Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL)
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Tamara Bučková (Prag)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Vom Paradigmenwechsel zur Postmoderne.
Beispiele der neueren Kinder- und Jugendliteratur in Österreich

Ernst Seibert (Universität Wien)
[BIO]

Die folgenden Ausführungen sind eine zum einen kurz gefasste, zum anderen durch mehrere aktuelle Beispiele erweiterte Zusammenfassung eines bereits publizierten Artikels des Verfassers(1) und haben das Ziel, einige Momente herauszuarbeiten, mit denen sich in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen der gesamtdeutschen Szenerie besondere Konturen abzeichnen.

Der im allgemeinen Diskurs mit 1970 datierte Paradigmenwechsel wird in Österreich insbesondere durch ein Werk repräsentiert, mit dem tatsächlich ein ganz entscheidender Neubeginn zu registrieren ist: Mira Lobes Roman Die Räuberbraut (1974) enthält all jene Merkmale, die Anlass sind, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, insbesondere das des politischen Engagements im Zusammenhang mit einer Figurenzeichnung, die zwischen Kindheit und Jugend nicht mehr im herkömmlichen Sinne trennt, sondern das Nicht-Erwachsein-Sein schlechthin als radikalen Gegenentwurf zur literarischen Figurenzeichnung erörtert. In diesem Roman lässt sie die 13jährige Mathilde Meier, Schwester von Wilhelm Meier, von ihren kleinen und großen Alltagsproblemen, verbunden insbesondere mit Nachrichten über Ereignisse in der Dritten Welt, erzählen. Als sie eines Tages auf der Straße Zeugin wird, wie ein junger Mann von einer alten Dame irrtümlich als Taschendieb beschuldigt wird, ist ihr Gerechtigkeitssinn besonders empört. In ihren Robin-Hood-Träumen verwandelt sich jener junge Mann in den gefeierten Helden Don Diego, und sie selbst wird zu seiner treuen Begleiterin Isabella della Ponte, womit sie auch ihrem ungeliebten Namen Tilli, v. a. aber dem langweiligen Leben der Mathilde Meier entflieht und lernt, dass Phantasie ein Teil jeder Individualität ist, die nicht verleugnet werden sollte. Mira Lobe grenzt sich aber durch diese Konzeption auch ganz deutlich von vergleichbaren Werken wie Michael Endes Die unendliche Geschichte oder Astrid Lidgrens Ronja Räubertochter ab und unterstreicht damit die eigenständige Form der österreichischen phantastischen Erzählung.

Die Positionierung dieses Werkes nicht in der Kinder-, sondern in der Jugendliteratur hat naheliegende inhaltliche Gründe. Die Räuberbande, die in der Phantasiewelt Tillis/Isabellas existiert, agiert nach dem Vorbild Robin Hoods und leistet den Unterdrückten Hilfe. Die Unterdrückten sind aber nicht arme Bauern einer märchenumwobenen Feudalgesellschaft, sondern Existenzen der Gegenwart. So wird ein Konzernchef gezwungen, einige Stunden in jenen Verhältnissen zu leben, wie er dies seinen Hilfsarbeitern in ihren Wohnbaracken zugemutet hat. Seine Frau säubert erstmals in ihrem Leben die Stiegen, um zu begreifen, welche Kräfte ein Haushalt einer Putzfrau abverlangt. Die Räuber fegen Supermärkte leer, um die Nahrungsmittel an Hungernde in der Welt zu verteilen; Fahrzeuglenker werden gezwungen, nach einem Erdbeben in das Katastrophengebiet zu fahren und Verletzte zu transportieren. Schließlich kapert die Räuberbande auch ein Schiff, um Tiere, die von einem Ölteppich bedroht werden, zu retten.

Ganz wichtig ist es aber zu betonen, dass Tilli/Isabella diese Visionen zum Anlass nimmt, um ihr reales Leben in den Griff zu bekommen, indem sie auch hier die Initiative ergreift, um ihre Vorstellungen von Freundschaft und Mitschülerhilfe zu verwirklichen. Sie engagiert sich gemeinsam mit fünf Mitschülern für die Umwelt, für verwaiste und verwahrloste Kinder und in der Altenhilfe. Aus diesem verstärkten Realitätsbewusstsein erwachsen auch Versuche, den Bruder zu verstehen, der sich als Wehrdienstverweigerer seiner Realität mit politischen und philosophischen Betrachtungsweisen zu nähern versucht. Tilli findet schließlich den Weg aus der Phantasie zur Realität, Isabella lernt Mathilde zu sein, das Ich-bin-Ich (so der Titel des wohl berühmtesten Kinder-Bilderbuchers von Mira Lobe: Das Kleine Ich bin ich) hat sich als ein Prinzip der Lobe’schen Dichtung einmal mehr bestätigt.

