oppositionierung

Zunächst bildet die strikte Einteilung in "futurismo" und "passatismo" die Grundlage für die gesamte Argumentationslinie der futuristischen Ideologie, die auf der Denkfigur der binären Opposition beruht. Es werden Begriffe gegenübergestellt, die sich gegenseitig ausschließen. Das, was nicht futuristisch ist, ist demnach passatistisch und somit abzulehnen, ja zu bekämpfen. Gleichzeitig findet eine Analogiebildung statt, welche die kontradiktorischen Oppositionspaare verbindet. Dadurch wird es möglich verschiedene Themenbereich zu verbinden und in Beziehung zueinander zu setzen.

In den parolibere "Sintesi futurista della guerra" aus dem Jahre 1914 wird die Oppositionierung von "futurismo" und "passatismo" für die Zuordnung von Freund und Feind auf nationaler Ebene angewendet. Die Spitze des Futurismus, welche die Feindnationen durchdringt, unterstreicht die berühmte Aussage "la guerra sola igiene del mondo", welche bereits im Gründungsmanifest zu finden ist.

Interessanterweise wird die Verherrlichung des Krieges bereits im Gründungsmanifest in direktem Zusammenhang mit der Forderung nach der Verachtung der Frau genannt. Die Misogynie in der ersten Phase der italienischen Avantgarde ist ein zentraler Punkt im futuristischen Programm. Cinzia Blum hat Marinettis Sprachgebrauch als ein Prinzip zur Strukturierung der Wirklichkeit untersucht und dabei die Oppositionierung von Männlichkeit und Weiblichkeit als ein identitätsstiftendes Merkmal herausgearbeitet, bei dem das Weibliche als das negativ besetzte "Andere" zur Abgrenzung des "Eigenen" dient: "masculinità" wird mit "futurismo" gleichgesetzt, während "feminilità" für "passatismo" steht.(8) Das Feminine als Verkörperung des passatistischen Weiblichkeitskultes wird zum Erzfeind erklärt und mit der Maskulinisierung des italienischen Futurismus wird eine Art asketische Virilität der weiblichen Sinnlichkeit und Erotik des Symbolismus gegenübergestellt und zum absoluten Ideal erhoben. Die negativ gewerteten Eigenschaften, welche dabei dem Weiblichen zugeschrieben werden, verkörpern all das, was es laut Futurismus zu bekämpfen gilt: das Fließende, das Weiche, das Friedvolle usw. Diese Zuschreibungen waren jedoch nicht neu. Dass es sich hier um Überlegungen handelt, die sich auf zeitgenössische kulturanthropologische Entwürfe beziehen, relativiert im Zuge einer Kontextualisierung den provokativen Anspruch des Futurismus. In diesem Zusammenhang seien die Überlegungen von Otto Weininger, P.J Moebius oder Karl Kraus zur Unterlegenheit der Frauen erwähnt. Einige dieser pseudowissenschaftlichen Texte erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts in der Zeitschrift "Poesia" erstmals in Italienischer Übersetzung.

Gleichzeitig greift wenig später der Faschismus bei dem Versuch, Männlichkeit durch die Verherrlichung des maskulinen, unverwundbaren Körpers als Norm von Subjektivität zu installieren, auf Argumentationen zurück, wie sie die futuristische Avantgarde entwickelt hat. Theweleit verweist in diesem Zusammenhang auf das kulturelle Imaginäre, das Weiblichkeit mit dem Flüssigen und dem Monströsen identifiziert, welches das männliche "Ich" in eine permanente Konfusion mit Grenzen setzt. Monströs ist also nicht mehr das vom Einen abgespaltete Andere, sondern vielmehr die Unabgespaltenheit und Vermischtheit.(9) Auch Cinzia Blum sieht in der extremen Polarisierung des Männlichen und Weiblichen ein Problem von Identität. In Bezug auf eine Analyse der Texte Marinettis kommt sie zu dem Ergebnis, dass

gender analysis reveals its unarticulated emotional underside, the "other" within the self: a radical sense of crisis, producing a need for unlimited control and desire for absolute domination, to which the rhetorical strategies of the futurist fiction of power provide a violent, artificially optimistic, compensatory response.(10)

