Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven |
Ursula Winter (Technische Universität Berlin)
[BIO]
Im 18. Jahrhundert als einem Zeitalter grundlegender naturwissenschaftlicher Umbrüche lassen sich enge Verflechtungen von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Konzepten nachweisen, ebenso bestehen enge Verbindungen des philosophischen Denkens mit dem literarischem Diskurs. Philosophie und Naturtheorien der Aufklärung erscheinen bei genauerer Analyse weit komplexer als allgemein dargestellt. Die häufig zur Charakterisierung dieser Epoche verwendeten Termini "unhistorisch", "mechanistisch", "deskriptiv" haben nur partielle Geltung für das philosophische Denken vielmehr wird die Vielfalt der Denkansätze der Aufklärung sinnvoller durch den Begriff "Ambivalenzen" umfasst, da das Denken einerseits durch die Hoffnung auf das unbegrenzte Fortschreiten der Vernunft und damit auch von Ethik, Kunst und Wissenschaften geprägt ist, andererseits implizit die Widersprüchlichkeiten, Relativitäten und Grenzen, vor allem im Bereich der experimentellen Naturforschung, kritisch zu hinterfragen sucht. Sowohl die Herrschaftsstruktur der modernen Naturwissenschaften gegenüber ihrem Erkenntnisobjekt "Natur" wie auch die Experimentalstruktur der Naturwissenschaften wurden in Denkansätzen problematisiert. Ein Jahrhundert später proklamiert Claude Bernard, dass mit Hilfe der experimentellen Wissenschaften der Mensch zu einem "Erfinder von Phänomenen" werde, zu einem "wahrhaften Vorarbeiter der Schöpfung". Man könne, so lautet der Konsens in der Epoche der Aufklärung, der Macht, die der Mensch durch die künftigen Fortschritte der experimentellen Wissenschaften über die Natur erringen will, keine Grenzen setzen. Diese Grenzen sollten auch in der Folge nicht im experimentellen Zugang auf die neuentdeckten Dimensionen des Seienden gesetzt werden, weder im Mikrokosmos des Zellkerns noch im Makrokosmos des Universums, dessen Gesetzmäßigkeiten nun dem Menschen zugänglich werden.
Ein hoher Stellenwert ist im philosophischen Denken der Epoche der literarischen Thematisierung der Reise zuzuweisen. Nachdem in der seit dem 17. Jahrhundert dominierenden Descartesschen Philosophie die Sinne als trügerisch für die Erkenntnis abgewertet wurden, dominiert im philosophischen Denken der Aufklärung der Empirismus, eine erkenntnistheoretische Richtung, die gemäß John Lockes Essay concerning human understanding darauf basiert, die Erkenntnis solle allein auf den Sinneswahrnehmungen beruhen, basierend auf dem Leitsatz: "Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensus". Diese Theorie wird von dem französischen sensualistischen Philosophen Condillac in seinem Traité des Sensations bezüglich der Funktion der Sinneswahrnehmungen noch verstärkt. Jede Funktion der Erkenntnis soll nun allein auf den Sinneswahrnehmungen basieren.
Gerade der Begriff Reisen jedoch wird mit einer grundlegenden Erweiterung unserer Sinneswahrnehmungen assoziiert: mit einer Erweiterung der Horizonte durch neue Sinneswahrnehmungen von anderen Kulturen, von Landschaften, Pflanzen, Tieren, Menschen, Lebensformen. Reisen ist "transgredi", ein Überschreiten von Grenzen, geographischen Grenzen, Grenzen des Wissens, Grenzen des Erkennens. Reisen in die neuentdeckten Bereiche des Kosmos erhalten im Kontext der empiristischen und sensualistischen philosophischen Theorien im Jahrhundert der Aufklärung eine zusätzliche Wertigkeit, einen Erkenntniswert.