Mira Lobe voran zu stellen hat neben den genannten noch einen weiteren Grund. Sie ist die erste österreichische Schriftstellerin, die den Würdigungspreis für Kinder- und Jugendliteratur erhielt, der seit 1980 zunächst in dreijährigem Abstand und dann in kürzeren Intervallen und auch an IllustratorInnen (Ill.) und ÜbersetzerInnen (Üs.) vergeben wird, und fast könnte man meinen, er sei knapp nach dem Erscheinen dieses Werkes und v.a. im Hinblick auf die zum Teil grotesken Reaktionen in der öffentlichen Diskussion eben für sie erfunden worden. Um diesen Preis, der in Österreich als der höchste in diesem Metier vergebene angesehen werden kann, zur Geltung zu bringen, sei kurz ein Überblick gegeben: 1980: Mira Lobe, 1983: Vera Ferra-Mikura, 1986: Käthe Recheis, 1989: Christine Nöstlinger, 1992: Renate Welsh, 1995: Lene Mayer-Skumanz, 1996 Wolf Harranth (Üs.), 1998: Lisbeth Zwerger (Ill.), 2000: Monika Pelz, 2002 Senta Kapoun (Üs.), 2004 Angelika Kaufmann (Ill.). Dieser Überblick bietet sich an, die Auswahl der hier vorzustellenden Autorinnen und Autoren zu vereinfachen; ihm folgend sollen einige Werke der genannten Autorinnen vorgestellt werden.

Als Mira Lobe 1995 im 82-sten Lebensjahr verstarb, hinterließ sie nicht nur eines der umfangreichsten Werke der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur, sondern galt im In- und Ausland ohne Zweifel als die prominenteste Vertreterin eines literarischen Sektors, der in diesen Jahrzehnten auch und gerade in Österreich sehr grundlegende Wandlungsprozesse mit sich gebracht hat. In der immer noch sehr spärlichen Sekundärliteratur zu Mira Lobe finden sich in den bibliographischen Angaben weit über 100 Titel; nicht wenige von ihnen sind heute noch mehreren Lesegenerationen als zeitlose Dokumente kindlichen Leseinteresses vertraut und bilden damit einen unverrückbaren Bestand der für Kinder und Jugendliche verfassten österreichischen Gegenwartsliteratur. Ohne Zweifel war sie die Doyenne der sogenannten Szene, eine der erfolgreichsten Autorinnen, eine der am meisten ausgezeichneten, eine der von Schriftstellerkolleginnen und -kollegen am meisten geschätzten und auch eine der am meisten übersetzten Autorinnen.

Aus ihren phantastischen Werken sei Die Omama im Apfelbaum (1965) herausgehoben. Mit diesem Werk leistet Mira Lobe ihren wahrhaft bahnbrechenden Beitrag zu jener Gattung der Kinderliteratur, die jedenfalls in formaler Hinsicht den wohl nachhaltigsten Modernisierungsschub des kinderliterarischen Systems mit sich brachte. Sie war nicht die erste Autorin in Österreich, die diese faszinierende Gestaltungsweise umsetzte; vor ihr sind zu nennen: Erica Lillegg mit Vevi (1956) und mit Feuerfreund (1957) und Vera Ferra-Mikura mit Zaubermeister Opequeh (1956). Bei Mira Lobe jedoch entwickelt sich diese neue und von den Theoretikern der Kinderliteratur sofort intensiv diskutierte Gattung eigentlich in einer bruchlosen und konsequenten Weiterentwicklung ihres bisherigen poetologischen Konzeptes. Dieses Konzept beruht darauf, dass sie die Rahmentechnik dazu verwendet, (erwachsene) Welt und (kindliche) Gegenwelt, (kindliche) Innenwelt und (erwachsene) Außenwelt gegeneinander zu setzen.

