Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horvath (Universität Debrecen) / Eszter Pabis (Universität Debrecen) / Tamás Lichtmann (Debrecen)

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Migrantinnen in Deutschland. Feministische und postkoloniale Lebens-Konzepte

Elisabeth Puntigam (Universität Debrecen/Hochschule für Pädagogik)
[BIO]

  

1. Einleitung

Mit dem Titel "Migrantinnen in Deutschland" werden zwei verschiedene Themenkomplexe angesprochen. Zum einen ist das die real-politische Situation: Migrantinnen in Deutschland, deren Situation durch die langjährige Selbstbeschreibung Deutschlands als "Nicht-Einwanderungsland"(1) verdeutlicht wird. Eine Formulierung, die schon sehr viel über den Status von MigrantInnen im Allgemeinen aussagt. Zum anderen ist dies die Konstruktion der "Migrantin", der "Fremden" schlechthin. Chandra Talpade Mohanty stellte bereits 1988 fest, dass die Repräsentation der "Dritten Welt-Frau" ein Konstrukt des westlichen Feminismus sei.(2) Nach Mohanty müsse der akademische Feminismus im Westen seine Geschlechtskategorien auch geopolitisch situiert betrachten, d.h., Geschlechterbeziehungen können sich nicht an jedem Ort identisch ausbilden, da sie Produkt von sozialen, politischen und historischen Handlungen und Kämpfen sind. Mohantys Auffassung wird innerhalb der postkolonialen Kritik geteilt und zwar hinsichtlich des Punktes, dass erst durch die Konstruktion der "Dritten Welt-Frau" als Opfer sich die weiße westliche Frau als modernes emanzipiertes Subjekt konstruiere.(3)

Vor diesem Hintergrund gilt es nun feministische und postkoloniale Theorie mit der Lebensrealität von Migrantinnen in Deutschland zu verbinden. Wie lassen sich Konzepte, etwa der Differenz, der Repräsentation, der Hybridität auf die reale Situation von Migrantinnen anwenden? Zu diesem Zweck wird neben einer Fülle von Literatur zu feministischer und postkolonialer Theorie eine aktuelle Studie(4) über Lebenslagen von jungen Migrantinnen in Deutschland herangezogen, die vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben wurde.

 

2. Differenz

In den klassischen Einwanderungsländern Kanada und vor allem den USA hat die Diskussion um Unterschiede der sozialen und kulturellen Herkunft von Frauen besonders früh begonnen. Zunächst waren es Angehörige von Minderheiten, die darauf aufmerksam machten, dass ein Teil der von den feministischen Wissenschaftlerinnen entwickelten Begriffe zur Analyse der Geschlechterverhältnisse auf ihre spezifische Situation nicht zutrafen. So rückte an die Stelle eines offenbar imaginären "Wir"-Kollektivs gegen patriarchale Herrschaft/Strukturen die Differenz unter Frauen. Angesichts des Zuwanderungs-, Integrations- und Globalisierungsthemas gewinnt diese Kategorie zunehmend an Bedeutung. Konkret heißt dies nach Birgit Seemann, dass das frauenpolitische "Wir" "in Ethnizitäten, Kulturen, Religionen, Klassen/Schichten, Generationen und sexuelle Lebensweisen differenziert, aber auch fragmentiert"(5) wird. Für die feministisch-politologische Forschungsperspektive heißt dies, das Interesse zunehmend auf einheimische, zugewanderte und zuwandernde Minoritäten hin auszudehnen. Entsprechend vielgestaltig sind dann die potenziellen Differenzen unter den Frauen(gruppierungen):(6)

Frauen mit und ohne Staatsbürgerschaft, anerkannte und stigmatisierte Staatsbürgerinnen, Nichtjüdinnen und Jüdinnen, Einheimische und "Aussiedlerinnen", Christinnen und Musliminnen, weiße und schwarze Frauen, begüterte und materiell benachteiligte Frauen, "gesunde" und "behinderte" Frauen, "normale" und "verrückte Frauen, Arbeitsmigrantinnen und "Karrierefrauen"(7).