In diesem Kontext werden Reisen als Transgression, als Überschreiten von Horizonten, nunmehr auch als ein Instrument der Erkenntnis im Hinblick auf wissenschaftliche und philosophische Fragestellungen konzipiert: sie übernehmen im Denken der Aufklärung auch die Funktion der experimentellen Verifikation von Theorien. So werden im literarischen Diskurs, in Diderots Roman Jacques le Fataliste et son maître die philosophischen Auseinandersetzungen der Epoche über Freiheit und Determismus innerhalb einer fiktiven Reise von Herr und Diener gleichsam "experimentell" überprüft. Diderot unternimmt eine literarisch-experimentelle Inszenierung der in der Epoche meistdiskutierten Theorien zur menschlichen Freiheit oder göttlichen Vorherbestimmung und stellt die Frage nach Freiheit oder Determinismus in der Form einer gemeinsamen Reise, in der Herr und Diener über menschliche Freiheit und Determinismus diskutieren, während die konkreten Ereignisse der Reise innerhalb der Romanhandlung beide Theorien, Freiheit und Vorherbestimmtheit, ad absurdum zu führen scheinen.
Neben der literarischen Reiseinszenierung werden auch Reisen in authentischer Form mit Erkenntnis- bzw. Experimentalfunktion von namhaften Wissenschaftlern durchgeführt. So werden zur Verifizierung der Newtonschen Principia als Medium der Erkenntnis experimentelle Reisen zur Prüfung wissenschaftlicher Theorien unternommen, so die Lappland-Reise des späteren Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, des Astronomen Maupertuis, gemeinsam mit den Mathematikern Clairaut, Celsius und anderen, die bei ihrer Rückkehr aus Lappland der Académie des Sciences in Paris die Beweise für die Newtonschen Theorie der Gravitation vorlegen konnten.
Den Hintergrund dieser wissenschaftlich-experimentellen Reiseformen bilden die Theorien von Descartes, Newton und Leibniz, die bezüglich der Begriffe von Raum, Zeit und göttlicher Einwirkung auf die Struktur des Kosmos, bezüglich der Begriffe von Vakuum oder erfülltem Raum, von Kraft und Gravitation teilweise diametral entgegengesetzte Ansichten vertraten.
Eine zweite grundlegende Einflussebene des philosophischen Denkens der Aufklärung bildet die Entwicklung in Astronomie und Physik, der Umsturz der traditionellen Kosmologie durch das kopernikanische Weltbild - "from the closed world to the infinite universe", so die Formulierung Alexandre Koyrés. Durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze gelang es Isaac Newton, die Unendlichkeit des Universums in mathematischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, ein ungeheurer Triumph der menschlichen Erkenntnis, eine Steigerung des menschlichen Selbstbewusstseins und des Vertrauens in die Kraft der Vernunft. Aus der Unendlichkeit des Weltraums werden die Planeten durch das Teleskop an das menschliche Auge "herangerückt", die Planetenbahnen werden der Vorausberechnung durch die menschliche Ratio zugänglich. So wird Newton von Edward Halley in seiner Einleitung zu Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica als der Sterbliche bezeichnet, der den Göttern am nächsten stehe, und von Pope, dem Verfasser des Essay on man, als "Schöpfer des Lichts" dargestellt." Nature and Nature’s laws lay hid in night: God said, let Newton be! and all was light ", "es ward Licht", so lautet der von Pope vorgeschlagene Grabspruch zu Newtons Tod 1737. Noch der Nobelpreisträger Prigogine urteilt 1980 in seinem Dialog mit der Natur, das neuen Wegen naturwissenschaftlichen Denkens gewidmet ist, zu Newtons Kosmologie:
"Es ist kaum übertrieben, wenn man den 28. April 1686, an dem Newton seine Principia der Royal Society in London vorlegte, als einen der größten Tage in der Geschichte der Menschheit bezeichnet."(1)
Die Newtonschen Theorien standen jedoch in Widerspruch zu den in Frankreich bis ca. 1730 allgemein akzeptierten kosmologischen Theorien René Decartes’ und konnten sich erst nach der "experimentellen Verifikation" durch die Lappland-Reise des Astronomen Maupertuis’ wissenschaftlich in Frankreich durchsetzen.
