Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

14.6. Die Rolle von Wissenschaft und Forschung bei der Herausbildung eines neuen Selbstbewußtseins in den jungen Demokratien in Europa
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Penka Angelova (Rousse/Rustschuk)

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Identitäten in Bulgarien zwischen Fremd- und Selbstbestimmung - Identitätsdiskurse

Penka Angelova (Universitäten Rousse und Veliko Tirnovo)
[BIO]

 

In seiner Erzählung "Wechselbäder" berichtet Dimitre Dinev von den Zeiten des Wechsels in einem Land, das zufällig Bulgarien ist, das aber auch ein beliebiges exsozialistisches Land hätte sein können:

Die Zeiten waren wechselhaft. Man wechselte Fahnen, Wappen und Uniformen. Man wechselte die Namen der Städte, Straßen, Schulen und Sportplätze, der Parks, Krankenhäuser und Fabriken, und wenn man keinen geeigneten Namen für die Fabriken fand, schloß man sie wieder ...(1)

Die zwei Hauptgestalten, ein Bulgare und ein bulgarischer Türke, wechseln abermals ihre Identitäten, der eine sogar sein Geschlecht im Namen des Gewinns und des Schwarzmarkts, werden von der Mafia erwischt und enden auf unterschiedliche Weise, der eine wird ermordet, der andere im Irrenhaus bei den Wechselbädern. Der Weg zu den Wechselbädern führt über Wien.

Der Weg der Bulgaren nach "Europa", nach jenem imaginären Gebilde, das in den Jahrhunderten auch sein Image geändert hat, führte hauptsächlich über Wien. Von seiner Heimatstadt, Rousse (Rustschuk), schreibt Canetti über den Anfang des 20. Jahrhunderts:

Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte." (2)

Und wenn jetzt manche politisch agierenden Personen oder Reiseleiter mit der Stadt Staat machen wollen, sagen sie im gleichen Imagologiestrang, es sei das Tor zu Europa, es sei die europäischste Stadt in Bulgarien etc. Ich persönlich habe mehrere Tore zu Europa erlebt, einschließlich Edirne in der Türkei.

Seit über einem Jahrhundert, seit der Gründung des dritten bulgarischen Staates ist Bulgarien in einem Wandel begriffen, Übergänge zur eigenen Staatlichkeit an der Jahrhundertwende, zum Kapitalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum Sozialismus in der zweiten Hälfte, zur Demokratie an der Jahrtausendwende. Diese Übergänge gelten als politische Programme, auf deren Hintergrund eine Gesellschaft mit ihren menschlichen Figurationen (Norbert Elias) einen vielfach strukturierten Wandel erlebt, in dem etwa 6 Identitätsdiskurse des Übergangs agieren, dessen Ansätze schon im Osmanischen Reich angelegt waren, die aber in diesem ein und einviertel Jahrhundert sich mit historisch gesehen "rasender Geschwindigkeit" abgewickelt haben und sich immer noch abwickeln.

  1. Der Diskurs der Gegenüberstellung von Balkan- bzw. bulgarischer Identität und europäischer Identität

  2. Der Übergang von der patriarchalen, patrilinearen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie und die darauf, nicht daraus, folgende Emanzi­pation der Frau.

  3. Der Übergang von einer agrarischen Bauern-Gesellschaft zu einer vorwiegend städtischen Gesellschaft und die Herausforderungen der Civil Society.

  4. Diese Übergänge spielen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer Identitätsdiskurse

  5. und die damit verbundenen religiösen Identitätsdiskurse

  6. Der sechste und verdecktere Identitätsdiskurs ist der des Übergangs von der s.g. sozialistischen Kultur zu einer bürgergesellschaftlichen demokrati­schen Kultur, der in den vorherigen Diskurse aufgeht.

