Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

8.1. Traditionen, Aufklärung, Modernisierung
Herausgeber | Editor | Éditeur: Peter Horn (Johannesburg)

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Kant und die Universalität der Ethik

Peter Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg)
[BIO]

 

Abstract:

Die Aufklärung insistiert auf einer Genealogie der Rationalität, die ausschließlich "europäisch" ist. Ohne Zweifel war die Philosophie der Aufklärung nicht unschuldig an der Kolonisierung der Welt durch europäische Mächte. Andererseits hat die Aufklärung versucht, allgemein gültige Normen des Verhaltens zu formulieren, die eben eine Unterdrückung der "Anderen" verurteilte. Der Name Kant steht hier für einen Höhepunkt der philosophischen Bemühung um solche Universalität der moralischen Geltung.

 

Nö fini të Ablotsi.(1)

 

In einem Brief aus Paris an seine Braut Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801 schreibt Kleist:

Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf - Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? (Kleist 6/208)

Kleist: die multikulturell relativierende Moral spielt wahrscheinlich auf den Tod von Captain James Cook an, der 1778 von den Einwohnern Hawais zuerst für einen Gott gehalten wurde,(2) dann aber ermordet, gebraten und verspeist wurde.(3) Wenn viele Europäer die Bewohner anderer Weltteile nicht als Menschen ansahen, dann gab es auf der anderen Seite der Welt wiederum Inselbewohner im Pazifik, die die weißen und blutleeren Fremdlinge als etwas nicht ganz Menschliches betrachteten (Schrire 1996: 352),(4) und die Zulus in Durban nennen jeden, der nicht Zulu sprechen kann ein is’lwanyana, das heißt ein Tier (Khumalo 2005:21). Ohne Zweifel sind zwar, wie Herder meint, "der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei und Newton [...] Geschöpfe einer und derselben Gattung" ( Herder 1965:145);(5) die Frage ist aber, ob es eine Ethik gibt, die die Handlungen aller Menschen nach dem gleichen Maßstab beurteilen kann oder sollte.

Am 22. März 1801 schreibt Kleist an seine Braut: "Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint." (SW II, 634.) Kleist bewegt sich in einer Welt, in der es keine klaren moralischen Prinzipien und keine rational erfaßbaren Zusammenhänge mehr zu geben scheint.

Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten - Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort? (Kleist 6/208f.)

Dagegen meint Kant: "Die Begriffe des Guten und Bösen [...] stehen selbst aber unter einer praktischen Regel der Vernunft, welche, wenn sie reine Vernunft ist, den Willen a priori in Ansehung seines Gegenstandes bestimmt." (Kant 1977:7,186.) Kants Auffassungen haben bis heute ganz praktische Folgen. Am 9. November 2005 sollte das deutsche Bundesverfassungsgericht darüber verhandeln, ob der Staat zur Terrorismusabwehr notfalls Unschuldige töten darf. Soll es dem Verteidigungsminister erlaubt sein, den Befehl zum Abschuss eines Passagierflugzeugs zu geben, falls dieses von Terroristen als Lenkwaffe missbraucht wird. Werden damit diese Menschen zum Objekt des staatlichen Handelns gemacht werden, wenn sie als Teil einer terroristischen Waffe behandelt werden. Artikel 1 des Grundgesetz entspringt dem Menschenbild der kantschen Moralphilosophie, nach der der Menschen nie Mittel zum Zweck sein darf, sondern immer nur Zweck an sich: "der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." (Kant 1977:7,59f.) Doch würde der Staat die Passagiere da wirklich zum Instrument machen - oder verhinderte er nicht vielmehr, dass sie zum Instrument werden? (Bittner 2005.)

Johannes Huxoll stellt die Frage nach der Begründbarkeit universeller Menschenrechte und nach der Geltung fundamentaler Rechtsnormen, "die ohne den einfachen Verweis auf die jeweilige Tradition oder Sitte und allein auf Grund rationaler Einsichten gewonnen werden sollen." (Huxol 1999:65.) Natürlich sind Menschenrechte vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund zu beurteilen,(6) aber die Diskussion der Menschenrechte darf nicht darüber hinwegtäuschen,

daß die menschenverachtenden Praktiken repressiver Regimes prinzipiell Menschen jeglicher Kultur bedrohen. Die ernsthafte philosophische Debatte darf nicht darauf hinauslaufen, in Verkennung dieser Gefahr argumentative Mittel zur Aufweichung solcher Menschenrechte bereitzustellen, die gewissen Despoten Anlaß geben könnten, unter dem Deckmantel der kulturellen Autonomie die Unterdrückung ganzer Völker zu rechtfertigen. Nichts wäre unverantwortlicher und menschenverachtender, als mit dem Hinweis auf die Kulturbedingtheit der Menschenrechte die Praktiken des Terrors und der Repression zu relativieren. (Huxol 1999: 76.)