Zu den zählebigen, immer wieder hartnäckig erörterten Fragen der österreichischen Germanistik gehört die nach der Eigenständigkeit der österreichischen Literatur im großen Raum der deutschen Sprache oder die nach einem entsprechenden Literaturkanon oder - schon seit geraumer Zeit - auch die Frage nach der Literaturwürdigkeit von Kinder- und Jugendliteratur. Alle drei Fragen lassen sich im Fall von Vera Ferra-Mikura in einem Atemzug beantworten: Ihre Literatur ist eine typisch österreichische, sie ist im Kanon jedenfalls der österreichischen Kinderliteratur unverzichtbar, und das, was sie literarisch eingebracht hat, macht nicht nur ihre kinderliterarischen Werke literaturwürdig, sondern ist ein ganz entscheidender Beitrag zur Literaturwürdigkeit dieses Sektors schlechthin.

Bei näherer Betrachtung ist allerdings festzustellen, dass sich die österreichischen phantastischen Kindererzählungen von anderen ebenfalls unter diesen Begriff subsumierten Werken, wie etwa Michael Endes Unendlicher Geschichte, nicht unwesentlich unterscheiden. Sie unterscheiden sich in erster Linie dadurch, dass dieser von Ferra-Mikura in einem einprägsamen Vergleich entworfene Boden eines Schachbretts mit seinen realen und irrealen Feldern in der österreichischen Literaturtradition einen tatsächlich weit ausgebreiteten Unterboden mit einer sehr fruchtbaren Vermengung von einerseits realistischen und andrerseits zauberhaften bis magischen Literaturströmungen aufweist. Wiederholt wurde schon darauf hingewiesen, man fände Ferras geistige Verwandte und Vorfahren bei den magischen Realisten des Prager Kreises, bei Gustav Meyrink oder Franz Kafka bzw. auch bei Fritz von Hezmanovsky-Orlando und seinen humoristisch-skurrilen Einfällen.

Dass sie für die Kinderliteratur in Österreich tatsächlich wegbereitend war, wird vor allem von ihren Dichterkolleginnen bekundet, von Käthe Recheis und Friedl Hofbauer, die insbesondere an die Zeit des "Wiener Autorenkreises" erinnern, der seit seiner Gründung 1968 legendären Ruf erlangte. Ihm gehörten neben den Genannten u. a. Mira Lobe, Wilhelm Meissel, Ernst A. Ekker, Wolf Harranth, später auch Christine Nöstlinger, Lene Mayer-Skumanz, Monika Pelz, Renate Welsh und Georg Bydlinski an. Die in diesem Kreis insbesondere gepflogene sprachkritische und sprachspielerische Auseinandersetzung widerspiegelt eine literarische Tradition, die ebenfalls mit besonderer österreichischer Ausprägung von Johann Nestroy und Karl Kraus initiiert und von Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Wittgenstein weiterentwickelt wurde und bis in die Gegenwart anhält.

Wenn aus all der hier nur angedeuteten literarischen Vielfalt Ferra-Mikuras tatsächlich nur ein Werk bzw. eine Figur übrigbleibt, in ihrem Fall die Selbdritt-Figur der Stanisläuse, die in der heutigen Kinderbuchwelt an sie erinnert, ist das ein ernüchternder Befund. Es ist allerdings ein symptomatischer Befund, der darauf verweist, dass die Gesetzlichkeiten in der Welt des Kinderbuches doch andere sind, als im allgemeinen Literaturgeschehen.

Eine nicht minder vielfältige Palette an Themen, Stoffen und Motiven weist das Werk der dritten Inhaberin des Würdigungspreises, Käthe Recheis (geb. 1928) auf. Sie ist Herausgeberin und Bearbeiterin von Märchen und Sagen, Gespenster-, Spuk- und Kriminalgeschichten und schreibt realistische Umwelterzählungen, phantastische Geschichten und Romane. Ein besonderes Anliegen ist die Auseinandersetzung mit bedrohten Indianervölkern, womit sie aus der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nachwirkenden Karl-May-Romantik heraus zu einer realistischen Perspektive in dieser Gattung führt. Besonders hervorzuheben ist ihr Beitrag zum zeitgeschichtlichen Roman, der in den nachfolgenden Anmerkungen über "Kriegskindheit" ausführlicher behandelt werden soll.