Diese Diskurse ergeben die Basis für eventuelle Bruchlinien (cleavages)(3) und sie werden es auch in einzelnen Fällen (z.B. Stadt v/s Land, Kommunismus v/s Antikommunismus), je nachdem, wie bewusst sie von den Bürgern erlebt werden (dass sie zu politischen Bruchlinien werden, hängt dann von den Strategien der Parteien ab, inwiefern sie diese Nischen benutzen können und wollen).

 

Zu 1: Wie das Maria Todorova schon dargestellt hat und wie wir das in unserem Konferenzband(4) von 1998 auch gezeigt haben, ist Bulgarien vielleicht das einzige Land im südöstlichen Europa, das sich mit der Bezeichnung Balkan identifiziert. Im Sinne der von Canetti in Masse und Macht anvisierten "Massensymbole der Nationen"(5), die in Sage und Lied, im Märchen und in mündlicher Überlieferung identitätsstiftend sind, kann der Balkan in seiner doppelten Bedeutung als DAS Balkan-Gebirge und als Gebirge schlechthin als ein Massensymbol der Bulgaren betrachtet werden, mit dem man sich zum großen Teil identifiziert, der eine bergende und verbergende Macht auszuüben vermag. Von da aus gehen Sagen und Gerüchte über "balkandjii", also in den Bergen lebende Menschen, die besonders mutig, heldenhaft, freiheitsliebend, kämpferisch, mit einem Wort - stur sind.

Im Zusammenspiel von Außen- und Innensicht wird der Balkan von den Histori­kern entweder als "Pulverfass" oder als "Retter" von der osmanischen Invasion, dem Dank gebührt, oder als "Opfer" der Politik der Großmächte(6) betrachtet. Dies führte zu der Einsicht, dass die "Begriffe und Termini, die Prozesse und Theorien über die Entwicklung der europäischen Gesellschaften" bei der Analyse von Geschichte, Kultur und Lebensart auf dem Balkan "nicht immer anzuwenden" sind, dass "die Balkanistik einen spezifischen und wichtigen Platz in der Europäistik" einzunehmen hätte und eine neue "Forschungs-Methode in Zusammenarbeit mit Forschern aus den Balkanländern" anzuwenden sei(7).

Genauso uneindeutig ist das Bild von Europa, das ursprünglich die Züge der Bildung, des Fortschritts, der Einfuhr von revolutionären Ideen durch im Ausland studierende Söhne wohlhabender Eltern im 19 Jahrhundert hatte, das aber zu Zeiten des realen Sozialismus die Züge des Wohlstand bekam. Europa als Image und als Utopie, als Entwurf und als Wunschdenken wird jetzt hüben wie drüben in vielerlei Munde geführt, und es führt von der Behauptung eines Politikers, der auf die Frage, wodurch er sich als Europäer fühlt, geantwortet habe, durch seinen europäischen Pass, bis zu der Ausbildung einer neuen Fachrichtung, der Europäistik (European Studies) und dem Vorschlag einer neuen historischen europäistischen Sparte, die die europäische Geschichte als Ganzes und nicht als Summe der nationalen Geschichten betrachten soll(8). Zum Wunschdenken gehört auch die Herausbildung eines neuen Verfassungspatrio­tismus (Habermas), der die unterschiedlichen kulturellen Muster der einzelnen Kulturen verbinden soll. Über die Notwendigkeit und die Parameter einer europäischen Identität mit der Kenntnis der positiven und negativen Traditionen unterrichte ich in meiner Vorlesungsreihe über Europäische Zivilisation. Solche Stimmen lassen sich auch im Westen hören, etwa bei Iso Camartin, der die europäische Identität mit dem Bild eines Fleckerlteppichs vergleicht, der an jedem Ort unterschiedlich ist, und wo jeder Ort durch seine historische Ladung, durch seine museale Attitüde ein Topos der Identität und der Tradition ist, ein Lokus iste, ("das ist der Ort"), ein Ansatz zur Himmelsleiter (der Vergleich führt auf den Traum von Jakob und die Jakobsleiter zurück). Aber auch ein Tor zur Höllenleiter! Das Bewusstsein dessen, dass auf diesem alten Kontinent jeder Ort mit vielschichtiger Geschichte beladen ist und die vielen Geschichten sich in ihm wie auf einem Palimpsest aufschichten, dass gute und böse Zeiten ihre Spuren darauf hinterlassen und diese Spuren gelesen und nicht vergessen werden dürfen, soll immer wieder wachgerufen werden.