In diesem Zusammenhang dürfen die Differenzen auch unter den Minderheiten selbst nicht vergessen werden. Hier deutet sich die Bedeutung der "Differenz" als Prozess der Anerkennung der Besonderheiten der sozialen und kulturellen Erfahrungen einer Gruppe an. Differenz ist aber nicht nur ein Mittel der Anerkennung, sondern auch des Kampfes: Für Efthimia Panagiotidis ist der Begriff der Differenz eine "analytische Kategorie zur Erfassung komplexer Hierarchisierungsprozesse und unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse".(8) Encarnación Gutiérrez Rodriguez bezeichnet Differenz als einen "Marker für soziale Ungleichheit"(9), der über gesellschaftliche ökonomisch und politisch bedingte Verhältnisse (re-)produziert wird.

Was bedeutet dies nun konkret für Migrantinnen in Deutschland? Von Deutschland als "Nicht-Einwanderungsland" haben wir schon gesprochen. In der Realität hat es seit dem Zweiten Weltkrieg vier große Wanderungsbewegungen nach Deutschland gegeben: die Zuwanderung der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, Zuwanderung von angeworbenen Arbeitsmigranten und der mit ihnen verbundene Familiennachzug in den 1970er und beginnenden 1980er Jahren, die Zuwanderung von Asylbewerbern und schließlich die kontinuierliche Zuwanderung der Aussiedler, die mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten seit Ende der 1980er Jahre zu einer Massenbewegung wurde, aber inzwischen wieder erheblich an Dynamik verloren hat.(10) Migrantinnen wurden in diesem Zusammenhang meist als Opfer dargestellt, einerseits von globalen Dominanzstrukturen, die sie zur Migration bewegen und andererseits von vorgeblich besonders oppressiven Geschlechterbeziehungen in der Familie und der ethnischen Gemeinschaft. Die diesbezügliche Forschung in der Bundesrepublik stellt fest, dass "seit den 1970er Jahren eine klare Tendenz zur "Orientalisierung" von Migrantinnen beobachtet werden kann.(11) Das heißt, die Debatte über "Ausländerinnen" wurde zu einer Debatte über Türkinnen. Nach Irmgard Pinn und Marlies Wehner werden "Ausländerinnen" so mit dem Islam gleichgesetzt, der gleichzeitig als eine Art "Gegenkultur" zur deutschen Lebensart angesehen wird und über diese Polarisierung gelinge es eine alle Westeuropäer verbindende "abendländische Identität" zu konstituieren.(12) Dahinter steht eine binäre Vorstellung von kultureller Identität, die das Wir von dem Anderen, das Eigene von dem Fremden trennt und sich dabei in eine privilegierte Position setzt. Die "türkische" Migrantin als Sinnbild des Fremden, verdeutlicht durch das unterdrückende Symbol des Kopftuchs. Ganz abgesehen davon wie unzulässig eine solche Generalisierung ist, kam es hier offensichtlich zu einer Umkehrung des Diskurses von der begehrenswerten "Orientalin" zu der bemitleidenswerten "Türkin". Interessanterweise wird im Kontext der "Orientalin" die Verschleierung anders gesehen, dort gilt sie nach wie vor nicht als islamisch-fundamentalistische Frauenunterdrückung, sondern wird im Gegenteil als erwünschte Betonung der weiblichen Sexualität betrachtet.(13) Dieses Beispiel einer willkürlichen Bewertung von Differenzen zeigt gut auf, dass es konkret von der Definitionsmacht abhängig ist, welche Differenzen dazu dienen den Anderen als anderen zu identifizieren.(14) Über diese Mechanismen Bescheid zu wissen, ermöglicht uns sie zu hinterfragen und dekonstruieren.

