Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

9.3. "Eins Bleibt Eins?" - Der Einfluss der audiovisuellen Medien auf das kollektive Gedächtnis und die Reproduktion kultureller Erfahrungen | "One remains one?" - The Impact of Audio-visual Media on Collective Memory and on the Reproduction of Cultural Experiences
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Marie Elisabeth Müller (Nairobi)

Dokumentation | Documentation | Documentation


‘Vertical Limit’ - Urbane Gestaltungspläne und Orientierungsmuster im Film

Silke Roesler (Universität Regensburg, Deutschland)
[BIO]

 

Urbane Repräsentationen

"Ich will Ihnen was verraten. Ich plane einen Gefängnisausbruch und ich brauche noch einen Komplizen. Wir müssen zuerst raus aus dieser Bar, dann aus diesem Hotel, dann aus der Stadt und dann aus dem Land. Machen Sie mit oder nicht?"
"Ich bin dabei!"
"Schön. Hoffentlich haben Sie genug getrunken. Denn dazu gehört Mut!"

(Bob zu Charlotte vor den Expeditionen ins nächtliche Tokio, Lost in Translation 2003

 

Das vielfach zu hörende Schlagwort einer ‘Flut der Bilder’, des Ersatzes der Realität durch ihr Abbild, die Infragestellung des Wahrheitsgehalts von medial erzeugten Bildern sowie deren Dokumentationswert in westlichen Kulturen - kurz, das Zusammenwirken von Bild und Gesellschaft - wird unter dem Disziplinen übergreifenden Begriff Visual Culture diskutiert, in dessen Kontext sich auch dieser Aufsatz einordnen lässt. So macht das photographische Medium nach Walter Benjamin deutlich, dass Städtebilder und die sie ausstellenden erzählerischen Fiktionen nunmehr unter dem Diktat der Re-Produktion stehen. Das hat für die Problematik der Darstellbarkeit und Erzählbarkeit der Großstadt seit dem 19. Jahrhundert zweierlei Konsequenzen. Entweder wird die Wahrnehmung intensiviert durch die Verkleinerung des Wahrnehmungsgegenstandes auf die Großstadtminiatur. Oder das moderne Faktum der (medialen) Reproduzierbarkeit wird zum Anlass genommen für andersartige ästhetische Arrangements, in denen durch die neuen Wahrnehmungsapparaturen - von Photographie bis zur Computersimulation - eine neue Form von Stadt entsteht.

Das Repräsentationsverhältnis - verstanden als Beziehung eines anwesenden Bildes und eines abwesenden Gegenstands, in der das eine für den anderen steht, insofern als es ihm entspricht (vgl. Chartier 1989: 13) - prägt die gesamte Theorie des Zeichens. Der Beitrag orientiert sich nun an der Annahme, dass ein medial vermitteltes Bild niemals (auch keine Film- oder Fernsehdokumentation wie etwa Formate, die dem sog. Reality TV zugeschrieben werden) realitätsgetreu ist oder gar Realität widerspiegelt. Vielmehr wird durch die mediale Überformung beziehungsweise Repräsentation ein künstliches Konstrukt - die Stadt als Kunstwerk - neu geschaffen. Nach Henri Lefèbvre entsteht der Raum aus einer Dreiheit: Er ist Produkt der räumlichen Praxis einer Gesellschaft (von sozialräumlichen Handlungsmustern in unterschiedlichen Zeitintensitäten), der Repräsentationen des Raumes (des Wissens, das wir über die Stadt haben, seiner Vermittlung und Darstellung; also der von den Experten - Wissenschaftlern, Technokraten, Architekten und Gestaltern - konzipierte Raum) und der Räume der Repräsentation (der Sehnsuchts- und Wunschbilder, durch die hindurch der Raum erfahren und gelebt wird) (vgl. Lefèbvre 1991: 33f.). In dieser dynamischen Konfiguration spielen nach Kai Vöckler die Bilder des Raumes - und so auch die filmischen Konfigurationen - eine besondere Rolle: Sie selektieren, legen fest, was sichtbar ist und was unsichtbar bleibt. So drückt ihre Symbolsprache die herrschende Auffassung, die herrschende Vorstellung vom Raum selbst aus (vgl. Vöckler 2001: 206). Folglich überlagern sich das urbane Raumgefüge, mit anderen Worten der architektonische Baukörper, und die Bilder der Stadt und formieren auf diese Weise die Vorstellung von zukünftiger Entwicklung. Nach Vöckler tritt in den Raumbildern das Symbolische ungebrochen hervor (vgl. ebd.). Exemplarisch sei die wohl bekannteste filmische Symbolisierung genannt:

Das Leitbild der Entwicklung ist weltweit auf unzähligen Bauschildern, in Prospekten, Zeitschriftenartikeln und auf Websites zu finden: die Wolkenkratzersilhouette. Sie gilt noch immer als die vollkommene Kontor einer realisierbaren Utopie, und deren prototypische Version, die Skyline von Manhattan, dürfte in vielerlei Hinsicht Modell gestanden haben. Als gebaute Realität liefert das Bild der in den Himmel ragenden Hochhäuser sichtbaren Beweis für Modernität und Fortschritt (ebd.).