Die gewöhnliche Haltung der Bulgaren(9) in diesem angeblichen Identitätsspagat ist die des double-bind-Verhältnisses zur eigenen Identität: nach Innen schimpft man über die bulgarischen Zuständigkeiten - ein gewöhnlicher alltäglicher Ausdruck ist "bylgarska rabota"/bulgarisches Erzeugnis, Ware, aber auch Angelegenheit für etwas nicht Ggelungenes oder schlecht Gemachtes -; nach außen ist es ein übertriebener nationaler Stolz auf das Bulgarentum: es werden oft internationale Intelligenztests zitiert, an denen Bulgaren die zweite oder dritte Stelle belegt hätten, es werden solche Tests im Fernsehen durchgeführt und ernst genommen, wir bekommen die Information, bei welchen internationalen Wettbewerben BulgarInnen sich hervorragend bestätigt haben; es wurde zu einem Medienproblem, ob in die neuen Literaturlehrbüchern das traditionelle Gedicht "Ich bin ein Bulgare" aufgenommen wird, und es hatte den Anschein, dass das nationale Selbstbewusstsein unserer Kinder an der Dekanonisierung dieses Gedichtes scheitern würde.

Das nationale Selbstbewusstsein wird vor allem durch die Geschichts- und die Literaturlehrbücher herausgebildet, und eine Untersuchung des Bild des Anderen in den Geschichtslehrbüchern auf dem Balkan(10) zeigt wie sehr die Geschichts­schreibung in den Balkanländern politisch und nicht sozialhistorisch orientiert ist, wie sehr ein doppelter Standard an die historischen Ereignisse angelegt wird, wie sehr das Bild des Anderen ein Feindbild darstellt und das nationale Selbstbild als Opfer, Retter der (evtl. christlichen) Zivilisation und friedliebendes Objekt nach­barlicher Kriegsgelüste hingestellt wird, manchmal auch alles in einem. Die Ge­schichtslehrbücher sind so geschrieben, dass man den Eindruck bekommen könnte, dass Kriege die einzige Kommunikation unter den Völkern gewesen sind.

Als nationaler Staat, in dem die eine Ethnie sich als die führende Mehrheit versteht, werden die anderen Minderheiten nur toleriert. Die wichtigsten identi­tätsstiftenden Faktoren in Bulgarien sind die Schule vor allem mit dem Ge­schichts- und Literaturunterricht und die familiäre Tradition. Zumal aber die Eltern mit ihrer Arbeitsbelastung zu wenig Zeit für die Kindererziehung haben, wird diese Aufgabe den Großeltern und der Schule überlassen. Und da ist es an der Zeit, dass die alten Kanons durchbrochen werden und die orthodox beeinflusste autoritäre Bildung modernisiert wird. Das lässt aber noch auf sich warten.

 

Zu 2: Und da sind wir schon beim nächsten Punkt: die Modernisierung der Fami­lie ist wie üblich mit der Arbeitsteilung und der Industrialisierung verbunden. Der patriarchale Staat ist von dem kommunistischen "Väterchen Staat" abgelöst wor­den, der die patriarchalen Funktionen des Familienvaters übernommen hat und Bürger und Bürgerinnen, die eigentlich keine Bürger, sondern Genossen zu sein hatten, bevormundete(11).