In der Kritik der praktischen Vernunft überlegt sich Kant, ob es "praktische Gesetze" gibt, oder ob alles, was wir "Moral" nennen, also "alle praktischen Grundsätze bloße Maximen" sind (Kant 1977:7/125). In Kants Sprache sind praktische Grundsätze solche Sätze, "welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat." Maximen sind rein subjektiv, denn sie werden nur "für den Willen des Subjekts gültig" angesehen; "praktische Gesetze" dagegen wären objektiv, wenn sie "für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt" werden können (Kant 1977:7/125). Genau in diesem Wort "jedes" liegt das Problem: praktische Gesetze, und damit meint Kant moralische oder ethische Grundsätze sind nur dann mehr als bloße Maximen, wenn sie für alle gelten, ohne Unterschied des Geschlechts, des Standes, der "Rasse", der Nation usw. Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d.i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische Grundsätze bloße Maximen sein. (Kant 1977: 7/125.) Kants "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" - der Kantsche Imperativ - verlangt dann auch: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." (Vgl. Kant 1977: 7/140.)

Kant ist sich durchaus darüber im Klaren, daß "das Sittlich-Gute etwas dem Objekte nach Übersinnliches [ist], für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann". Er weiß daher, daß "die Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft [...] daher besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein" scheint, weil "ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen, als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen", angewandt werden soll. (Kant 1977: 7/187.) Dennoch besteht er darauf, daß die Gesetze der Ethik universal sind.

In der Kritik der praktischen Vernunft meint Kant: " In einem pathologisch-affizierten Willen eines vernünftigen Wesens kann ein Widerstreit der Maximen, wider die von ihm selbst erkannten praktischen Gesetze, angetroffen werden. z.B. es kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächet zu erdulden, und doch zugleich einsehen, daß dieses kein praktisches Gesetz, sondern nur seine Maxime sei, dagegen, als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens, in einer und derselben Maxime, mit sich selbst nicht zusammen stimmen könne." (Kant 1977: 7,125.)

Abgesehen von einzelnen Ausnahmen muß man die Ideologie der Aufklärung als universalistisch und egalitär beschreiben und durchaus nicht "rassistisch" (das ist natürlich in dieser verkürzten Form ein "Idealtypus"). Zugegebenermaßen ist z.B. die Ideologie von Naturalisten wie Buffon dieser Hauptstömung der Aufklärung entgegengesetzt. Dieser Widerspruch kommt manchmal in den Schriften ein und desselben Autors vor: Kant ist in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (Kant 1983a: 2,825-886) durchaus rassistisch und sexistisch, aber in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant 1977:7,7) durchaus egalitär (Todorov 1986:372). Theoretischer Rassismus (racialism) ist sowohl relativistisch als auch universalistisch.(7)

Relativistisch ist die Behauptung, daß wir keine gemeinsame Menschlichkeit haben (oder daß diese nur darin besteht, daß eine Rasse mit einer anderen fruchtbare Nachkommen zeugen kann);(8) universalistisch die Auffassung, daß alle Menschen auf Grund derselben Kriterien beurteilt werden können, nach denen dann aber eine "Rasse" höherstehend als eine andere sein kann. Die Ideologie der kulturellen Differenz, die heute den Rassismus abgelöst hat, hat diese Ambiguität geerbt: einerseits negiert ein exzessiver Universalismus jede kulturelle Differenz im Namen einer Einheit der menschlichen Gattung und der Diversität der Individuen. Wir sind so darauf fixiert, Stereotypen zu negieren, daß wir dem Anderen gar keine Besonderheit mehr zugestehen. Andererseits negiert ein exzessiver Relativismus jede Möglichkeit den Anderen überhaupt zu verstehen, ohne sich selbst völlig aufzugeben. (Todorov 1986: 373f.)