Wie man Differenz als Anerkennungsstrategie auf die Lebenslagen von Migrantinnen in Deutschland umlegen kann, zeigt die Studie von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoģlu über "Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund.(15) Im Zeitraum von November 2001 bis März 2002 befragten sie insgesamt 950 Mädchen und unverheiratete junge Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren mit Migrationshintergrund.(16) Im Zusammenhang mit der Differenz wird hier auf die Ergebnisse hinsichtlich der religiösen Einstellungen dieser Migrantinnen eingegangen. Die Auswertungen zeigen, dass es in Fragen der Religiosität unabdingbar ist die heterogene religiöse und konfessionelle Zusammensetzung der einzelnen Herkunftsgruppen von Migrantinnen zu berücksichtigen. Es zeigt sich zum Beispiel ein deutlicher Unterschied in der Intensität von Religiosität zwischen bosnischen und türkischen Musliminnen und zwischen griechisch- und serbisch-orthodoxen Befragten, ebenso wie zwischen katholischen Befragten italienischer und jugoslawischer Herkunft. Während für die Orthodoxen griechischer Herkunft sowie für Musliminnen türkischer Herkunft ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Religionsgruppe von hohem identifikatorischem Wert ist, spielt dies bei den Spätaussiedlerinnen aller Konfessionen sowie bei den Katholikinnen italienischer Herkunft nur eine untergeordnete Rolle.(17) Da Musliminnen sehr häufig einer Pauschalisierung unterliegen, wurde in der Studie auf Einzelergebnisse für die Musliminnen und auf Differenzierungen innerhalb dieser Gruppe gesondert eingegangen. Ein Ergebnis war, dass muslimische Mädchen und junge Frauen religiöser sind als die Angehörigen der drei anderen Religionsgruppen. Sie sind aber deutlich seltener "sehr stark" und "stark" religiös orientiert als die Gruppe der anderen Religionsgemeinschaften. Der konkrete Schlüssel der Befragungen war: 22 Prozent sind "sehr stark", 33 Prozent "stark", 21 Prozent "teilweise", 16 Prozent "wenig" und 8 Prozent "nicht religiös". Bezüglich der religiösen Einstellung wird also eine große Heterogenität deutlich. Dasselbe gilt auch für die Thematik Kopftuch:

Was die Bedeutung der Religion in engen Beziehungen anbelangt, so ist dies den Kopftuch tragenden Sunnitinnen zu 96 Prozent, den Sunnitinnen ohne Kopftuch zu 53 Prozent und den Alevitinnen zu 36 Prozent "wichtig" oder "sehr wichtig". Daraus lässt sich schließen, dass das Kopftuch ein Zeichen für starke Religiosität darstellt, umgekehrt jedoch die Tatsache, dass eine Sunnitin kein Kopftuch trägt, nicht bedeuten muss, dass sie nicht sehr religiös ist. Alevitinnen erweisen sich zwar insgesamt als weniger religiös gebunden, aber auch unter ihnen gibt es eine recht große stark religiös orientierte Gruppe. Die Stellung der Frau in der eigenen Religion wird von den Mädchen mit Kopftuch deutlich besser bewertet als von denjenigen ohne Kopftuch.(18)

Wir sehen also, dass allein durch die Tatsache, ob eine Frau ein Kopftuch trägt oder nicht, noch keine gültige Aussage bezüglich ihrer Einstellung zu Religion und - weitergedacht - schon gar keine Aussage bezüglich ihrer Einstellung zu Emanzipation, zum westlichen Weltbild und dergleichen gemacht werden kann. Viel zu oft wird negiert, dass es unterschiedliche Wege und Formen von Emanzipation gibt. Wie Betina Roß richtig sagt, würde sich eine gelingende Integration erheblich von der bisher zumeist geforderten Assimilation unterscheiden, "bei der eine erst das Kopftuch ablegen muss, bevor sie das Recht zu sprechen erlangen kann".(19) Kien Nghi Ha bietet uns einen positiven Ausweg mit der Differenz an:

Die Anerkennung der Differenz ermöglicht einen fundamentalen Umwertungsprozess, in dem die Differenz nicht mehr als Zeichen der Ungleichheit, Unterordnung und Minderwertigkeit fungiert, sondern zu einem Ort des politischen Selbstbewusstseins, des Sprechens und der Selbstermächtigung geworden ist.(20)

 