Auch die vierte Würdigungspreisträgerin, Christine Nöstlinger, die wohl den größten internationalen Bekanntheitsgrad aufweist, kann hier nur ganz knapp dargestellt werden. In ihrer Biographie (und auch autobiographisch) wird besonders die Herkunft aus dem Arbeitermilieu der Wiener Vorstadt betont. Nach einem Studium der Gebrauchsgraphik schrieb sie zunächst für Tageszeitungen, Magazine und den ORF. Ihr erstes Kinderbuch, das noch in die Phase der phantastischen Erzählung fällt und das ursprünglich noch von ihr selbst illustriert war, Die feuerrote Friederike, erschien 1970. Seitdem weist sie eine enorme Produktivität an Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern auf, die sie in verschiedenen Verlagen in Österreich und Deutschland veröffentlichte und für die sie vielfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille. Mit der genannten phantastischen Erzählung und der nachfolgenden, Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972), verbindet sie dieses Genre mit den Ideen der antiautoritären Erziehung nach 1968. Schon darin und in den nachfolgenden Werken durchbricht sie pädagogische Tabus und findet dafür eine sehr individuelle Kunstsprache, die nur vordergründig als Alltagssprache identifiziert werden kann. Eine Fülle von Selbstzeugnissen findet sich in dem Sammelband Geplant habe ich gar nichts, der 1996 anlässlich ihres 60. Geburtstages erschien. Darin ist unter anderem auch eine sehr intensive Beschäftigung mit den Werken von Alice Miller um 1980 abzulesen, die insofern folgenreich war, als sie erkannte, dass man den Kindern mit dem Rat, sich gegen alle Bevormundung zur Wehr zu setzen, nicht unbedingt Gutes tut. Man könnte darin das Ende bzw. zumindest die Relativierung dieser markanten Phase sehen, oder auch einen neuerlichen Paradigmenwechsel, der zumindest für diese Autorin auch zu einem Wechsel des Stils geführt hat.

Die erste Veröffentlichung von Renate Welsh (geb. 1935), Der Enkel des Löwenjägers, geht ins Jahr 1969 zurück, 1970 folgt Ülkü, das fremde Mädchen, worin sie die Probleme im Leben eines Gastarbeiterkindes aufzeigt. Das Gattungsspektrum wird zunehmend breiter, Bilderbücher und heitere phantastische Erzählungen werden von Romanen abgelöst, deren Thema immer wieder die Identitätssuche junger Menschen in Krisen- und Konfliktsituationen ist wie in Zwischenwände (1978) oder Drachenflügel (1988); Grundtenor bleibt immer das soziale Engagement und insbesondere in zwei herausragenden Werken, Johanna (1979), einem kritischen Antiheimatroman, und Dieda oder Das fremde Kind (2002) gestaltet sie authentisch und zunehmend autobiographisch Kriegs- und Nachkriegszeit, wie noch zu zeigen sein wird. Erst im letztgenannten Roman kommt das erlebnishaft Authentische als Autobiographie zum Durchbruch. Wegbegleitend ist dabei eine intensive Spracharbeit mit geradezu existenzialistischer Bedeutung, wie sie besonders in der Innsbrucker Poetik-Vorlesung Geschichten hinter den Geschichten immer wieder formuliert wird und wie sie auch in ihren Schreibwerkstätten zur Geltung kommt. Eine weitere Stärke ist das Recherchieren, wie sie schon in ihrem Frühwerk Der Staatsanwalt klagt an (1975) unter Beweis stellte, als sie fünf Wochen lang in das Wiener Jugendgericht fuhr und Protokolle über 14 Prozesse führte, bis zu Constanze Mozart (1990) und das Lufthaus (1994), worin sie die Geschichte ihrer Vorfahrin Pauline erzählt und wofür sie ein intensives Dokumentenstudium bis ins Jahr 1848 zurück führte.

Lene Mayer-Skumanz (geb. 1939) gestaltet in einem durchaus auch an Genres reichen Schaffen, Erzählungen und Lyrik, Bild- und Detektivgeschichten, Erzählungen aus fernen Ländern, Legenden und biblische Erzählungen sowie Bilderbücher. Ihr Verdienst liegt in der Schaffung einer neuen religiösen Kinderliteratur mit unaufdringlicher Botschaft.

Mit einem abgeschlossenen Studium der Philosophie und Geschichte arbeitet Monika Pelz (geb. 1944), die jüngste der bisherigen Würdigungspreisträgerinnen, als freiberufliche Sozialwissenschafterin und Schriftstellerin und verarbeitet Eindrücke und Ergebnisse ihrer Studien in realistischen Erzählungen mit den Themen Arbeitssuche, Loslösung vom Elternhaus und insbesondere Probleme junger Frauen.