Jeder Kulturrelativismus muß eine universale Moral im Sinne Kants in Frage stellen. Jede isolierte Kultur hat dann ihre eigene "Moral", die allerdings, da sie nicht das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung ist und nicht von der ganzen Menschheit anerkannt wird, in Kants Auffassung "bloße Maximen" sind. (Vgl. E. Bloch 1962:326.) Gegen den »Relativismus« bestimmter britischer Ethnologen, und gegen das Konzept einer in sich abgeschlossenen und inkommensurablen Kultur wendet Maurice Bloch ein: die Anthropologie selbst zeigt, daß wir mit allen Menschen kommunizieren können, ihre Kultur möge auch noch so verschieden sein. (M. Bloch 1977:283; vgl. Fabian 1983:42; Horn 2004.)(9)

Verschiedene Ethikprojekte, wie die Diskursethik in Deutschland oder die Befreiungsethik in Lateinamerika, haben nun den Versuch unternommen, eine Ethik mit einem Anspruch auf universale Gültigkeit zu begründen, die kulturelle, religiöse, politische etc. Unterschiede transzendiert. (Graness 2005.) Franz Wimmer formuliert eine Art "kategorischer Imperativ" der interkulturellen Philosophie: "... halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren." (Wimmer 1996:93.) Zum Beispiel würde eine wirkliche Auseinandersetzung mit der afrikanischen Philosophie ein Korrektiv für jene kanonische europäischen Lokalphilosophien bedeuten, die mit dem Anspruch auf Universalität auftreten. (Basu 1998; Wiredu 1990.)

Die Auffassung, daß afrikanische Philosophie keine Philosophie ist, daß nichts, was Afrikaner sagen, eine Resonanz in der westlichen Philosphie hat, wird nicht nur von afrikanischen Philosophen bestritten. Wenn der Westen sich selbst als Verkörperung und Erfinder des "Universellen" darstellt, dann kann man zeigen, daß dieses Universelle sehr eigenartig "europäisch" ist und das europäische Globale ganz begrenzt lokal ist. Das heißt, daß der Westen das Universelle in seinen eigenen Grenzen konstruiert, statt wirklich alles, was es gibt, zu erfassen, und daß dieses sogenannte "Universelle" daher etwas aufgeblasen aussieht. (10) Wissenschaft erhebt natürlich den Anspruch, universal zu sein. Aber dieses Universale ist doch fast immer nur von irgendeinem (ethnischen) Zentrum aus gesehen universal. Nur zu oft werden ethnozentrische Phantasien als Universalien verkauft. (Kom 2005.) Mit welchem Recht kann daher der Vertreter dieser Universalität verlangen, daß andere erst einmal beweisen müssen, daß ihre Aussagen in den heiligen Raum der "Philosophie" oder "Religion" zugelassen werden dürfen. (Taiwo 2005.)

Ein interessanter Ansatz für eine globale Ethik scheint das zu sein, was Anke Graness bei Kwasi Wiredu eine "Konsensethik" ( Wiredu 1995: 55ff) nennt bzw. was Bénézet-Bujo "Palaverethik" ( Bénézet-Bujo 1993) nennt. In Afrika ist es unter Erwachsenen üblich, Lösungen erst dann zu akzeptieren, wenn jedes Mitglied eines bestimmten Rates, einer Gruppe, einer Gemeinschaft von der bestmöglichen Lösung überzeugt werden konnte: "Ziel eines jeden Konsensus war dabei die Versöhnung, Grundlage der Wille zu einem harmonischen Miteinander. Ein solcher Konsens könne nur in langen Gesprächen und in einem langen Prozeß des Überzeugens, dem Palaver, hergestellt werden." ( Graness 2005.) Zum Palaver werden die weisesten Vertreter des Volkes aufgerufen, wenn es um eine wichtige Entscheidung geht, die das Volk als Gemeinschaft betrifft. Diese Weisen gehören keiner offiziellen Institution an, es zählt allein Kompetenz und Erfahrung. Sie leben im Alltag mit und unter dem Volk, so daß ihr Argumentieren das Interesse dieses Volkes existentiell und im Detail trifft. Die afrikanische traditionelle Kultur hatte immer eine gemeinschaftliche Dimension des Lebens und deer Ethik.