3. Postkoloniale Theorie

Die für unser Thema relevante Interpretationsstrategie von "postkolonialer Theorie"(21) gründet auf der Auseinandersetzung mit dem Schwarzen Feminismus, der kolonialen Geschichte Deutschlands und der antirassistischen Politik. Insbesondere Schwarze Feministinnen haben bereits Mitte der 80er Jahre auf die koloniale Kontinuität der Bundesrepublik hingewiesen.(22) Sie verfolgen zwei Ebenen der "postkolonialen Kritik": zum einen die Dekonstruktion des hegemonialen Wissens und der Figur der Migrantin sowie der "Schwarzen Frau" und die Ausformulierung von Widerstand. Postkolonialismus ist darauf aus die Konsequenzen des kolonialen Diskurses in seinen komplexen imperialistischen, patriarchalen und rassistischen Manifestationen herauszufordern und Repräsentationsstrategien zu subvertieren.(23) Im Kontext von Migrations- und Asylpolitik betont Postkolonialität nach Encarnación Gutiérrez Rodríguez eine "historische und insbesondere diskursive Verfasstheit, in der sich nicht nur die Bundesrepublik, sondern ganz Europa befinden"(24).

3.a Repräsentation, Subalternität und Hybridität

Eine wichtige Strategie des Postkolonialismus ist die der Repräsentation. Im feministischen Kontext bedeutet dies eine Sprache zu entwickeln, "welche in der Lage ist Frauen vollständig und adäquat zu repräsentieren um ihre politische Sichtbarkeit zu ermöglichen."(25) Die Frage, die sich hier in Bezug auf Migrantinnen, auf marginalisierte Gruppen im Allgemeinen immer wieder stellt, lautet: Wer spricht für wen? Das heißt, wer wird warum von wem repräsentiert? In diesem Zusammenhang wurde in der postkolonialen Theorie das Konzept des Subaltern subject entwickelt. Ranajit Guha, Historiker der Subaltern Studies Group, definiert das Subaltern subject als "Raum", welcher in kolonialisierten Kontexten von jeglicher Mobilitätsform abgeschnitten erscheint.(26) Gayatri Chakravorty Spivak bezeichnet mit subaltern die Unterwerfung einer sozialen Gruppe, in ihrem Fall der Frauen, durch die hegemonialen Gruppen. Das heißt, diese Frauen können sich nicht selbst repräsentieren, das machen andere, im Falle Spivaks feministische Intellektuelle für sie. Mit der Frage, die Spivak mit ihrem 1988 erschienenen Essay Can the Subaltern Speak?(27) aufwirft, begründet sie keineswegs die Behauptung die subalterne Frau könne nicht sprechen, vielmehr spielt sie auf die Verhinderung des Redens der subalternen Frau durch die hegemonialen Repräsentationstechniken an.(28) Mittels dieser Techniken vollziehe sich die Unsichtbarmachung der subalternen Stimmen. Repräsentieren sei keinesfalls eine unschuldige Praktik. Jegliche Form der Darstellung an sich sei mit einem Sprechen, d.h. einer Vertretung an sich und für sich verbunden. Spivak geht auf die doppelte Funktion der Repräsentation, die der Darstellung und der Vertretung ein und wirft die Frage nach der Konstruktion der "Anderen" in diesem Prozess auf.(29) Damit spielt sie auf den Umstand an, dass Repräsentation immer nur Interpretation sein kann. Aus diesen Gründen ist es wichtig den Fokus darauf zu richten, wer die Aufgabe des Interpretierens übernommen hat. Dabei sollte nicht nur die Frage von Relevanz sein, wer repräsentiert, sondern auch, wer aus welchen Gründen heraus repräsentiert wird. Auf Migrantinnen bezogen stellt sich die Frage, wer genau und warum für welche Migrantinnen spricht. Am besten wäre es natürlich, wenn Migrantinnen für sich selber sprechen würden, also die Zunahme von Selbst-Repräsentation. Das ist auch durchaus der Fall. Das Problem dabei ist aber, dass dieser Akt von der Mehrheitsgesellschaft oft nicht nur nicht gehört, sondern einfach ignoriert wird. Die Zuhörer erkennen es nicht als einen Akt der Repräsentation, auch weil es nicht dem entspricht, was sie erwarten. Nach Castro Varela und Dhawan erweist sich die Ignoranz, die unter anderem "Migrantinnen immer wieder innerhalb der bundesdeutschen Frauenbewegung zum Thema gemacht haben [...] als effektive Macht- und Ausgrenzungsstrategie."(30) Für Spivak sind die Aufstände der subaltern ein Versuch sich selber zu repräsentieren, und zwar in einer Art, die außerhalb der offiziell vorgeschriebenen strukturellen Möglichkeiten der Repräsentation verortet ist. Spivak bezeichnet diese Form der Repräsentation als die Unmöglichkeit zu sprechen.(31)