Wie nun der filmische Raum im Konkreten konstruiert wird, inwiefern das dem Film eigene Spezifikum der Bewegung des Bildes (erzeugt durch die Bewegung im Bild, der Bewegung des Bildes durch Kamerafahrten und -schwenks sowie der Montage von Einzeleinstellungen durch Schnitte) hierfür konstitutiv ist, soll anhand zweier bedeutender Konzepte urbaner Gestaltungspläne und Orientierungsmuster erarbeitet werden. Während Richard Sennett in Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds die Gitterstruktur der geplanten Stadt sowohl als flächenmäßige ebenerdige Ausdehnung eines Stadtkörpers entfaltet, als auch der vertikalen (Wolkenkratzer-)Struktur als Folie überstülpt, nimmt Michel de Certeau in Die Kunst des Handelns unter Zuhilfenahme seines Konzepts von Voyeur und Fußgänger die vertikale und horizontale Dimension des Stadtkörpers in den Blick. Kombiniert wird diese Theorieskizze mit zwei Filmlektüren. Film entsteht zunächst als großstädtisches Medium und verkörpert auf einer zweiten Ebene zudem selbst Urbanität. Es wundert daher nicht, dass sich der Film immer wieder der Großstadt als Thema und Motiv annimmt. Der Repräsentationsgedanke soll auf einem Streifzug entlang von Sophia Coppolas Filmstadt Tokio in Lost in Translation (USA 2003) sowie Sam Raimis Metropolen-Mythos New York in Spider-Man I (USA 2002) verfolgt werden. Doch zunächst zur Raumtheorie:

 

Richard Sennetts ‘Gitternetz und Kultur der Neutralisation’

Die Babylonier und die alten Ägypter statteten ihre Städte mit geraden, einander im rechten Winkel kreuzenden Straßen aus, so dass regelmäßige, gleichgroße Bauparzellen entstanden. Im Allgemeinen bezeichnet man Hippodamus von Milet als den ersten Stadtplaner, der jene Gitter als kulturelle Ausdrucksform begriffen hat; für ihn kam im Gitternetz die Rationalität zivilisierten Verhaltens zum Ausdruck. Während dem Gitterschema den Römern nach eine tiefe emotionale und spirituelle Bedeutung innewohnte, setzen die Amerikaner schließlich das Netz erstmals zu einem ganz neuen Zweck ein. Nach Richard Sennett nutzen sie es dazu, "die in ihrer Umwelt vorfindliche Komplexität zu leugnen" (Sennett 1990: 71). Mit anderen Worten diente das Gitternetz den Siedlern Nordamerikas als Planschema, das die Umwelt neutralisieren sollte. Während die römische Militärsiedlung so konzipiert war, dass sie sich im Laufe der Zeit innerhalb ihrer Umgrenzung entfalten konnte, war das moderne Gitter der ‘neuen Welt’ hingegen von Anfang an auf Grenzenlosigkeit angelegt. Es sollte sich dem Wachstum der Stadt entsprechend von Block zu Block ausdehnen. Die Überzeugung, die von Menschen besiedelten Räume ließen sich bis ins Unendliche ausdehnen, kann nach Sennett als "ein erster Versuch, den Wert oder die Qualität jedes bestimmten Raumes geographisch zu neutralisieren" (ebd.) betrachtet werden. Als zweiter Neutralisierungsaspekt des städtischen Raumes nennt er, dass die Amerikaner zusehends darum bestrebt gewesen seien, das öffentliche Zentrum zu beseitigen. Dies würden Pläne für Chicago aus dem Jahre 1833 und für San Francisco von 1849 und 1856 beweisen, welche zwischen tausenden geplanter Häuserblocks nur eine Handvoll kleiner öffentlicher Räume vorgesehen hätten (ebd.: 72).(1) So habe es sich im Laufe der Entwicklung der Stadt zur modernen ‘Megalopolis’ vor allem in Nordamerika als sinnvoll erwiesen, von ‘Knotenpunkten’ statt von Zentren und Vororten zu sprechen. Dem amerikanischen Muster fehle nämlich eine Vorstellung von ihren eigenen Grenzen und von einer Form, die sich in diese Grenzen füge. Tatsächlich haben sich, Sennetts These belegend, die beiden Formen von geographischer Neutralisierung (Grenzenlosigkeit des Netzes sowie Eliminierung des Zentrums) auch dort durchgesetzt, wo die Stadtentwicklung mit dem Bau von Häusern an sich dahin schlängelnden Straßen oder den Aufbau von wuchernden Industriezonen, Bürostädten und Einkaufszentren an den Rändern der Highways vorangetrieben wurde.(2)