Beim Versuch, im Vergleich zwischen diesen sieben Autorinnen (am Rande bemerkt ist bislang tatsächlich kein männlicher Kollege vertreten) Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, bieten sich sicher mehrere Möglichkeiten an. Ein Grundproblem, das für die Kinder- und Jugendliteratur allgemein kennzeichnend ist, das aber vielleicht eine besondere österreichische Spielart aufweist, lässt sich in einem Begriffspaar zusammenfassen: Autorität und Identität. Es geht immer um Autoritätsfragen und immer um Identitätsfragen und es gibt gleichsam zwei Stilebenen, sich diesem Konflikt zwischen Autorität und Identität bzw. (kindlich-jugendlicher) Identitätssuche gegen die (erwachsene) Attitüde der Autorität zu stellen:

das Spiel mit der Autorität und

die Auflehnung gegen falsche Autorität

Das Spiel mit der Autorität hat eine besondere österreichische Tradition, die auf die Figur des Hanswurst und des Kasperl zurückgeht; insofern sich diese Figuren von vergleichbaren in anderen Ländern wie dem Harlekin oder dem Pickelhering unterscheiden, hat auch ihr Fortleben in der Kinderliteratur spezifische nationaltypische Ausprägungen. Ohne Zweifel gibt es in Österreich eine besondere Tendenz zu Parodien und Travestien, wobei eine besondere Facette dieser komödiantischen Genres das Spiel mit der Sprache darstellt, wie es besonders im Wiener Volkstheater ausgeprägt war und sich essayistisch bis zur Sprachkritik eines Karl Kraus und philosophisch bis Ludwig Wittgenstein fortsetzt. Solche Sprachspiel-Momente sind noch sehr deutlich bei Mira Lobe, Vera Ferra-Mikura und bei Christine Nöstlinger zu erkennen. Auch und gerade bei ihr wird das scheinbar Unernste eingesetzt, um das Ernste zu unterlaufen, wobei dieses Spiel mit Sprache auch eine versöhnende Wirkung haben kann, wenn der Ernst der Wirklichkeit durch das Infrage-Stellen seiner sprachlichen Repräsentation nur mehr als Karikatur erscheint. Wenn hingegen Renate Welsh meint, Sprachlosigkeit sei eines der schlimmsten Gefängnisse, die es überhaupt gibt, so ist damit die tragische Ebene der Verklammerung von Sprache und Wirklichkeit angesprochen. Sie mündet in die rebellische Attitüde, in die Auflehnung gegen falsche Autorität.

Diese Stilebene ist vergleichbar mit der Kritik an der "schwarzen Pädagogik", einer Pädagogik, die in einem antiaufklärerischen Sinn das Kind als ein Wesen betrachtet, das nur durch Zucht oder auch Züchtigung zur Vernunft gebracht werden kann. In diesem Zusammenhang ist auf ein literaturgeschichtliches Phänomen, zu verweisen, das hier nur sehr knapp angedeutet werden kann: In Österreich wird im Überblick über die kinderliterarische Entwicklung im späteren 19. und frühen 20. Jh. erkennbar, dass Kinderliteratur für seine Autorinnen und Autoren die Möglichkeit bietet, anders als im System der allgemeinen literarischen Entwicklung gegen Autoritätsstrukturen anzuschreiben. Dies wird allein darin erkennbar, dass faktisch alle in Frage kommenden Autoren, Charles Sealsfield , Adalbert Stifter , Marie von Ebner-Eschenbach , Franz Karl Ginzkey , Alois Sonnleitner , Franz Molnar und Felix Salten aus den Gebieten der ehemaligen Kronländer (Böhmen, Mähren und Ungarn) immigriert sind und offenbar auf diese Weise gegen das von ihnen in den Erblanden bzw. in der Haupt- und Residenzstadt Wien vorgefundene Kindheitsbild und die damit verbundenen Autoritätsstrukturen angeschrieben haben. Mit Rücksicht darauf, dass die Herkunft der als Klassiker in Frage kommenden Autoren generell in die ehemaligen Kronländer führt, ist von einer peripheren Genese der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur zu sprechen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass auch Mira Lobe, geboren in Görliz, als Jüdin nach Israel emigriert und erst in den 50er Jahren in Wien ansässig geworden, ein weiteres Beispiel für diese periphere Genese ist.

Wie bereits erwähnt zeichnet sich schon im Überblick über die oben genannten Autorinnen ein besonderes Thema ab, das in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur seit den 60er Jahren zunehmend Verbreitung gefunden hat und das mit dem Titel "Kriegskindheit" zusammen zu fassen ist.