Auch Kant fordert eine Überprüfung am Urteil anderer, und natürlich steht er in der Tradition der europäischen Philosophie, mit der er sich auseinandergesetzt hat, und er trägt seine Aussagen mündlich und schriftlich einem Forum kompetenter Kollegen vor. Nur

der 1ogische Egoist hält es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probiersteins (criterium veritatis externum) gar nicht bedürfe. Es ist aber so gewiß, daß wir dieses Mittel, uns der Wahrheit unseres Urteils zu versichern, nicht entbehren können, daß es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer eigenen Urteile zu prüfen, und wir dem Irrtum preis gegeben werden. ( Kant Anthropologie. 1983: 10,409.)

Auch die europäische Philosophie ist prinzipiell also ein "Palaver", wenn auch zu Kants Zeiten in der Praxis fast nie ein interkulturelles. Eine weitere Einschränkung ist nötig: Kant spricht von dem "gelehrten Volk" und auch in Afrika nimmt nicht jeder an dem "Palaver" teil: nur die weisesten Vertreter des Volkes sind berufen, wenn es um eine wichtige Entscheidung geht, die das Volk als Gemeinschaft betrifft. ( Graness 2005.)

Eine Schwierigkeit, auf die Omeregbe hinweist, ist allerdings, daß zum Beispiel die afrikanische traditionelle Philosophie (ähnlich wie andere religiöse Systeme) in ihren Erklärungen auf mystische oder übernatürliche Kräfte zurückgreift, die einer wissenschaftlichen Erklärung nicht greifbar sind, und die oft angeblich natürlichen Kräften überlegen sind und gegen sie agieren. Diese Kräfte können von Menschen für gute oder böse Zwecke manipuliert werden. Omeregbe meint, daß die afrikanische traditionelle Philosophie nicht bewußt zwischen Religion, Mythos und Wissenschaft unterscheidet. (Omeregbe 1990:26f; zitiert in: Asouzu 2005.) Und die Tatsache, daß ein Glaube schon Jahrhunderte oder Jahrtausende im Umlauf ist, macht ihn nicht glaubhafter. Andererseits muß man heute in Afrika mehr und mehr mit dem sozialen Umbruch rechnen, unter anderem mit dem intensiven Einfluß des Individualismus, vor allem in der Stadt, im Konkurrenzkampf um Jobs, in der Ökonomie. (Dalfovo 2005.) Die Akkulturation durch den Prozeß der globalisation verändert auch das moralische Verhalten der Individuen. Im Gegensatz zu traditionellen Verhaltensmustern wird mehr und mehr angenommen, daß Moral subjektiv, persönlich und individuell nur dem eigenen Gewissen verpflichtet ist. (Dalfovo 2005.)

Der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth hat mit seiner Abhandlung Kampf um Anerkennung einen neuen Ansatz zu einer kritischen Gesellschaftstheorie vorgelegt. `Anerkennung' gehört inzwischen zum Schlüsselbegriff in Debatten um kulturelle Identitätskonflikte. ( Ranke 2005168; Honneth 2003; Fraser/Honneth 2003.)

Die folgenden Hauptthesen kann ich hier nur kurz vorstellen: Die Ausbildung einer persönlichen Identität im Sinne eines gelingenden praktischen Selbstverhältnisses ist an die Voraussetzung wechselseitiger Anerkennung menschlicher Subjekte gebunden. Es gibt drei Formen intersubjektiver Anerkennung auf drei unterschiedlichen Ebenen der sozialen Interaktion, die für das Gelingen der persönlichen Identitätsbildung von ausschlaggebender Bedeutung sind: (1) Anerkennung im Sinne der Liebe in persönlichen Primärbeziehungen zur Ausbildung des persönlichen Selbstvertrauens, (2) Anerkennung im Sinne der Achtung (moralisch zurechnungsfähiger) autonomer Personen im Feld der rechtlichen Sozialbeziehungen zur Ausbildung der persönlichen Selbstachtung, (3) Anerkennung im Sinne der sozialen Wertschätzung jeweils besonderer Fähigkeiten und Eigenschaften der Individuen innerhalb einer Wertegemeinschaft (Solidarität) zur Ausbildung der persönlichen Selbstschätzung bzw. des Selbstwertgefühls. ( Ranke 2005168; Honneth 2003; Fraser/Honneth 2003.)

Den drei Formen der Anerkennung entsprechen drei Formen der Missachtung: (1) Misshandlung und Vergewaltigung verletzen die physische Integrität der Person und führen zu Gefährdung bzw. Verlust des Selbstvertrauens, (2) Entrechtung und Ausschließung verletzen die soziale Integrität der Person und gefährden die Selbstachtung, (3) Entwürdigung oder Beleidigung verletzen die an bestimmte Lebensweisen gebundene individuelle Ehre bzw. Würde der Person und beeinträchtigen das Selbstwertgefühl. ( Ranke 2005:168; Honneth 2003; Fraser/Honneth 2003.)