Wesentlich für die folgende Filmlektüre ist nun, dass das Gitternetz im 20. Jahrhundert eine wahrhaft neue Dimension erreicht: Es verlässt seine ebenerdige Ausdehnung und setzt sich in der Vertikalen fort. Und dort anscheinend noch universeller. In Wolkenkratzerstädten wie Hongkong und New York ist nach Sennett eine innere Ordnung, die die verschiedenen Etagen der aufragenden Vertikalen in ein Verhältnis zueinander setzen würde, wie es die Kreuzung von cardo und decumanus einst in der Horizontale getan hätten, ganz und gar unvorstellbar (vgl. ebd.: 83); man wüsste schließlich keine Aktivität zu nennen, die speziell dem sechsten Stock dieser Gebäude vorbehalten sein sollte. Und es gelinge auch nicht, das sechste Stockwerk in eine visuelle Beziehung zu bringen, die sich von der zum 25. Stock unterscheide. Dem vertikalen Gitter fehle also die Gliederung, die sich aus einer sinnvollen Platzierung im Raum und aus einer sinnvollen Umgrenzung ergebe. Hoch bedeute also geradezu neutral: "Der Höhe des Wolkenkratzers fehlt der Symbolwert des japanischen Hauses oder der mittelalterlichen Kirche", heißt es bei Sennett (ebd.: 85). Der mit einem Gitternetz überzogene Raum erzeuge nicht nur eine Leere, die anschließend erschlossen werden könne. Er unterwerfe auch diejenigen, die in ihm leben müssten, und desorientiere sie in ihrer Fähigkeit, zu sehen und Verhältnisse zu beurteilen.

Auch der Insel Manhattan prägten die Amerikaner im Jahre 1811 ein Gitter auf, das von der Canal Street, wo damals der dichterst besiedelte Teil New Yorks endete, bis hinauf zur 150. Straße reichte. In einem zweiten Schritt dehnten sie das Gitter dann 1870 auch auf die nördliche Spitze der Insel aus und in einem dritten Schritt tatsächlich auf die Vertikale. Inwiefern die Gitterstruktur und der Stadtgrundriss Manhattans als Basis des Plots und des Wesens Spider-Mans dient und ob sich Sennetts raumtheoretischen Konzept für eine filmische Co-Lektüre mit eignet, soll nun überprüft werden:

 

Filmlektüre I: Spider-Man

Nachdem der High-School-Schüler Peter Parker (Tobey Maguire) von einer genmanipulierten Spinne gebissen worden ist, verändert sich sein Leben. Plötzlich entwickelt er Fähigkeiten und Stärken einer Spinne. Peter wandelt sich vom schmächtigen Brillenträger zum muskulösen Helden und entwickelt sämtliche Eigenschaften jener Spinnenmutation: Sprungkraft, außerordentliches Sehvermögen und Reaktionsschnelligkeit. Peter Parker wird zu Spider-Man und lernt, Fassaden zu erklimmen und Netze zu spinnen. Er betrachtet es von nun an als seine Aufgabe, Unrecht dort zu bekämpfen, wo es ihm auf den Straßen New Yorks begegnet. Doch der Vater seines besten Freundes entpuppt sich als Widersacher und Gegner größeren Kalibers. Nachdem Spider-Man dessen Angebot abgelehnt hat, sich mit ihm zu verbünden, um Schrecken und Elend über die Welt zu verbreiten, kommt es zum erbitterten Kampf zwischen Gut und Böse.

Schon der Vorspann lässt das Leitmotiv deutlich werden: Sich überlappende, mehrfach verflochtene und sich spannende Spinnweben; ein Netzwerk aus Spinnweben, in dem sich die Namen der Produzenten verfangen. Schon bald verrät eine purpurrot strahlende Silhouette, wer jenes Konstrukt spinnt, und Umrisse von Hochhäusern verweisen eineindeutig auf die Lokalität des Geschehens: Spider-Man in New York. An selbst gespannten Spinnwebenfäden schwingt Spider-Man an Wolkenkratzern entlang durch die Straßenschluchten Manhattans. Er kann innerhalb der Stadtrasterung mit Hilfe seines Netze jeden Punkt erreichen: Sei es an, auf oder über Bauwerken verankert als auch im Gebäudezwischenraum in seinem Netz hängend. Auf diese Weise eignet sich Spider-Man, mit Sprung- und Kletterbegabung ausgestattet, den Baukörper Manhattans sowie den Luftraum der Stadt an - eine Sphäre, die für die eigentlichen Stadtbewohner unerreichbar bleibt.