In der Poetikrede, die Käthe Recheis 1997 an der Universität Frankfurt am Main hielt, und in der sie die wichtigsten ihrer Werke Revue passieren lässt und jeweils kurz erläutert, präsentiert sie zwei davon als autobiographisch, Das Schattennetz (1964) und den über zwanzig Jahre später erschienenen Roman Lena. Unser Dorf und der Krieg (1987). Insbesondere das Werk der 1964 noch nicht 40jährigen, jedoch als Kinderbuchautorin schon bekannten Käthe Recheis ragt nach wie vor aus ihrem Gesamtwerk heraus, das inzwischen an die hundert Titel umfasst. Und nicht nur im Oeuvre der Autorin selbst, sondern im gesamten Kontext der jüngeren Kinderliteraturgeschichte in Österreich hat Das Schattennetz einen besonderen Stellenwert, der immer wieder als solcher zitiert wird, sodass sich bereits eine seltsame Aura darum lagert.

Das Schattennetz handelt von den Erlebnissen der 17-jährigen Käthe Recheis, die unmittelbar nach Kriegsende in einem nahezu aussichtslosen Kampf um das Überleben von ehemaligen KZ-Häftlingen ihrem Vater, dem Arzt Hans Recheis, helfend zur Seite stand, der schließlich selbst Opfer der grassierenden Fleckfieber-Epidemie wurde. Die näheren Umstände gehen aus den Ich-Erzählungen nicht genau hervor und lassen sich nur aus späteren Berichten rekonstruieren: In den letzten Kriegswochen wurden ungarische Juden, von Fleckfieber gezeichnet, über Mauthausen in das im März 1945 neu errichtete Waldlager Gunskirchen geschleppt. Nach der Befreiung wurden die vielfach todkranken Häftlinge mit amerikanischen Militärkrankenwagen nach Wels und in die umliegenden eilig errichteten Notspitäler gebracht. Eine dieser Stationen war ein Barackenlager bei Hörsching, das von Hans Recheis geleitet wurde. Seine Versuche, den Dahinsiechenden zu helfen, scheiterten letztendlich daran, dass der amerikanische Kommandant, ein Jude, der im Zivilberuf Arzt war, jegliche Hilfe und Unterstützung verweigerte.

Lena. Unser Dorf und der Krieg (1987) kann im besten Sinne des Begriffes als zeitgeschichtlicher Roman betrachtet werden, er wird v. a. auch dem Begriff des Romans schlechthin gerecht durch eine Fülle von Schicksalen, die hier ineinandergewoben sind und eindrucksvoll den Erkenntnisprozess eines 12-jährigen Mädchens in der NS-Zeit widerspiegeln und es ist ein Roman, in dem eine Autorin alle bis dahin angesammelte Erfahrung als Kinder- und Jugendbuchautorin überzeugend zur Geltung bringt.

Neben Lena von Käthe Recheis ist die wohl am meisten beachtete Darstellung über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Renate Welshs Johanna (1980), die dafür mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wird. Gerade in dieser Nachzeichnung einer Lebensentwicklung wird jedoch sichtbar, mit welchem Tiefgang sich Welsh auf jene Themen einlässt, deren literarische Verarbeitung sie sich zum Ziel gesetzt hat. Johanna ist Entwicklungsroman und politisch-soziale Situationsbeschreibung der Zwischenkriegszeit gleichermaßen, darüber hinaus Dokument der Emanzipation einer jungen Frau von verschiedensten Abhängigkeiten, und somit Dokument der Identitätsfindung in besonderer Weise, aufgezeigt an einem Einzelschicksal und dennoch Spiegelbild der Willensstärke für eine Unzahl von Frauen jener Generation aus dieser sozialen Herkunft.

Martin Auers Küss’ die Hand, gute Nacht , die liebe Mutter soll gut schlafen! (1996) hat ein Gesprächsprotokoll der Mutter des Autors, selbst schon der Nachkriegsgeneration angehörend, und dessen Reflexionen zur Grundlage. Triebfeder für dieses Buch war Martin Auers Neugierde, mehr über die Kindheit und Jugend seiner Mutter zu erfahren: Er fragte - sie erzählte, erzählte in sehr persönlicher und unmittelbarer Weise, geprägt vom Wiener Lokalkolorit, ohne ihre tiefsten Überzeugungen und Empfindungen zu verschweigen. Ungeschönt übernimmt der Autor das auf Tonband Aufgenommene, wodurch der Duktus gesprochener Sprache in all seinen Eigenheiten und Brüchen in der schriftlichen Fassung beibehalten bleibt. Entstanden ist so ein Buch, in dem einerseits die lieblose Kindheit in einem Waisenhaus in den 30er Jahren und die entbehrungsreiche Jugend während des Krieges lebendig wird, und andererseits eine Zeit porträtiert wird, die von politischen Repressalien Andersdenkender, von Diktatur und (Austro-)Faschismus gekennzeichnet war.