Wir brauchen ein "formales Konzept der Sittlichkeit" (K 274), das über das übliche, an Kant geschulte, moderne Moralverständnis des wechselseitigen Respekts hinausgeht, indem es sich auf die notwendigen Voraussetzungen individueller Selbstverwirklichung bezieht. Den verschiedenen Anerkennungsmustern sind derartige Voraussetzungen zu entnehmen, wenn man sie im hypothetischen Vorgriff auf ihren jeweils höchsten Entwicklungsgrad hin betrachtet. So lässt sich im Fall der rechtlichen Anerkennung eine Steigerung sowohl im Hinblick auf die Verallgemeinerung des Gleichheitsgrundsatzes als auch im Hinblick auf die Kontextsensibilität seiner Anwendung beobachten. Hinsichtlich der Standards individueller Wertschätzung ist hingegen der Vorgriff auf die Idee einer "posttraditionalen Solidarität" (K 287), die "auf die Möglichkeit einer symmetrischen Wertschätzung unter rechtlich autonomen Bürgern zielt" (K 285), nur in abstracto möglich. Ihre substantielle Füllung durch gemeinsam geteilte Werte ist Angelegenheit nicht der Theorie, sondern zukünftiger sozialer Kämpfe. ( Ranke 2005:169; Honneth 2003; Fraser/Honneth 2003.)

Durch die Einführung einer neuen Technologie entstehen neue soziale Beziehungen, die ältere Formen der Gesellschaftlichkeit subvertieren. (Hagan 2005.) "Goethe, der deutlich der drohenden Unmöglichkeit aller menschlichen Beziehungen in der heraufkommenden Industriegesellschaft sich bewußt war, hat in den Novellen der Wanderjahre versucht, den Takt als die rettende Auskunft zwischen den entfremdeten Menschen darzustellen." (Adorno 1962: 36.) Takt aber ist zumindest die äußerliche Form der gegenseitigen Anerkennung.

© Peter Horn (Johannesburg)


ANMERKUNGEN

(1) Ga saying: There is no lack of fine things in Europe (the whiteman’s land). (Kudadje 2005.)

(2) Sahlins argues that Cook segued into the Hawaiian domain as the unwitting reincarnation of the ancient god Lono. The Hawaiian perception of this millenarian miracle was heightened and confirmed by the way the track of the Resolution re-enacted Lono's procession through his realm, and by the manner in which Cook's crew distributed and shared their cargo. Unaware of his role, Cook might well have survived had it not been for the intrinsic hazards of navigation that forced him to return. This broke the appointed and mandatory cycle of godly behaviour, and threatened the life of the king. Cook's demand that the king be held hostage to the return of a stolen boat was therefore taken as an ominous challenge by the god to the king. It was answered by a lesser chief, rightly possessed of a valuable iron dagger, who struck the first blow, not to kill, but to stay the god temporarily by setting him on the intended track that would bring him back to the island, at the correct time, the following year. In other words, this was not murder, manslaughter, or self-defence but, rather, the Polynesian way of setting things back on track." (Schrire 1996: 352f.)

(3) "In 1778, Captain James Cook returned on his third voyage to Hawaii and anchored in Kealakekua Bay. After a long and lively visit, he finally departed, only to make an unscheduled return ten days later for repairs to the foremast. In contrast to the earlier joyful greeting, his reappearance drew a strange hostility, marked by thefts and aggression. Tensions mounted. As Cook hastened to set sail, a confrontation developed on the beach. He managed to loose a shot at one offender but was overwhelmed by a deadly onslaught. Cook fell beneath a welter of stabbing and battering so deadly that his men could only mourn from the safe distance of their ship. The following evening parts of Cook's cooked and defleshed bones were formally returned to his men." (Schrire 1996: 352; vgl. auch Jünger 1981: 488.)

(4) Incongruous though it may be, it serves to contextualise a tale of Gothic practices and strange perceptions, set in the heyday of colonialism, when, in the course of the exchange of money, diamonds, gold, spices, porcelain, cloth and bodily fluids, certain interested parties came to cultivate exotic tastes for native skulls, on the one hand, and European bodies on the other. Both sides were avid to possess each other, and both became consumers, metaphorically and literally, buying and hoarding body parts and, on occasion, roasting, eating, and displaying them as well. (Schrire 1996: 343.)