Wie Selbstrepräsentation funktionieren kann und welche Strategien dazu benutzt werden können, zeigt das Beispiel von MAIZ(32), einer Migrantinnenselbstorganisation in Linz. Sie sind der Überzeugung, dass die Praxis von feministischen Migrantinnen die ethnozentrische Kulturhegemonie des Nordens in Frage stellen kann. Dabei bedienen sie sich des Konzepts der Anthropophagie. Die kulturelle Bewegung der Anthropophagie Brasiliens entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus der Sicht der damaligen Peripherie heraus forderte Oswald de Andrade (1890-1953) das europäische Erbe zu verschlingen und es so in eine eigenständige brasilianische Identität zu verwandeln.(33) Darauf rekurrierend sieht MAIZ Anthropophagie als ein mögliches strategisches Vorgehen gegenüber der Dominanzkultur. Die Migrantinnen von MAIZ sagen: "Wir fressen euch!" und sie sagen:(34)

Und weiter: wir überschreiten Grenzen: überqueren geographische, physische, ideologische Grenzen. Wir emigrieren. Nehmen Raum ein. Wir nehmen uns, was unser ist (unser Körper), wie auch das scheinbar Ferne: die Staatsangehörigkeit, das Gesetz, das Wissen, die Globalisierung, den öffentlichen Raum. Wir beschreiten andere Wege zur Definition des Körpers (in der Prostitution, so paradox es auch klingen mag), des Gesetzes, des Wissens, der Globalisierung. Wir begehren auf, gegen die patriarchale Weltordnung, die über unsere Körper und unseren Platz in der Welt entscheiden will. Wir lassen es nicht zu, mit den Fangarmen der Legalität erwürgt zu werden. Wir überschreiten das Territorium der Legalität und des Erlaubten. Wir suchen andere Formen des Bewohnens, des Prioritäten-Setzens, der Kommunikation, des Inbesitznehmens. Wir erschließen neue Möglichkeiten zur Aneignung unserer Fähigkeiten, Potentiale, Träume und Utopien. Emigrieren ist ein Grundrecht!

Und WIR, die Mehrheitsgesellschaft, sollten sie dabei unterstützen! Denn die Selbstrepräsentation wird den Migrantinnen schwer gemacht. MigrantInnen bekommen im Allgemeinen den Raum der Marginalität zugewiesen. Und erst die Markierung von Marginalität erschafft die Position des Zentrums. Das heißt, dass sich durch diese Markierung das Zentrum als Produzent der Wahrheit und der Wirklichkeit imaginiert. Von diesem Zentrum aus werden dann Positionen der Marginalität und der Subalternität angerufen und bereitgestellt. Nach Gutiérrez Rodríguez spielen dabei die staatlichen und gesellschaftlichen Techniken des Othering zum Beispiel in Form von Ausländer- und Asylgesetzen eine entscheidende Rolle, aber auch die Ethnisierung im Diskurs um Multi/Interkulturalität spielt eine Rolle bei der Setzung subalterner Praktiken und Stimmen.(35)