Während Sennett die Meinung vertritt, dass das Gitternetz einer Stadt zur Neutralisation jener selbigen führe, veranschaulicht Spider-Man, inwiefern diese These (zumindest im Film) widerlegt werden kann. Spider-Man durchbricht die Konventionen des schnurgeraden Straßennetzes, schwingt sich vielmehr in allen möglichen und unmöglichen Bewegungsrichtungen unter Zuhilfenahme seines Netzes als Richtungsvektor durch die Stadtinsel. Er durchmisst das Gitter in sämtlichen Dimensionen, sein Fortkommen ist durch das Spinnennetz beschleunigt, und auch seine Orientierung scheint (trotz angeblicher Neutralisation) eher gestärkt als gemindert. Für Spider-Man entwertet Manhattans vertikale und horizontale Gitterstruktur den Raum nicht, sondern macht ihn erst vollends nutzbar. Die Kreuzungen der Straßen, der Hochhäuser und auf einer dritten Ebene seines Spinnennetzes - die Verknotung beziehungsweise Verbindung verschiedener Koordinaten - sind die Grundbedingung von Spider-Mans Existenz, seine conditio sine qua non. Aus diesem Grund ist auch die (potentiell) endlose Ausdehnung des Gitters für Spider-Man keine Missachtung des Raumes - je konsequenter die Rasterung fortgeführt wird, desto weiter tragen ihn vielmehr seine Spinnfäden. In diesem Kontext stellt sich auch die Höhe der Wolkenkratzer Manhattans (im Gegensatz zur Bebauung in Brooklyn, Queens, der Bronx und Staten Island) als unabdingbar heraus. Zu Spider-Man kann Peter Parker nur im gerasterten, von Wolkenkratzern durchzogenen Manhattan werden. Denn wären die Häuser von ihrer Stockwerkzahl niedriger angelegt, könnte sie Spider-Man nicht zur Fortbewegung einsetzen, da ein Spannen des Netzes sowie ein Schwingen und Fliegen von Haus zu Haus unmöglich wäre; er müsste wie auch in seiner Nachbarschaft in Queens als Peter Parker zu Fuß gehen (und nur zur Erprobung seiner Kräfte bisweilen von Flachdach zu Flachdach springen, welche über den vierten Stock jedoch nicht hinausgehen).

In der Tat liegt Sennett richtig, wenn er beobachtet, dass sich erst aus dem Zusammenspiel der Hochhäuser eine gewisse Orientierung im Stadtraum entwickeln könne; für sich genommen bleibt das einzelne Monument in dieser Hinsicht zum einen wirkungslos (beeindruckend ist die Skyline Manhattans nur in ihrer Gesamtheit, nicht jedoch der einzelne, isolierte Wolkenkratzer) und im Falle Spider-Mans zur Bewegung im Stadtraum unbrauchbar. Bemerkenswert ist, dass Spider-Man die Orientierung trotz des nach Sennett durch das Gitternetz neutral erscheinenden Raumes zu gelingen scheint. Auffällig ist, dass Spider-Man sein Netz häufig an äußerst wirkmächtigen Fassaden, vornehmlich den Art-Déco-Wolkenkratzern Manhattans der 20er Jahre, verankert. Er lässt er sich etwa an den silbrig-verchromten Wasserspeiern des Chrysler Building und auf der stählernen Spitze des Empire State Building nieder, geht zudem seiner Arbeit als Photograph im durch seine Dreiecksstruktur prägnanten Flatiron Building nach - allesamt Ikonen der Stadt und keinesfalls unauffällig oder gleichförmig in ihrer Struktur. Immer wieder kreuzt oder durchkreuzt Spider-Man zudem auf seinen Streifzügen den Times Square, jener wohl bekanntesten Kreuzung der Welt zwischen Broadway und 42. Straße, die schon in Buster Keatons Our Hospitality von 1923 Pate gestanden hat und die sich dadurch immer wieder als Orientierungshilfe anbietet.

Obgleich der Zuschauer Spider-Mans Bewegungen im Raum durch filmische Verfahren wie des Point-of-View Shots und Eyeline Matches folgt, könnte diesem im Gegensatz zum Protagonisten eine eindeutige Orientierung im dicht bebauten und bevölkerten Manhattan schwer fallen. Der Grund für diese Orientierungsschwierigkeiten beziehungsweise Verwirrung liegt im Wesentlichen an der Modifikation des Filmmaterials, welche nach dem 11. September vorgenommen wurde. Drei filmische Elemente wurden auf Grund der Attentate gestrichen, deren Elimination nun eine gewisse Desorientierung bedingen mögen: Erstens fehlt die nahezu obligatorische Ansicht der Skyline, die so oft als Stereotyp für den Diskurs um Stadt im Film herangezogen wird, die New York-Filme für gewöhnlich begleitet und den Schauplatz des Geschehens meist zu Beginn als Establishing shot einführt. Die Zwillingstürme des World Trade Center hätten ein solches Panorama zweifellos dominiert, waren sie doch höher als alle übrigen Wolkenkratzer und darüber hinaus sehr massiv in ihrer Wirkung. Um den Zuschauern nicht das Fehlen der Türme vor Augen zu führen beziehungsweise an die Attentate und das große Loch, welches diese sowohl im Stadtkörper als auch in der Psyche der New Yorker, Amerikaner und großen Teilen der Weltbevölkerung bedingt haben, zu erinnern, wurden die Aufnahmen des World Trade Centers (um einen zweiten Punkt zu nennen) entfernt. Drittens gibt es aus dem gleichen Grund keine umfassende Vogelperspektive beziehungsweise Aufsicht auf die Stadt, die deren spezielle Gitterstruktur hätte verdeutlichen können. Das heißt in letzter Konsequenz für den Film, dass allenfalls Ab- beziehungsweise Ausschnitte des Spinnennetzes sichtbar werden. Die Gesamtstruktur beziehungsweise -ansicht fehlt. Wie bereits erwähnt blieben jedoch wesentliche andere Symbole der Stadt, nämlich das Flatiron Building, das Chrysler Building und Empire State Building erhalten, mit deren Hilfe das New York-kundige Publikum Spider-Mans Aufenthaltsorte beziehungsweise Flugbahnen bestimmen kann. Auffällig ist, dass gerade diese Sequenzen ein sehr komprimiertes Bild von New York zeigen, welches sich im Wesentlichen zwischen der 34. (Empire State Building) und 42. Straße Manhattans (Chrysler Building, Times Square, Grand Central) erstreckt und abspielt. Es scheint sich hierbei um ein filmisch konstruiertes Zentrum Manhattans zu handeln (wenn doch das Greenwich Village vielleicht dem realweltliche ‘Herzen’ New Yorks entspricht), welches Sennett einer Stadt mit Schachbrettgrundriss abspricht. Durch das filmische Medium konnte mit anderen Worten eine digitale Version der Stadt entstehen, die zwar real existierende Bauwerke zeigt, deren Anordnung jedoch modifiziert wurde, so dass die Dichte Manhattans komprimiert und insofern intensiviert wurde. So entspricht also die mediale Repräsentation nicht der real existierenden Stadt New York, auch wenn an Originalschauplätzen - on location - gedreht wurde. Ein Paradoxon welches die gesamte Debatte um Stadt im Film durchzieht.