Auch die Denkmodelle des deutschen Philosophen und Wissenschaftlers Leibniz unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten von den Newtonschen Theorien und Axiomen. In dem berühmten Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, in dem Newton selbst für die Clarkeschen Stellungnahmen verantwortlich zeichnete, wird der philosophische und wissenschaftliche Konflikt zwischen Newton und Leibniz artikuliert, in dem grundlegende Theorien zur Struktur des Kosmos, zu den Begriffen von Raum und Zeit und zu dem Konzept der Bewegung divergieren. Die Theorien zu Raum und Zeit, die zwischen Leibniz und Newton strittig sind und den Briefwechsel mit Clarke bestimmen, bilden einen der Schwerpunkte des philosophischen Denkens im 18. Jahrhundert noch bis zur Publikation von Kants Kritik der reinen Vernunft.
Newton geht in seiner Naturphilosophie von der Existenz einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes aus.
"Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegendem,"(2)
Dasselbe gilt auch gemäß Newtons Theorien für den absoluten Raum." Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich."(3) Hiervon unterscheidet Newton die relative Zeit, die "einen beliebigen veränderlichen Ausschnitt" aus der absoluten Zeit darstellt, als ein "beliebiges sinnlich wahrnehmbares und äußerliches Maß der Dauer."(4) Die Eigenschaften der Natur bzw, Körperwelt kennzeichnet Newton folgendermaßen:
"Daher folgern wir, daß alle kleinsten Teile aller Körper ausgedehnt, hart, undurchdringlich, beweglich, und mit Trägheitskräften ausgestattet sind."(5)
Zusätzlich, so Newton, "wird man nach diesem Leitsatz sagen müssen, daß alle Körper wechselseitig gegeneinander gravitieren."
Der Kraftbegriff wird von Newton mit dem Begriff der Trägheit eng verbunden. "Unter der eingepflanzten Kraft verstehe ich allein die Trägheitskraft. Diese ist unveränderlich."(6)
Leibniz hingegen sieht die Kategorien von Raum und Zeit als relativ und als Ordnungsstrukturen an, den Raum als Relationsgefüge der Körper im Raum, die Zeit als Relationsgefüge der Aufeinanderfolge. Während für Newton die Körper durch Trägheit bestimmt sind, ihre "eingepflanzte Kraft" sich im Widerstand gegen Bewegung konstituiert, sieht Leibniz die kleinsten Einheiten des Seienden als mit "lebendiger Kraft" begabt an, als dynamisch-energetische Einheiten, die über ein inhärentes Aktivitäts- und Entwicklungspotential verfügen.
Obwohl ihre Theorien zu Raum und Zeit in evidentem Widerspruch zueinander stehen, sehen sowohl Newton wie auch Leibniz zur Stellung Gottes im Kosmos übereinstimmend Gott als den Schöpfer eines harmonischen bzw. nach Naturgesetzlichkeiten regelmäßig ablaufenden Universums an, das für Newton nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist, für Leibniz als der bestmögliche Entwurf der Welt von Gott ausgewählt und geschaffen wurde. Leibniz legt sein Konzept des Schöpfers der "besten aller möglichen Welten" in der in der Aufklärung europaweit bekannten und kommentierten Théodicée dar, während Newton im dritten Teil seiner Principia unter dem Titel: "Über das Gefüge der Welt" im "Scholium generale" seinen Begriff von Gott erläutert.
"Gott ist ein und derselbe Gott immer und überall. Er ist allgegenwärtig nicht allein kraft seiner Wirkfähigkeit, sondern auch durch seine Substanz, denn Wirkfähigkeit kann ohne Substanz nicht bestehen. In ihm nur wird die ganze Welt zusammengehalten und in ihm wird sie bewegt [...] Wir erkennen ihn einzig und allein durch seine Wesenseigenschaften und Attribute, sowie durch den höchst weisen und guten Plan und die Zweckursachen der Welt, und wir bewundern ihn wegen seiner vollkommenen Lösungen. "(7)
Alle Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, die Bahnen der Planeten und selbst die "sehr exzentrischen" Bahnen der Kometen werden von Gott in dieser Form gelenkt.