(5) "Die Gagas sind als die eigentlichsten Menschenfresser berühmt; die Kaffern und die Völker über Monomotapa sollen ihnen an Wildheit nicht nachgeben. (Herder 1965:40) "Diese Natur des Geistes äußert sich auch bei den wildesten Völkern; gleichviel, wofür sie kämpfen, sie kämpfen im Drang der Ideen. Auch der Menschenfresser im Durst seiner Rache und Kühnheit strebt, wiewohl auf eine abscheuliche Art, nach dem Genuß eines Geistes." (Herder 1965:182.) "Wilder als der Neusee- oder der Feuerländer ist auch, nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein europäisches, geschweige ein griechisches Volk gewesen; und jene inhumanen Nationen haben Humanität, Vernunft und Sprache. Kein Menschenfresser frißt seine Brüder und Kinder; der unmenschliche Gebrauch ist ihnen ein grausames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechselseitigen Schrecken der Feinde. Er ist also nichts mehr und minder als das Werk einer groben politischen Vernunft, die bei jenen Nationen die Humanität in Absicht dieser wenigen Opfer des Vaterlandes so bezwang, wie wir Europäer sie in Absicht anderer Dinge noch jetzt bezwungen haben. " (Herder 1965:376f.)

(6) Historische Menschenrechtsdeklarationen: I. Virginia Bill of Rights (1776); II. Declaration des Droits de l’homme et du citoyen (1789); III. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (10. 12. 1948); IV Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (04. 11. 1950) ; V. Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung (19. 01. 1981).

(7) This opposition became very clear-cut in the course of the nineteenth century: those who defended and promoted racialism- Gobineau, Hippolyte-Adolphe Taine, Gustave Le Bon - were the selfdeclared enemies of the Enlightenment, the French Revolution, and the ensuing democratic model of government. (There was a famous exchange of polemical letters between Gobineau and Alexis de Tocqueville on this very subject.) This reference to nineteenth-century racialism leads me to another difficulty. Gobineau believed that races could be distinguished by differences in blood, but he was the only one to hold this belief. All the other racialist thinkers realized that too much mixing among populations had already gone on for it to be possible to speak of purity of blood. They did not give up the notion of race for all that, but rather transformed a physical category into a cultural one: for example, Joseph Renan speaks of "linguistic races," Taine of "historical races," and Le Bon of "psychological races." The word "race" thus became virtually synonymous with what we ourselves call "culture," and nineteenth-century racialism subsists today in the idea of cultural difference. (Todorov 1986: 370.)

(8) In Von den verschiedenen Rassen der Menschen zitiert Kant die Buffonsche Regel, die Einheit der Gattung sei nichts anders als die Einheit der zeugenden Kraft. "Nach diesem Begriff gehören alle Menschen auf der weiten Erde zu einer und derselben Naturgattung".(Kant 1983b: 9,11.)

(9) "In fact, what is happening in the moral sphere of contemporary African society is a manifestation of the convergence of European ethics and traditional African ethics, and, subsequently, a synthesis between the two emerges." "The synthesis is an enriching experience in the mind of the individual, enabling critical appreciation of the cultural and intellectual wealth of each of the two cultural traditions and an appreciation that we belong to both intellectual traditions." (Kikongo 2005.)

(10) "Thus, Senghor will have devoted the greatest part of his intellectual activity to promoting what he called Civilisation of the Universal. But when we look at it more closely, we can easily see that the poet-president was simply a victim of the deceit of his masters who were justifying the universal, simply to camouflage the promotion of ethnocentric values, a matter of being at their ease at all times and in all places, once their vision had become the world vision par excellence. The trouble is all the worse given that many Africans, no doubt less famous but not necessarily less gifted than Senghor, spend the greater part of their time looking at themselves in the mirror of the very people who imposed their condition on us in practically all areas of life on the pretext of a universalism that answered their own purposes." (Kom 2005.)


LITERATUR

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Anschrift: Prof. Dr. Peter Horn, School of Languages and Literatures, University of the Witwatersrand, Private Bag 3, WITS 2050 South Africa. E-Mail: peter-horn@iafrica.com 


8.1. Traditionen, Aufklärung, Modernisierung

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TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


For quotation purposes:
Peter Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg): Kant und die Universalität der Ethik. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/08_1/horn16.htm

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