Auch Anzeichen für die von Sennett befürchtete Abkapselung der Städter voneinander bietet der Film kaum. Zum einen scheint reges Treiben und zwischenmenschliches Interagieren auf den Straßen New Yorks vorzuherrschen; zum anderen lässt sich auch eine durch Glasscheiben geschützte Öffentlichkeit, die einen Rückzug in den Innenraum markieren könnte, nicht feststellen. So hält sich Spider-Man überwiegend im offenen Stadtraum und nicht innerhalb von Gebäuden auf und zudem lassen sich die Fenster der Zimmer, die Spider-Man betritt beziehungsweise in die er eindringt, trotz der Etagenhöhe öffnen, bilden also keinen Schutz vor dem Lärm, der Hitze oder Kälte der Straßen New Yorks (was erschreckender und bemerkenswerter Weise der Realität entspricht; schließlich hätten sonst die Angestellten des WTC am 11. September nicht aus den Fenstern springen können,und auch die Fenster des 360 Meter hohen Empire State Buildings sind nach wie vor auch auf der 86. Etage zu öffnen).

 

Michel de Certeaus ‘Praktiken im Raum’

Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadt-Insel. Dieses Meer inmitten des Meeres erhebt sich in der Wall Street zu Wolkenkratzern und vertieft sich dann bei Greenwich; bei Midtown ragen die Wellenkämme wieder empor, am Central Park glätten sie sich und jenseits von Harlem wogen sie leicht dahin. Eine Dünung aus Vertikalen. Für einen Moment ist die Bewegung durch den Anblick erstarrt. Die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich. Sie verwandelt sich in ein Textgewebe, in der Extreme des Aufwärtsstrebens und des Verfalls zusammenfallen. Eine Stadt, die aus monumentalen Reliefs besteht.

(De Certeau 1988: 179)

De Certeau stellt in seinem Werk den voyeuristischen Blick - anders ausgedrückt die Vogelperspektive oder um im filmischen Vokabular zu bleiben die Aufsicht - dem die Stadt erkundenden Fußgänger gegenüber. Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein bedeute, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper sei nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er sei nicht mehr Spieler oder Spielball und werde nicht mehr von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteige, verlasse die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauer mit sich fortreiße und verwische. Seine erhöhte Stellung mache ihn zu einem Voyeur. Sie verschaffe ihm Distanz und verwandle die Stadt in einen lesbaren Text.(3) Ein anschauliches Bild liefert hier meines Erachtens nach der auf Ampelschaltungen basierende Verkehrsfluss, den man nur aus einer erhobenen Stellung erkennen kann und den Friedrich Kittler als Frequenz (Kittler 1995: 238) bezeichnet. So schreibt auch de Certeau, dass die Aufsicht auf die Stadt, "die Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen läßt" (1988: 181).

Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben zweifelsohne ‘unten’, jenseits der Schwellen, wo die nach de Certeau besagte Sichtbarkeit (gemeint ist die durch die exponierte Stellung mögliche Übersicht) aufhört. Die Elementarform dieser Existenz auf Erden bilden nach de Certeau die Fußgänger, deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen Textes folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können (ebd.: 182). Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden Verflechtungen bilden nach de Certeau eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert.