"Dieses uns sichtbare, höchst erlesene Gefüge von Sonne, Planeten und Kometen konnte allein durch den Ratschluß und unter der Herrschaft eines intelligenten und mächtigen wahrhaft seienden Wesens entstehen.[...] Er lenkt alles, nicht als Weltseele, sondern als der Herr aller Dinge. "(8)
Zu diesen die Diskussionen der Aufklärungsepoche mitbestimmenden kosmologischen Theorien hat Diderot ein literarisches Gedankenexperiment konstruiert, eine in seine erkenntnistheoretische Schrift Lettre sur les aveugles eingefügten Inszenierung einer Reise in Zeit und Raum im Zusammenhang mit dem Discours des blinden Mathematikers Saunderson. Diese als kosmische Reise strukturierte Szene wurde in einen philosophischen Dialog über den auf Newton, Leibniz und Clarke bezogenen Beweis der Existenz Gottes mittels des "ordre admirable de l’univers" integriert und soll durch die fiktive "Reise in den Kosmos" eine Art experimenteller Verifikation zu den Newtonschen und Leibnizschen Theorien von Raum und Zeit, Schöpfung und Kosmos bilden. Saunderson ist ein in der Epoche bekannter blinder Mathematiker, dessen Berechnungen authentisch in den vorigen Kapiteln der Lettre sur les aveugles wiedergegeben werden. Lediglich das auf Clarke und Leibniz bezogene "Experiment", die Reise durch Zeit und Raum, ist innerhalb der Lettre sur les aveugles fiktiv und setzt sich in literarischer Form, Inhalt und Funktion evident von dem umgebenden literarischen und erkenntnistheoretischen Kontext ab, dessen Schwerpunkt die im 18. Jahrhundert vieldiskutierten Korrespondenzen der Raumwahrnehmungen des Gesichts- und Tastsinnes nach erfolgreichen Blindenoperationen bilden.
Der blinde Mathematiker Saunderson, auf seinem Sterbebett ruhend, diskutiert mit dem Geistlichen Holmes seine Zweifel über die harmonische Struktur des Universums und bezieht hierbei mehrfach Newton, Clarke und Leibniz als fiktive Gesprächspartner in den philosophischen Dialog mit ein. Leibniz, Clarke und Newton werden explizit in die "Raum-Zeit-Reise" in die Unendlichkeiten des Universums einbezogen, sie werden angesprochen und zum Mitreisen aufgefordert, um ihre philosophischen Theorien zu beweisen, sozusagen als prominente "Zeugen" des großen kosmologischen Experiments, welches die Reise darstellt.
Als Einleitung in die philosophische Problematik legt der blinde Saunderson die Hypothese einer Entwicklung des Universums aus dem Chaos dar: "Si je n’ai rien à vous objecter sur la condiiton présente des choses, je puis du moins vous interroger sur leur condition passée."
In die Theorien der Harmonie des Universums werden - als ein Gegenargument - vorab die Begriffe von Zeit und Entwicklung eingeführt, den Begriff der "irreversiblen Zeit". Das Konzept der Genese in der Zeit führt die kosmologische Harmonie ad absurdum, stellt die in der unendlichen Zeit regelmäßig ablaufenden Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, die in Newtons Principia dargestellt wurden, infrage. Diese Infragestellung erfolgt bewusst durch einen Protagonisten, der ein "Blinder" ist, der somit das Licht nicht wahrnehmen kann, während Newton ja mit dem "Licht der Vernunft" assoziiert wurde, denn durch Newtons Existenz, so urteilte Pope, "all was light ".
Die hier in die kosmologischen Gesetzmäßigkeiten eingeführte Kategorie der Zeit korrespondiert mit der dem Gedankenexperiment unterlegten literarischen Struktur der Reise, die ja auch statt abstrakter Argumentationsketten oder mathematisch-zeitindifferenter Beweisführungen grundsätzlich einen zeitlichen Ablauf umfassen muss.