Eine fundamentale Zielsetzung des Futurismus war die Überwindung von Zeit und Raum und die Auflösung aller Grenzen. Diese Forderung galt auch für die Öffnung der symbolischen Ordnung und die Überschreitung der das Ich limitierenden Grenzen zu dem in Opposition stehenden "Anderen". Aus der misogynen männlichen Sicht des Futurismus bedeutet dies konsequenter Weise die Penetration und Zerstörung des "Anderen", in diesem Falle des "Weiblichen" Besonders auffällig ist im futuristischen Geschlechterdiskurs die extrem aggressive Rhetorik und die viel verwendete Kriegsmetaphorik, die immer wieder nicht nur auf eine Abgrenzung des Weiblichen, sondern explizit auf deren Zerstörung abzielt.

 

Machtstrukturen

Avantgarde ist ursprünglich ein Begriff aus der Militärsprache und bezeichnet die Vorhut, das heißt denjenigen Truppenteil, der als erster vorrückt und somit als erster in Feindberührung tritt. In diesem Sinne ist der Begriff "Avantgarde" hier durchaus auch in seiner ursprünglichen Bedeutung passend. So haben die Futuristen die Durchsetzung ihrer Ziele als einen Kampf verstanden. Die Legitimität ihrer Position als führende Kraft und die Notwendigkeit der Umsetzung ihrer Forderungen stand für sie außer Frage. In Bezug auf die Reichweite der durch Manifeste postulierten Forderungen beansprucht, wie bereits erwähnt, die italienische Avantgarde "Totalität" sowohl im Verhältnis von Kunst und Leben als auch bei der radikal zu verändernden Gesellschaft"(11). Im Falle der Italienischen Avantgardebewegung wird demnach evident, dass die Gender-Fragestellung in Literatur und Kunst nicht losgelöst von den ethischen, juristischen und politischen Konsequenzen des Differenz-Denkens behandelt werden kann.

Grundvoraussetzung für die Herausbildung bipolarer Systeme, in denen der "Andere" nur noch ausschließlich als Mitglied der Fremdgruppe wahrgenommen wird, sind bestimmte herrschende Machtverhältnisse. Macht bedeutet laut Foucault die Kontrolle über den Diskurs zu besitzen. In Bezug auf die Themenbereiche der Sexualität und der Politik schreibt er:

Offensichtlich ist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einiger ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten.(12)

Durch die Kontrolle und Lenkung des Diskurses wird eine bestimmte Ordnung so lange betont, bis die gesellschaftliche Machtverteilung nicht mehr als historisch produziert, sondern als natürlich erscheint. Folgen sind die Ausgrenzung und Unterwerfung des "Anderen", indem das "Fremde" nun nicht mehr nur als das "Andere", sondern das "Feindliche" definiert wird.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass sich Subjektivität durch die Diskurse über Geschlecht, Sexualität und Rasse konstituiert, ist es unumgänglich die jeweils wirkenden Machtverhältnisse zu analysieren. So verweist De Lauretis in Soggetti eccentrici auf die theoretische Ebene des feministischen Diskurses und dessen Fragestellung nach der Interrelation zwischen Subjekten, Diskursen und sozialen Praktiken. Bezug nehmend auf Foucault beschreibt sie diese Interrelationen als ein komplexes Zusammenspiel von Machtpositionen:

Non un singolo sistema di potere che domina i senza potere, ma un groviglio di relazioni di potere e punti di resistenza distinti e variabili.(13)

Identität wird somit nicht als Ursprung oder Ursache, sondern als Effekt von Macht gesehen und wird durch Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen bestimmt. Dabei gehört die Abgrenzung des Eigenen von Anderen zu den sozialen Grunderfahrungen von Menschen.