Auf diese erste Dichotomie zwischen Voyeur und Fußgänger aufbauend, entwickelt de Certeau in einem zweiten Schritt das Konzept von Karte (map) versus Wegstrecke (tour): Also zwischen ‘sehen’ (das Erkennen einer Ordnung aus einer erhobenen Stellung) und ‘gehen’ (den raumbildenden Handlungen) (vgl. ebd.: 221). Entweder biete nämlich die Beschreibung ein Bild an ("es gibt ...") oder sie schreibe Bewegungen vor ("du trittst ein, du durchquerst, du wendest dich ..."). So werde der Stadtnutzer im Prinzip förmlich durch verschiedenste Orientierungshinweise beziehungsweise -muster (wie Schilder oder den vor allem in einer Gitterstadt schnurgeraden Straßenverlauf) durch den Stadtkörper gelenkt. Das Gehverhalten spiele förmlich mit der Raumaufteilung (vgl. ebd.: 194). Wie schon angedeutet, ergeben sich durch die Art mit dem Raum umzugehen spezifische Formen von Tätigkeiten - "Handlungsweisen", wie de Certeau sie nennt. Schritte bilden hierbei die Basis. Die Spiele der Schritte seien "Gestaltungen von Räumen" (ebd.: 188). Sie würden die Grundstruktur von Orten weben, den Raum also förmlich bilden. Interessanterweise können sie jedoch nicht lokalisiert werden. Zwar könnten die Prozesse des Gehens auf Stadtplänen eingetragen werden, indem man die Spuren und die Wegbahnen übertrage. Aber bei der Aufzeichnung von Fußwegen gehe dann genau das verloren, was gewesen sei: der eigentliche Akt des Vorübergehens. Die Spur ersetze vielmehr die Praxis.(4)

Auf einer letzten Ebene führt de Certeau diese Praktiken im Raum in der finalen Dichotomie zwischen Raum und Ort fort: Ein Ort ist nach de Certeau die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden (vgl. ebd.: 217f). Ein Ort ist somit eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum hingegen entsteht nun, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung verbringt (vgl. ebd.: 218). Der Raum ist somit ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, von Handlungsweisen, von Wegstrecken, von Schritten, deren Bedeutung und Struktur de Certeau zuvor herausgearbeitet hat. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.

 

Filmlektüre II: Lost in Translation

Charlotte (Scarlett Johansson) begleitet ihren Mann John (Giovanni Ribisi) auf eine Geschäftsreise nach Tokio. Der gefragte Fotograf ist beruflich stark eingespannt und kann sich kaum um seine junge Frau kümmern. Sie fühlt sich allein in der fremden Kultur Japans. Dem amerikanischen Schauspiel-Star Bob Harris (Bill Murray) geht es ähnlich. Mit Jet Lag in den Knochen steht er für finanziell lukrative Aufnahmen zu einem lächerlichen Werbespot für eine japanische Whiskey-Marke vor der Kamera. Er ist über 20 Jahre verheiratet und das Feuer in seiner Beziehung scheint erloschen. An der Bar des noblen Park Hyatt Hotels kreuzen sich ihre Wege und die beiden verstehen sich auf Anhieb. Als Charlottes Mann für ein Photoshooting für ein paar Tage aus der Stadt muss, schließen sich Charlotte und Bob zusammen und erkunden die bizarre Welt der ewig pulsierenden Weltstadt Tokio.

"Welcome to New Tokio International Airport" ertönt es aus dem Off und der Zuschauer erhält zunächst einen akustischen Zugang zu dem Film, bevor sich ihm ein Bild zeigt. Man sieht den Schauspieler Bob verschlafen in einem Taxi sitzend durch das nächtliche Tokio fahren. Ihn in Seitenansicht im Vordergrund erkennt man in der Tiefe des Bildes Tokios Leuchtreklamenkulisse an dem fahrenden Auto vorbeiziehen.Verwundert und überwältigt von der Fremdheit der Schriftzeichen und Bauwerke blickt Bob aus dem Fenster des Wagens, welches ihn wie ein Schutzschild vor dem Außen, dem Anderen und Fremdartigen bewahrt. Geschickt folgt auch die Kamerabewegung Bobs Blick schwenkt zurück, als er scheinbar an einer Glitzerfassade hängen bleibt und aus dem Wagen zurückblickt. Gemäß de Certeau kann Bobs Fahrt durch die Nacht als spezifisch urbane Handlungsweise, sich den Raum aneignend und in den Raum einschreibend, betrachtet werden. Zwar bewegt er sich nicht zu Fuß durch den Stadtkörper, wie es de Certeau als wesentliche Praktik im Raum herausstellt, jedoch ist seine Position mit der des Fußgänger insofern zu vergleichen, als auch er sich ebenerdig, in der Horizontale beobachtend und erkundend fortbewegt. Filmästhetisch perfekt umgesetzt ist in dieser Sequenz die der horizontalen Bewegung des Autos entgegensetzte Vertikalität der Häuserfassaden. Dem Zuschauerblick wird kein Moment der Ruhe eingeräumt, auch er wird durch diverse Leuchtstreifen und Lichtspiele von Blickpunkt zu Blickpunkt gelenkt, wenn nicht sogar vielmehr ‘weitergetrieben’.