Nunmehr folgt eine an Leibniz, Newton und Clarke gerichtete direkte Fragestellung zu einer möglichen Entwicklung des Universums aus ursprünglich monströsen Formen, die der universellen Harmonie widersprechen würden:
"Qui vous a dit à vous, à Leibniz, à Clarke et à Newton, que dans les premiers instants de la formation des animaux, les uns n’étaient pas sans tête et les autres sans pieds? [..] que les monstres se sont anéantis successivement?"
Als erstes Argument gegen die Theorie eines Universums von universeller Harmonie benennt der Mathematiker Saunderson seine eigene Existenz als Blinder, da er somit ein "monstre," eine Fehlschöpfung der Natur darstelle. Von hier aus schließt er analog auf die Möglichkeit einer Entwicklung des Universums aus dem Chaos, von der Existenz monströser Formen, die gegen die harmonische Struktur des Kosmos sprechen.
Die zweite - grundlegende - Argumentationsebene besteht in der literarischen Inszenierung der Reise durch Zeiten und Räume in die Unendlichkeiten des Universums, zu der nunmehr die streitenden Philosophen, Leibniz, Newton und Clarke persönlich geladen werden, um experimentell "vor Ort", d.h. angesichts der Weiten des Weltalls dort selbst befindlich, ihre kosmologischen Systeme und ihre Theorien zu Raum und Zeit zu überprüfen.
"O Philosophes, transportez-vous donc avec moi, sur les confins de cet univers, au-delà du point où je touche et où vous voyez des êtres organisés."(9)
Die Philosophen verlassen auf ihrer kosmischen Reise die vertrauten Ebenen der von Lebewesen bewohnten Welt.
"Promenez-vous surce nouvel océan, et cherchez à travers ses agitations irrégulières quelques vestiges de cet être intelligent dont vous admirez ici la sagesse. "(10)
Die von Saunderson benannten "agitations irrégulières" im Universum, die anlässlich der kosmischen Reise sichtbar werden, richten sich gegen die für Newtons Denken grundlegende universelle Geltung der mathematischen Gesetzmäßigkeiten, mit denen er selbst die irregulär scheinenden Bahnen der Kometen als regelmäßige nachweisen konnte.
Die Weiten des Kosmos in der experimentellen Zeitreise nunmehr als "nouvel océan", als einen neuen Ozean zu benennen, den man "befährt", um neue Dimensionen des Kosmos zu entdecken, verweist evident auf die Entdeckungsreisen in die sogenannte "Neue Welt", die ja durch Schiffe über die Weiten des Ozean unternommen wurden, und die hier in Analogie zu den fiktiven Entdeckungsreisen in die neuen Dimensionen des Universums gesetzt werden.
Leibniz, Clarke und Newton werden in einem ersten Teil ihrer fiktiven Reise in einer Zeitreise, die die Totalität der Zeit umfassen soll, vom Chaos bis zur Entstehung des Universums in seinem Jetzt-Zustand geführt. Im zweiten Teil des Gedankenexperiments einer kosmischen Reise bewegen sich die drei Philosophen in unveränderter Zeitdimension in einer Reise durch den Raum, durch die Unendlichkeiten: Sie reisen durch die Zeit und bis an die Grenzen des Raumes, "sur les confins de cet univers", um den Gott Clarkes, Newtons und Leibniz’ im Universum dort zu erkennen. Der Newtonsche Gottesbegriff des allgegenwärtigen Weltlenkers wie auch Leibniz’ Theorien einer harmonischen Struktur des Universums werden in Form einer literarischen Inszenierung infragegestellt. In den Unendlichkeiten des Raumes befinden sich die drei Philosophen fern der ihnen bekannten Welt der geordneten, mathematisch berechenbaren Strukturen:
"Combien de mondes estropiés, manqués, se sont disipés, se reforment, et se dissipent peut-être à chaque instant dans des espaces éloignés, où je ne touche point? "
Mit der Zeitreise durch die Unendlichkeit des Universums entfernen sich Newton, Leibniz und Clarke nicht nur aus den Bereichen der "êtres organisés", sondern sie verlassen auch den Bereich der ihnen vertrauten Kategorien der "Vernunft".