In Besuch aus der Vergangenheit (1999) schildert Renate Welsh die Begegnung der 14jährigen Lena und ihrer Familie mit einer alten Exilösterreicherin, eine Konfrontation mit österreichischer Vergangenheit und Gegenwart, und bringt damit eine neue Form des Gegenwartsbezuges in die Thematik ein. Die in Kanada lebende Jüdin Emma Greenburg und die Protagonistin Lena begegnen einander vor der Wohnung, aus der Emma als 13jährige fliehen musste und in der Lena mit ihrer Familie nun wohnt. Unbefangen zeigt das Mädchen der Unbekannten ihr Zimmer, aber schon Lenas Mutter reagiert sehr befremdet, und Lenas Großmutter ist mehr als unhöflich zu Frau Greenburg. Aus der wechselnden Perspektive dreier Frauen der verschiedenen Generationen versucht die Autorin die gegenwärtige Haltung und Meinung über die Judenverfolgung von österreichischen Menschen wiederzugeben. Für Lena ist es am leichtesten. Sie hat das Tagebuch der Anne Frank gelesen, ist aber noch nie mit jüdischer Kultur in Berührung gekommen. Die Mutter hat es am schwersten. Seit zwei Jahren ist ihr Mann beruflich im Ausland und erst am Ende des Buches erfährt man, dass er überraschenderweise doch nach Hause zurückkehrt. Da die Großmutter den Haushalt führt, ist die erwachsene Frau ständiger mütterlicher Kritik ausgesetzt, zusätzlich zum eigenen beruflichen Stress. Es gelingt ihr nicht einzugestehen, dass es ein furchtbarer Irrweg war, den ein Großteil der Bevölkerung gegangen ist. Es ist ihr nicht möglich einzusehen, dass es niemals normal sein kann, andere Menschen auszugrenzen und ihnen das Wohnrecht abzusprechen, Besitztümer wegzunehmen und sie bis zum Tod zu verfolgen.

Renate Welsh spricht in Besuch aus der Vergangenheit unzählige heutige Probleme an: Kosovokrise, Bosnienkrieg und NATO-Bombardements, Alleinerzieherproblem und Schulschwierigkeiten, Waldheim-Affäre u.a.m. Was einerseits als Überfrachtung des Buches ausgelegt wird, kann auch als neue Qualität gewertet werden, zumal es sich nicht um bloße Aneinanderreihungen handelt, sondern um authentische Einbeziehung aus der Sicht einer Autorin, die ihre Gabe zur Recherche mehrfach unter Beweis gestellt hat.

Mit ihrem bislang letzten großen Wurf Dieda (2002) hat Renate Welsh in der hier als Spätphase bezeichneten Periode des zeitgeschichtlichen Romans erneut deutlich gemacht, dass das zentrale Thema dieser Gattung das der Kriegskindheit ist. Protagonistin ist ein vorpubertäres Mädchen, das bei der Stiefmutter aufwächst und den "unechten" Großvater hasst, ihren Namen verweigert und unterdrückt wird. Die Geburt einer Stiefschwester bringt die innere Wende und ein bedingtes Bekenntnis zur Familie mit sich. Der Roman hat in der Kritik einhellig größten Zuspruch erfahren, wurde spontan mit Preisen versehen und ist gegenwärtig wohl eines der meistgelesenen Werke dieses Genres.

Wenn man von dieser Fokussierung auf das Thema "Kriegskindheit" ausgehend den Blick wieder weitet, so ist für die jüngere Zeit als besondere Auffälligkeit festzuhalten, dass in zunehmendem Maße Namen in Betracht kommen, die ursprünglich nicht der Kinder- und Jugendliteratur zugehören. Neben Martin Auer, Adelheid Dahimène, Heinz Janisch, Monika Pelz, Käthe Recheis und Renate Welsh, die zum Teil schon seit Jahren bei Preisvergaben in den oberen Rängen stehen, sind nun auch Barbara Frischmuth, Peter Handke, Paulus Hochgatterer, Felix Mitterer, Elisabeth Reichart und Stefan Slupetzky im Gespräch, Autorinnen und Autoren also, die eher dort rezensiert werden, wo man Kinder- und Jugendliteratur allenfalls hintanstellt oder schlicht verleugnet. Dabei wäre ergänzend zu bemerken, dass hier nur jene Namen genannt sind, die bei Preisvergaben tatsächlich zur Sprache kamen, und dass diese Liste zu erweitern wäre, etwa mit H.C. Artmann, Marianne Gruber, Reinhard P. Gruber, Ernst Jandl, Michael Köhlmeier, Friederike Mayröcker, Heinz Rudolf Unger u.a.m. Für beide Bereiche soll noch je ein Werk hervorgehoben werden.