Dieser möglicherweise unruhig und hektisch wirkenden Sequenz wird mehrfach eine weitaus ruhigere Stadtansicht durch das Prinzip der Parallelmontage gegenübergestellt. Man sieht die sich in Tokio einsam und unverstanden fühlende Charlotte in Bluse und Unterhose, also offenbar nicht mit der Absicht alsbald das Zimmer zu verlassen, auf der Fensterbank ihres Hotelzimmers sitzen. Schweifend folgt die Kamera auch ihrem Blick in einer Kreisfahrt, erst über den grauen Stadtkoloss Tokio, dann um ihren Körper in Rückansicht herum. Als wesentlicher Unterschied zur eingangs beschriebenen Sequenz stellt sich eine zu Bob andersartige Perspektive dar: Charlotte ist dem Zugriff der Stadt im Sinne de Certeaus entkommen und in die 80. Etage des Hotels emporgehoben. Diese voyeuristische Position ermöglicht Charlotte einen Überblick auf die Stadt. Dass diese jedoch für Charlotte so zu einem lesbaren - also dechiffrier- und verstehbaren - Text wird, kann nicht belegt werden. Die exponierte Stellung beziehungsweise Übersichtseinstellung ermöglicht Charlotte keinen Zugriff auf die Stadt, vielmehr distanziert sie Charlotte vom Leben auf den Straßen Tokios. Erst als sie beginnt, die japanische Kultur zu erkunden, ändert sich nicht nur ihre geographische Position von der Aufsicht auf die ebenerdige Position, sondern auch ihre psychische Perspektive und Verfassung. Es wird gezeigt, wie sich Charlotte trotz der Fremdheit der Sprache und des Kulturraumes das öffentliche Verkehrsnetz aneignet und die kulturträchtige Stadt Kioto besucht. Wunderbar spielt die Regisseurin Sophia Coppola hier mit dem Gegensatz von alt und neu, Geschichte und Moderne, Kultur und Metropole. Obwohl beide Städte - Tokio und Kioto - aus den gleichen Buchstaben gebildet werden, verkörpert doch das eine das alte Japan mit seinem ruhigen spirituellen Tempeln, Gärten und Wasserspielen und das andere die pulsierende, moderne Weltstadt. Scheinbar zur Ruhe kommend besucht Charlotte einen japanischen Tempel, beobachtet eine japanische Hochzeit und die Natur des Landes, die sich ihr auch an der Fensterscheibe des Zuges vorbeiziehend darbietet. Auffallend ruhig ist der Ton, auffallend lang sind die Einstellungen, auffallend rar sind die Schnitte in dieser Sequenz, in der sich seichte Musik, ruhige Glockenklänge und Vogelgezwitscher abwechseln.

Doch ebenso unverwechselbar zur japanischen Kultur gehört auch das laute, farbenfrohe Treiben der Großstadt, wie es sich dem Zuschauer schon wenig später präsentiert. Zwar ist Bob derjenige, der Charlotte auffordert aus dem eingangs erwähnten "Gefängnis Japan" auszubrechen, doch ist sie es, die den Plan in die Tat umsetzt und Bob zu einer nächtlichen Expedition und somit zu einem Ausbruch aus der Lethargie seines Lebens einlädt. Die beiden werden von japanischen Jugendlichen mit Spielzeugwaffen beschossen, drängeln sich durch eine laut dröhnende und klingelnde, ewig blinkende Spielhölle, rennen über die Straßen an vorbeijagenden Autos vorbei und enden schließlich Karaoke singend in der Wohnung von Freunden, die im extremen Kontrast zur Anonymität der steril wirkenden Hotelzimmer steht.

Der Film schließt mit einer ähnlichen und doch ganz andersartigen Sequenz als zu Beginn. Bob verlässt Tokio, nachdem er sich von Charlotte in der von Menschen überfüllten Fußgängerzone lächelnd und in der Gewissheit, etwas Großartiges erlebt zu haben, verabschiedet hat. Wieder fährt er mit dem Taxi durch Tokio, dieses Mal jedoch in der frühen Abenddämmerung. Wieder blinken die Leuchtreklamen der Stadt, doch die Bilder wirken, durch die musikalische Untermalung verstärkt, wesentlich ruhiger. Alle Ampeln sind auf Grün geschaltet, Bob scheint nun das Wegeleitsystem und die Straßenschilder, ja die ganze Stadt samt deren Kultur einem Text gleichend lesen zu können. Doch erst die Streifzüge durch die Straßen, nicht jedoch der Blick aus dem emporgehobenen Hotelzimmer haben Bob und Charlotte dies ermöglicht. Kurz erwähnt, wenn auch in dieser Filmanalyse weniger von Bedeutung, sei, dass der Film das Erkennen und Begreifen der Stadt als Metapher für das Begreifen der eigenen Individualität und Existenz nutzt. Erst in der Fremde der Kultur finden die beiden Protagonisten auch den Weg zu sich selbst, zu ihren Wünschen und Ängsten. Die Stadt fungiert sozusagen als eine Art Werkzeug.

Wie in Spider-Man die Stadt New York wird auch in Lost in Translation ein sehr komprimiertes Bild von Tokio wiedergegeben. Beide Städte entsprechen nicht dem jeweils real existierenden Gegenpart, wobei überlegt werden sollte, ob das filmische Bild nicht vielleicht eine zweite Form von Realität darstellt. Während in Lost in Translation zwischen den beiden Dimensionen der Horizontale und Vertikale eindeutig differenziert wird, werden in Spider-Man die Konzepte von Karte und Wegstrecke, von Fußgänger und Voyeur, von Raum und Ort aufgebrochen. Die rechtwinkeligen Strukturen und Differenzen lassen sich nicht mehr aufrechterhalten, Vertikalität und Horizontalität gehen vielmehr eine Symbiose ein. Es scheint als handle es sich aus dieser rein raum-konzeptionellen Perspektive bei Spider-Man um eine Fortführung von Lost in Translation.