"A quoi bon vous tirer de votre élément? ", fragt Saunderson. Warum soll er die Philosophen aus dem vertrauten sicheren Element des rationalen, auf mathematischen Kategorien beruhenden Denkens in ein unstrukturiertes Chaos versetzen, in dem jede Symmetrie, auf denen die philosophischen Konzepte des Universums beruhen, nur als eine vorübergehende anzusehen ist, jeder Zustand in ständiger nicht vorhersehbarer Veränderung begriffen ist? In der Zeitdimension ergeben sich grundlegend veränderte Strukturen: "une symétrie passagère, un ordre momentané."(11) Die von Newton entdeckten berechenbaren Ordnungsstrukturen im Weltraum, die in seinem Denken die Weisheit des Schöpfers belegen, werden mittels der Reise in die Unendlichkeiten von Zeit und Raum infragegestellt.
Auch der Zeitbegriff muss bei der kosmischen Reise umstrukturiert werden: Selbst die Ewigkeit des Universums unterliegt der kritischen Fragestellung: "Le monde est éternel pour vous, comme vous êtes éternel pour l’être qui ne vit qu’un instant." Die traditionellen Kategorien von Zeit und Raum beruhen auf unseren unvollkommenen Vernunftschlüssen, die in den Unendlichkeiten von Raum und Zeit im Universum keine Gültigkeit mehr haben.
"Cependant nous passerons tous, sans qu’on puisse assigner ni l’étendue réelle que nous occupions, ni le temps précis que nous aurons duré. Le temps, la matière, l’espace ne sont peut-être qu’un point."(12)
Diderot zieht zwar am Schluss dieser experimentellen philosophischen Reise durch den Kosmos den Schluss, nur ein Blinder könne diese Relativierungen vorschlagen, denn jeder Sehende würde durch die universelle harmonische und geordnete Struktur des Universums von der Weisheit eines Schöpfergottes überzeugt.
"Quelle honte pour des gens qui n’ont pas de meilleures raisons que lui, qui voient, et à qui le spectacle étonnant de la nature annonce, depuis le lever du soleil jusqu’au coucher des moindres étoiles, l’existence et la gloire de son auteur! Ils ont des yeux dont Saunderson était privé."(13)
Der Zweifel jedoch wurde ausgesprochen, die Kategorien von Raum, Zeit und harmonischer gesetzmäßiger Struktur des Universums gleichsam als "signum" des Schöpfergottes wurden im literarischen Diskurs in der experimentellen Reise durch Raum und Zeit grundlegend erschüttert.
Nahezu zeitgleich vermitteln literarische und philosophische Diskurse von Rousseau und Kant beim "Durchschreiten des Weltraumes" ein ungebrochenes Vertrauen in die Harmonie der Strukturen des Universums und das Vertrauen auf die Kraft der menschlichen Ratio, die auch die Gesetzmäßigkeiten des Universums zu berechnen und erfassen vermag.
In seinem Discours sur les Sciences et sur les Arts spricht Rousseau 1750, ein Jahr nach der Publikation von Diderots Lettres sur les Aveugles, in einer Form von "Kurzreise" durch das Universum voller Stolz die Fähigkeit des Menschen an, er könne, der Sonne gleich "parcourir, à pas de géant, ainsi que le soleil, la vaste étendue de l’univers." (14) Der Mensch könne mit den Schritten eines Giganten nunmehr den Weltraum durchmessen. "parcourir" beinhaltet die Fähigkeit, die gesamte zugängliche Weite zu durchschreiten. Auch dem Rousseauschen Discours liegt das Konzept zugrunde, dem Menschen sei nunmehr die Unendlichkeit des Weltraums zugänglich geworden, jedoch wird in Rousseaus Denken die - bei einem Durchschreiten oder Durchqueren des Weltraumes zu erwartende harmonisch-geordnete Struktur in keiner Weise in Zweifel gezogen.
Auch die von Immanuel Kants 1755 publizierte Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, beruht auf den neuen philosophischen Theorien und den astronomischen Entdeckungen und Berechnungen.