Die futuristischen Manifeste sind zunächst öffentliche Erklärungen bestimmter Ziele und Absichten einer kleinen Gruppe von Personen, die außerhalb des traditionellen Kunst- und Kultursystems steht, sich jedoch gleichzeitig als Elite sieht. In der absoluten Überzeugung Vorreiter und auch aktive Gestalter neuer und tief greifender Entwicklungen zu sein, sehen die Avantgardisten ihre Botschaften als unanfechtbare Wahrheit. Die zahlenmäßige Unterlegenheit bedeutet somit nicht, dass es sich um eine marginalisierte Gruppe handelt, die versucht eigene Ansprüche durchzusetzen, sondern wird vielmehr als eine Bestätigung der messianischen Rolle, in der sich die Futuristen sehen, dargestellt.

Somit ist es entscheidend, wer autorisiert ist, diese neuen Botschaften zu verkünden. Nur wer offiziell im Futurismus aufgenommen ist, hat das Recht seinen Namen unter ein futuristisches Manifest zu setzen. Hierbei fällt auf, dass es so gut wie keine Manifeste gibt, die von Futuristinnen unterschrieben wurden. Es finden sich zwar Frauen in der italienischen Avantgarde, doch stellt sich die Frage, wie weit sie wirklich integriert waren.

In den Werken der meisten Futuristinnen wird eine sehr selbstbewusste Haltung vermittelt. Es wird deutlich, dass sich die Künstlerinnen und Schriftstellerinnen als Futuristinnen durchaus in einer anderen Frauen gegenüber elitären und überlegenen Rolle sahen. Schwieriger wird es hingegen bei der Positionierung innerhalb der von Männern dominierten futuristischen Avantgarde selbst. Interessanterweise waren die meisten der Futuristinnen in der Florentiner Gruppe um die Zeitschrift "L’Italia futurista" tätig, die immer wieder eine kritische Haltung gegenüber Marinetti und den Mailänder Futuristen einnahm. Gleichzeitig kam von den Frauen selbst jedoch nur vereinzelt Kritik an Marinetti. Und selbst als Marinettis sexistisches Buch "Come si seducono le donne" 1917 erschien, das in Folge zu einigen Polemiken und Diskussionen führte, haben sich nur wenige Frauen auch aus den Reihen der Florentiner Futuristinnen zur Geschlechterthematik geäußert. Zwar verfasste bereits 1912 Valentine de Saint-Point das Manifest der Futuristischen Frau, doch wird auch in diesem Text die grundlegende Unvereinbarkeit von Futuristischer Ideologie mit dem Entwurf eines zukünftigen Frauenideals deutlich. Die Strategien, welche in Folge von manchen Futuristinnen zur Überwindung dieses Paradoxes entwickelt wurden, sind sehr unterschiedlich und es gibt grundsätzliche keine geschlossene weibliche Position im Futurismus.

 

Ausblick auf eine weibliche Position im Futurismus

Im letzten Teil meines Beitrags soll abschließend auf Rosa Rosàs Argumentation für die Existenz eines futuristisches Frauenideals eingegangen werden. Sie hat sich als Künstlerin und Schriftstellerin fast ausschließlich mit der Geschlechterthematik beschäftigt. Zudem hat sie in der Florentiner Zeitschrift "L’Italia futurista" einige Artikel zu der so genannten "questione della donna" veröffentlicht.