Schlussbemerkungen

Norman Klein differenziert zwischen zwei filmischen urbanen Gestaltungsplänen:

Die Metropole der Vertikale, vergleichbar einer Schichttorte oder einem Sedimentgestein, eher geeignet für epische Geschichten und Allegorien wie Blade Runner [...] und die Stadt der Horizontale, die wie die Bewegung der Menschenmenge oder eine Mörderjagd, eine höhere Tiefenschärfe liefert, wie sich seitwärts ausbreitende konzentrische Ringe (Klein 2001: 227f.).

Die Filmlektüren von Spider-Man und Lost in Translations haben jedoch gezeigt, dass sich diese Dichotomie zwischen ‘Todeszone’ (Stadt der Horizontale) und ‘Hügelblick’ (Stadt der Vertikale), wie es Klein später nennt, nicht mehr aufrechterhalten lässt. Vielmehr kommt es zu einer Symbiose von Bewegungsbahnen, die eine kombinierte, wenn auch andersartige und vielseitige Orientierung im Stadtkörper ermöglichen. Die Filmlektüren haben gezeigt, dass die Bewegungen im Film zu einer neuen Wahrnehmung von Stadt führen können; sie bilden sozusagen eine zweite Ebene von Realität ab. So ist jede - mediale - Beschreibung (ebenso Karten und Texte wie auch Photographien und Filme) mehr als eine Festschreibung, sie ist ein kulturell schöpferischer Akt. Sie schafft Räume, wie auch Michael Wood zum Film äußert: "The movies did not describe or explore America, they invented it, dreamed up an America all their own, an persuaded us to share the dream" (in: Sanders 2003: 4). Umgekehrt muss folglich gelten, dort, wo die medialen Erzählungen verschwinden, gibt es Raumverlust. Folglich entsteht und besteht Stadt also zum einen aus ihren architektonischen Strukturen im realweltlichen Raum sowie zum anderen aus medialen und technischen Diskursen beziehungsweise medial vermittelten Bildern.

© Silke Roesler (Universität Regensburg, Deutschland)


ANMERKUNGEN

(1) Noch immer ist die Innenstadtdebatte beziehungsweise die (Wieder-)Belebung urbaner Zentren in Nordamerika ein großes Thema im kulturgeographischen Diskurs. Nachzulesen bei: Schneider-Sliva, Rita: Nordamerikanische Innenstädte der Gegenwart .1999. Geographische Rundschau 51 (1): 44-51 sowie Schneider-Sliva, Rita: Kernstadtkrise USA: Zur Großstadtpolitik des Bundes und Permanenz eines amerikanischen Dilemmas. 1993. In: Die Erde 47 (3): 253-265.

(2) Erwähnt sei auch noch ein sehr wohl existierender enger Zusammenhang zwischen der Neutralisierung des Raumes und ökonomischen Prozessen. Zwar erklärten die Mitglieder des New Yorker Planungsausschusses: "Häuser mit rechteckigen Grundrissen lassen sich am billigsten bauen und sind für die Bewohner am praktischsten". Unerwähnt bleibt nach Sennett hier, dass sich gleichförmige Bodenparzellen auch am leichtesten verkaufen lassen (vgl. Sennett 1990: 77).

(3) Anregend ist in diesem Kontext auch: Alber, Reinhold 1997: New York Street Reading - Die Stadt als beschrifteter Raum. Dokumentation von Schriftzeichen und Schriftmedien im Straßenraum und Untersuchung ihrer stadträumlichen Bedeutung am Beispiel von New York, Tübingen: Universitätsverlag. Alber setzt sich hier auf vielfältige Weise mit dem Textbegriff sowie der Stadt als beschriftetem Raum auseinander.

(4) Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist es an dieser Stelle produktiv, auf den Spurbegriff von Sybille Krämer aufmerksam zu machen. Auch sie stellt den Verweis auf etwas bereits Abwesendes als Kernkonstituente des Spurbegriffes heraus. Krämer, Sybille 1998: "Das Medium als Spur und Apparat", in: dies. (ed.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M., 73-94.


LITERATUR

Alber, Reinhold 1997: New York Street Reading - Die Stadt als beschrifteter Raum. Dokumentation von Schriftzeichen und Schriftmedien im Straßenraum und Untersuchung ihrer stadträumlichen Bedeutung am Beispiel von New York, Tübingen: Universitätsverlag;

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Sennett, Richard 1990: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt a.M.: S. Fischer;

Vöckler, Kai 2001: "Space/Off", in: Bittner, Regina (ed.): Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume, Frankfurt a.M.: Campus, 199-211.


9.3. "Eins Bleibt Eins?" - Der Einfluss der audiovisuellen Medien auf das kollektive Gedächtnis und die Reproduktion kultureller Erfahrungen | "One remains one?" - The Impact of Audio-visual Media on Collective Memory and on the Reproduction of Cultural Experiences

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For quotation purposes:
Silke Roesler (Universität Regensburg, Deutschland): ‘Vertical Limit’ - Urbane Gestaltungspläne und Orientierungsmuster im Film. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/09_3/roesler16.htm

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