Kants Ausgangspunkt ist "die Überzeugung, die ich von der Unfehlbarkeit göttlicher Wahrheit habe "(15): Gleichgültig, wie die Entdeckungen im Weltraum aufallen mögen, werden sie, so Kant, die Weisheit des Schöpfers belegen. Auch er geht von einer - gedanklichen - Reise in den Weltraum und den darin befindlichen "Welten und Systemen" aus:
"Wenn wir denn diesen Phönix der Natur, der sich nur darum verbrennet, um aus seiner Asche wiederum verjüngt aufzuleben, durch alle Unendlichkeiten der Zeiten und Räume hindurch folgen; [...] so versenket sich der Geist, der dies alles überdenket, in ein tiefes Erstaunen "(16)
Kants "Reise" durch den Weltraum führt ihn jedoch stets zu neuen Belegen für die Weisheit des Schöpfers.
"Diesem zu Folge, ob wir gleich von dem Orte unseres Aufenthalts in dem Universo eine Aufsicht in eine, wie es scheinet, völlig vollendete Welt und, so zu reden, in ein unendliches Heer von Weltordnungen, die systematisch verbunden sind, haben: so befinden wir uns doch eigentlich nur in einer Nahheit zum Mittelpunkte der ganzen Natur, wo diese [...] ihre gehörige Vollkommenheit erlangt hat. Wenn wir eine gewisse Sphäre überschreiten könnten: würden wir daselbst das Chaos und die Zerstreuung der Elemente erblicken,die nach dem Maße, als sie sich dem Mittelpunkte näher befinden, den rohen Zustand zum Teil verlassen, und der Vollkommenheit der Ausübung näher sind, mit den Graden der Entfernung aber sich nach und nach in einer völligen Zerstreuung verlieren. Wer würde sehen, wie der unendliche Raum der göttlichen Gegenwart [...] dereinst noch solle belebet werden? "(17)
Kant Reise in das Universum, nahe dessen Mittelpunkt, führt ihn, ausgehend von dem Newtonschen Denkmodell, durch "die grenzenlose Weite der unendlichen Räume, mit Welten ohne Zahl und ohne Ende".(18) Kants Allgemeine Naturgeschichte belegt ebenso wie Diderots Lettre sur les aveugles und Rousseaus Auszug aus dem Discours sur les sciences et les arts erneut die enge Vernetzung von literarischem Diskurs mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Problemstellungen und Entdeckungen im Zeitalter der Aufklärung.
Die Funktion der Reisen als "Transgressio", als Überschreiten der Horizonte und als Wahrnehmungen des Neuen, Unbekannten, steht hier in engem Kontext zu den im Bereich der Wissenschaft und Philosophie entdeckten neuen Dimensionen der Unendlichkeit, die mittels der fiktiven "Reise" der sinnlichen Erfahrung zugänglich werden sollen.
© Ursula Winter (Technische Universität Berlin)
ANMERKUNGEN
(1) Ilya Prigogine u. Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München-Zürich, 4.Aufl. 1983, s.1.
(2) Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, hg. Ed Dellian, Hamburg, Meiner, 1988,
S. 44.
(3) Newton, Grundlagen, S. 44.
(4) Newton, S. 44.
(5) Newton, S. 170.
(6) Newton, S. 171.
(7) Newton, S. 228 f.
(8) Newton, S. 226.
(9) Diderot, Lettre sur les aveugles, in: Oeuvres, hg. Laurent Versini, Paris 1994, Bd. I: "Philosophie", S. 169 (Hervorhebg. U.W.).
(10) Diderot, S. 169.
(11) Ebda, S. 169.
(12) Diderot, S.169.
(13) Ebda, S. 170.
(14) Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, Paris 1971, S.27.
(15) Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dm mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in: Vorkritische Schriften, hg. Wilhelm Weischedel, Frrankfurt a.M. 7.Aufl. 1996. S. 228.
(16) Kant, S. 343.(Hervorhebg. U.W.).
(17) Kant, S. 334.(Hervorhebg. U.W.).
(18) Kant, S. 335.
12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven
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