Zunächst wirken Rosa Rosàs Überlegungen sehr modern. So erklärt sie in einer ihrer theoretischen Schriften die Geschlechtergrenzen als obsolet und fordert:

Smettiamola di spaccare l’umanità in uomini e donne, (divisione che mi sembra balorda come se ci venisse in mente di dividere il genere umano in biondi o in bruni)(14)

Rosa Rosàs Lösungsansatz nimmt demnach die poststrukturalistische Vorstellung der sozialen Konstruktion des Geschlechts als einer konventionellen, aber eben auch steuerbaren Identitätsfindung jenseits der Biologie, in Ansätzen vorweg. Gleichzeitig jedoch bleibt Rosa Rosá in den durch die Grundpositionen des Futurismus bestimmten Wahrnehmungsmustern gefangen, indem auch sie letztlich die Auflösung der Kategorie des "Weiblichen" postuliert. Ihr in den theoretischen Schriften entworfenes Ideal einer futuristischen Frau ist in vieler Hinsicht nichts anderes, als ein komplementäres Spiegelbild des futuristischen Mannes. Das heißt, das neue Frauenideal zeichnet sich durch jene männlichen Markierungen aus, die in direkter Opposition zu den teilweise oben bereits genannten weiblich konnotierten und im Futurismus negativ belegten Eigenschaften stehen, wie Weichheit, Friedfertigkeit usw. Demnach ist die futuristische Frau für Rosa Rosà eine "virile" Frau.

In einem anderen Text der Futuristin mit dem Titel "Le donne del posdomani" (1917) heißt es:

Le donne stanno per diventare uomini (...) perché ormai - le mura del gineceo sono saltate in aria.(15)

Der Begriff "ginegeo" bezeichnet im Italienischen den Teil eines antiken griechischen Hauses, in dem sich die Frauen aufzuhalten hatten. Zugleich stammt dieser Begriff aus dem Bereich der Sexualterminologie.

Mit der Sprengung der Mauern des "ginegeo" wird somit einerseits die Auflösung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre, welche die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausgrenzt, angekündigt, gleichzeitig wird damit aber auch die Auflösung der Geschlechtergrenze an sich angedeutet.

Rosa Rosàs Versuch in ihren theoretischen Schriften trotz programmatischer Verachtung der Frauen innerhalb der futuristischen Ideologie eine Art femininen Futurismus zu entwerfen, ist aus heutiger Sicht problematisch. Dennoch, die heute befremdend wirkenden Aussagen sind meiner Meinung nach - besonders aus feministischer Sicht - oft mit falschen Erwartungen konfrontiert, und daher auch falsch interpretiert worden. Schlagworte wie "Emanzipation" oder "geschlechtliche Gleichberechtigung" sind im Zusammenhang mit den Positionen der Futuristinnen nur bedingt brauchbar und eine solche zu schnelle Auslegung widerspräche im Falle Rosa Rosàs auch ganz offensichtlich den Intentionen der Verfasserin. So schreibt Rosa Rosà explizit über sich selbst keine Feministin zu sein, sondern eine "-istin", für die ein erster Teil der Bezeichnung noch gefunden werden müsse.(16)

© Christina Parzinger (Universität Wien)


ANMERKUNGEN

(1) H. Dysenick / K. Syndram 1988, S.7

(2) C. Viazzi 1976, S.41.

(3) S.h. P. Bürger 1974.

(4) W. Asholt/ W. Fähnders 1995, S. XVIII.

(5) S.h. http://www.converger.com/cybunny/technohi.htm [11.5.06]

(6) P. Bürger 1995; S.XXVII.

(7) W. Asholt / W. Fähnders 1995, S. XXVIII.

(8) C. Blum 1996.

(9) K. Theweleit, 1995.

(10) C. Blum 1996; S. viii.

(11) W. Asholt / W. Fähnders 1995, S. XXVIII.

(12) M. Foucault 2003, S. 11.

(13) T. De Lauretis 1999, S.36.

(14) R. Rosà in C. Salaris 1981, S. 115.

(15) R. Rosà in C. Salaris 1981, S. 126.

(16) R. Rosà in C. Salaris 1981, S. 116.


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Christina Parzinger (Universität Wien): Geschlecht als Identifikationskategorie im Italienischen Futurismus. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/parzinger16.htm

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