Adelheid Dahimène nimmt sich in Spezialeinheit Kreiner (2003) mit der von ihr kreierten Figur des Kreiner einer Jugendbuchgattung an, die an literarischen Spitzenleistungen nicht eben reich ist, der Gattung der Detektivgeschichte. Allerdings geht es bei Kreiner, der im Laufe der Handlung vierzehn wird, nicht so sehr darum, Kriminelles auf stringente Weise zu lösen, sondern es geht eher um die Selbstüberschätzungsphantasien eines Pubertierenden, in denen sich in ironischer Weise die Übermenschen-Ideologie dieses Metiers widerspiegelt, es geht also um eine höchst vergnügliche Parodie der Gattung. Wer es in den ersten Kapiteln schon ahnt, wird im Lauf der Handlung mehrfach bestätigt: Repräsentiert wird die Gattung durch die Figur des Inspectors Columbo, und Kreiner steht diesem seinem offensichtlichen Vorbild an ausgefallener Beobachtungsgabe, aber auch an Verwirrtheit in nichts nach. Was Dahimènes Version dieser Gattung aber insbesondere auszeichnet, ist ein Satz für Satz ununterbrochenes Stakkato an Wortschatzkunst und Formulierungsakrobatik, mit der sie an die schon dokumentierte Tradition des Sprachwitzes in der österreichischen KJL anknüpft und ihrer Leserschaft eine Fähigkeit unterbreitet, die gerade im Lesealter der Pubertät eher rar ist, die des Lachens über sich selbst.

Elisabeth Reichart, bislang nicht Kinderbuchautorin, sondern renommierte Repräsentantin der österreichischen Gegenwartsliteratur, erzählt in Lauras Plan (2005) eine ins Phantastische umschlagende Geschichte des elfjährigen Mädchens Laura, das davon betroffen ist, dass das Haus der verstorbenen Großmutter verkauft werden soll. Laura hat eigene Vorstellungen von dem, was sein soll und was nicht, und lehnt sich gegen diesen Plan ihrer Eltern auf, indem sie einen eigenen Plan entwickelt, zu dem sie die Geister, Schlangen und Spinnen inspirieren. Sie beschließt, die Verkaufsverhandlungen selbst und mit Hilfe ihrer Freunde zu führen. Allen Besichtigungswilligen wird ein Geisterschauspiel vorgeführt, sodass schlussendlich keiner das alte schiefe Häuschen haben will. In diese Haupthandlung sind einige Nebenmotive als Realitätsmuster eingeflochten, etwa die Lebensweise japanischer Kinder, die ohne Möbel leben, die Erlebnisse mit einigen schrulligen Verwandten und der Bau eines Hochhauses neben der Schule, mit dem die ökologische Frage gleichsam auf den Höhepunkt getrieben wird. Ein anderer Höhepunkt ist die Erscheinung der Großmutter, die scheinbar nicht in diese an sich realistische Geschichte passt. Reichart spielt auf diese Weise offensichtlich mit den Traditionen der österreichischen Kinderliteratur und fasst in einer scheinbar einfachen Geschichte zusammen, was einen äußerst komplexen Hintergrund aufweist.

© Ernst Seibert (Universität Wien)


ANMERKUNG

(1) E. Seibert: Neue Tendenzen in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur. -In: Gerd Kaminski (Hrsg.): Tigermütze und Fraisenhaube. Kinderwelten in Österreich und in China. (= Berichte des Österreichischen Institutes für China- und Südostasienforschung 48), Wien 2005, S. 253-275. S. a.: Heidi Lexe und Ernst Seibert (Hrsg.): Mira Lobe ... in aller Kinder Welt. (= Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung Bd. 7). Verlag Edition Praesens, Wien 2005.


10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL)

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


For quotation purposes:
Ernst Seibert (Universität Wien): Vom Paradigmenwechsel zur Postmoderne. Beispiele der neueren Kinder- und Jugendliteratur in Österreich. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: ../../../index.htmtrans/16Nr/10_1/seibert16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 27.3.2006     INST