Hier setzt ein Konzept der postkolonialen Theorie an, das vorschlägt sich von den beiden Markierungen Peripherie und Zentrum zu lösen. Es wurde die Idee einer Kultur ohne Zentrum, ohne Ort und ohne feststehende Bedeutung entwickelt. Dahinter steht die Vorstellung einer hybriden Kultur, "die sich an den Rändern übersetzt, anstatt vom Zentrum aus zu kontrollieren, die die Unreinheit der stetigen Vermischung preist, anstatt ihre ungetrübte Ursprünglichkeit vorzutäuschen."(36) Wie lässt sich nun dieser durchaus interessante Denkansatz einer kulturellen Vermischung auf den deutschen Kontext übertragen? Hito Steyerl weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Begriffsgenealogie von Hybridität "als Definition von ‚Rassenmischung’ ihn [...] als Grundkategorie rassistisch-eugenischer Biopolitik ausweist".(37) Wie Tod Herzog nachweist, werden diese Kategorien etwa durch eine so genannte "Mischlingstheorie" gestützt, welche "den Hybriden als pathologischen Charakter konstruierte und im deutschen Rassendiskurs vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1945 vorherrschend war".(38) Im postkolonialen Diskurs wird zwar das produktive Potential der Mischung gelobt, es ist aber "mit den binären und ursprungsfixierten Kategorien eines Diskurses durchdrungen, der auf die biopolitische Kontrolle, Produktion, Hierarchisierung, umfassende Nutzbarmachung und zum Teil auch gezielte Vernichtung von Leben abzielt".(39) Es ist also angebracht mit diesem Begriff vorsichtig umzugehen. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der "Hybridität" von Identitäten in Zuwanderungsgesellschaften interessant. Die schon erwähnte Studie um junge Migrantinnen in Deutschland hat diese Frage nach der ethnischen Selbstverortung gestellt. Die Fragestellung allein geht schon von der Möglichkeit aus, dass sich ein Mensch gleichzeitig verschiedenen Gruppen in unterschiedlicher Stärke zuordnen und somit seine Identität konstruieren kann. Die jungen Frauen bekamen die Möglichkeit sich "sowohl als Deutsche, wie auch als Angehörige der Herkunftsgruppe und/oder der Religionsgruppe und/oder der Stadt und/oder als Europäerin und/oder als Ausländerin zu identifizieren".(40) Trotz der Möglichkeit mehrere Verortungen vorzunehmen, "fühlen sich nur wenige der Mädchen und jungen Frauen (auch) als Deutsche (3% "sehr stark" und 15% "stark"); ein erheblicher Teil wehrt diese Verortung ab (22% "wenig" und 23% "gar nicht")".(41) Die ethnische Selbstverortung als Deutsche findet die geringste Zustimmung und die größte Ablehnung von allen Vorgaben. Die Mädchen und jungen Frauen aller nationalen Hintergründe fühlen sich demnach überwiegend mit der Herkunftsgruppe ethnisch verbunden, nur eine ganz kleine Zahl verortet sich als Deutsche oder als bikulturell.(42) In diesem Bereich lehnen die Befragten also ganz eindeutig die Vorstellung einer hybriden Identität ab. Bedeutet dies nun etwa, dass das Konzept der Hybridität nicht auf die Praxis und Lebenslagen von deutschen Migrantinnen übertragbar ist? Die beiden Autorinnen der Studie würden das sicher entschieden ablehnen, denn sie haben nicht nur differenziert die in einzelnen Bereichen bestehenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen herausgearbeitet, sondern auch gezeigt, dass innerhalb der nationalen Herkünfte die Mädchen und jungen Frauen eine große Pluralität an Orientierungen und Einstellungen aufweisen. Für Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoģlu ist dies der Anlass die Mädchen und jungen Frauen

nicht in erster Linie als Zugehörige zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder nationalen Herkunftsgruppe zu betrachten und damit scheinbar zuzuordnen, sondern offen zu sein für individuelle oder gruppenspezifische Orientierungen, die im Zusammenhang mit dem Alter, dem Bildungsstand, dem sozialen Status der Familie und vielen anderen Variablen stehen.(43)

Also weg von den Eindeutigkeiten, offen sein für Differenzen!

Damit schließt sich wieder der Kreis. Denn erst durch die Anerkennung der Differenzen, die positive Setzung dergleichen und die Weigerung sie zu hierarchisieren und der Mehrheitsgesellschaft unterzuordnen, wird eine offene plurale Gesellschaft ermöglicht.

Feministische und postkoloniale Theorie kann Migrantinnen in Deutschland und anderen Ländern Möglichkeiten und Konzepte für ihre Repräsentation in der Gesellschaft geben. Das bedeutet aber nicht die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft zu ignorieren den Migrantinnen ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen und ihnen den zustehenden Raum und Öffentlichkeit zu geben.

© Elisabeth Puntigam (Universität Debrecen/Hochschule für Pädagogik)


ANMERKUNGEN

(1) Der Begriff stammt von BOMMES 2001, S. 51.

(2) MOHANTY 1988.

(3) Dieser Auffassung sind eine Reihe von postkolonialen Kritikerinnen wie Trinh T. Minh-ha, Jenny Sharpe, Aiwah Ong, Jacqui Alexander, Sara Suleri, Norma Alarcón, KumKum Sangari, Cherrie Moraga und Gloria Anzaldúa. Vgl. dazu: GUTIÈRREZ RODRÍGUEZ 2003, S. 25.

(4) BOOS-NÜNNING/ KARAKAŞOĞLU 2004. Diese Studie ist im Internet als PDF abrufbar. Sie ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Bundesregierung, wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt.

(5) SEEMANN 2004, S. 149.

(6) Das gilt selbstverständlich auch für Männer(gruppierungen), die hier aber nicht thematisiert werden.

(7) SEEMANN 2004, S. 149.

(8) PANAGIOTIDIS 2004, S. 190.

(9) Zit. nach ebda.

(10) Vgl. BOMMES 2001, S. 50f.

(11) EREL 2004, S. 179.

(12) PINN/WEHNER 1955, S. 135.

(13) HA 1999, S. 43.

(14) Vgl. JAIN 2003, S. 260f.

(15) BOOS-NÜNNING/ KARAKAŞOĞLU 2004.

(16) Mit Hilfe eines voll standardisierten Fragebogens mit 138 Fragen wurden Daten zu einem breiten Themenspektrum ermittelt: die Migrationsbiographien und die sozialen Rahmenbedingungen des Aufwachsens, die Rolle und die Bedeutung der Familie, Freizeit und Freundschaften, Schule und Ausbildung, Mehrsprachigkeit und Sprachmilieu, Vorstellungen von Partnerschaft, Erziehung und Geschlechterrollen, Körperbewusstsein und Sexualität, Ethnizität und psychische Stabilität, Religiosität und die Inanspruchnahme von Freizeitangeboten und Hilfen in Krisen. Vgl. BOOS-NÜNNING/ KARAKAŞOĞLU , S. 2.

(17) Ebda., S. 39.

(18) Ebda, S. 41.

(19) ROSS 2004, S. 16.

(20) HA 1999, S. 107f.

(21) Im deutschsprachigen Raum gibt es noch eine zweite Interpretationsstrategie von „postkolonialer Theorie“. Diese ist in der Wissenschaft und insbesondere in der Literatur- und Kulturtheorie verortet und rezipiert Postkolonialismus als englischsprachiges ästhetisches oder sozial-historisches Phänomen. Vgl. GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003, S. 29

(22) Vgl. OGUNTOYE/OPITZ/SCHULTZ 1986.

(23) CASTRO VARELA/DHAWAN 2003, S. 272.

(24) GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003, S. 30.

(25) CASTRO VARELA/DHAWAN 2004, S. 207.

(26) Zit. nach ebda, S. 212.

(27) SPIVAK 1988.

(28) Ebda, S. 287ff.

(29) GUTÉRREZ RODRÍGUEZ 2003, S. 26.

(30) CASTRO VARELA/DHAWAN 2004, S. 213.

(31) SPIVAK 1996, S. 306.

(32) Autonomes Integrationszentrum von und für Migrantinnen in Linz, Anm. d. Verf.

(33) CAIXETA 2003, S. 187.

(34) Ebda, S. 190f.

(35) GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003, S. 31.

(36) HA 1999, S. 18.

(37) STEYERL 2003, S. 45.

(38) Zit. nach ebda 2003, S. 46.

(39) Ebda.

(40) BOOS-NÜNNING/ KARAKAŞOĞLU , S. 31.

(41) BOOS-NÜNNING/ KARAKAŞOĞLU , S. 31.

(42) Ebda, S. 32.

(43) Ebda, S. 50.


LITERATURVERZEICHNIS

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Elisabeth Puntigam (Universität Debrecen/Hochschule für Pädagogik): Migrantinnen in Deutschland. Feministische und postkoloniale Lebens-Konzepte. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/puntigam16.htm

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