Die Rolle des kommunistischen Staates und des Systems war in Bezug auf die Frauenidentitätsbildung eine doppeldeutige und janusköpfige: einerseits kann nicht bestritten werden, dass während des kommunistischen Regimes zwei Ge­nerationen von Frauen ihre Ausbildung bekommen haben und auf den Arbeits­markt gegangen sind, andererseits haben sich diese emanzipatorischen Akte auf dem Hintergrund einer Pseudoemanzipation abgespielt, in der die patriarchale Funktion vom Staat und von einem System der Planwirtschaft und der kommuni­stischen kollektivistischen Ideologie übernommen wurde.(12) Die kommunistische Pseudoemanzipation bedeutete Gleichberechtigung der Frau in allen als männ­lich verstandenen Bereichen, nicht aber gleiche Berechtigung des Mannes für die als weiblich geltenden Sphären des Alltags, was zu einer Doppel- und Dreifach­belastung der Frau und zu einer Abneigung gegen diese falsch verstandene Emanzipation führte. Andererseits gehörte es zum kommunistischen Projekt, dass alle beschäftigt werden und dass die kindererziehenden Funktionen vom Staat übernommen werden. Einen interessanten Vergleich zwischen dem kommunistischen und dem parlamentarischen Patriarchat macht Susan Gal, indem sie beobachtet, dass der kommunistische Staat die "väterliche Rolle" der Männer vereinnahmt habe, indem er direkte Hilfen für die Aufziehung und die Sozialisierung der Kinder gegeben und sogar gewisse familiäre Funktionen über­nommen habe, der parlamentarische dagegen die Macht über die Frau an die individuellen Männer im Rahmen der Familie delegiert(13). Wir haben hier nicht die Möglichkeit, im einzelnen darauf einzugehen, welche Unterschiede es innerhalb der realsozialistischen Kultur in Abhängigkeit von den Gegebenheiten der vorher existierenden patriarchalen und religiösen Systeme zwischen den pseudoeman­zipatorischen Bedingungen der Frauen gegeben hat. Ausschlaggebend ist in die­sem Zusammenhang das erhöhte Selbstbewusstsein, die Selbstsicherheit und Fremdidentifikation der Frau. Dass nach der ausgebrochenen Demokratie und des Parlamentarstaates die patriarchale Macht wieder in die private Sphäre ver­drängt wurde ist evident. Die sexistischen Losungsworte der angeblichen Revo­lutionen haben es deutlich gezeigt(14).

In den Geschichtsbüchern und der Literatur ist das Bild der Frau jedenfalls das vorwiegend patriarchale geblieben. Der Anteil der Frauen im Parlament ist klei­ner als zu kommunistischen Zeiten - wobei vermerkt gehört, dass das sogenann­te Parlament damals keine parlamentarische Funktionen im wörtlichen Sinne hat­te, die Arbeitslosigkeit unter Frauen ist größer, der Sexismus floriert in den Fern­sehsendungen. Und in den Geschichtsbüchern. In der immer noch politisch und staatlich orientierten Geschichtsschreibung wird die Frau als "der Andere", als ein fundamental vom Mann unterschiedliches Naturwesen, das unveränderlich ist und zur Fortpflanzung, zur Erziehung der Kinder und zur Arbeit im Haus und auf dem Felde sein Leben fristet(15), sich um die kleinen Dinge des Alltags kümmert und von Aktivitäten in der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen wird. Auch in den neueren Geschichtsbüchern bleiben die Frauen jene, die nach Lucien Fevr "kein Recht auf Geschichte haben". Sie werden entweder als die Masse der Bulgarin­nen beschrieben und mit den Attributen der Schönheit behängt oder als doppelte Fremdheit, als die listigen intriganten fremdländischen Königinnen, die ihre Männer verraten und dem Staat geschadet haben - Cherge le fame. Als Leserin der Geschichtsbücher findet man kein Identifikationsbeispiel in der Geschichte(16). Die Frauen präsentieren sich in diesen Lehrbüchern als Gattinnen, Töchter, Enkelinnen der machthabenden Männer, oder als die ethnische Andersheit, wobei sie auch so bezeichnet werden "die Jüdin Sara, die Ungarin Anna, die byzantische Prinzessin Maria" u.s.w. wobei eine jede Ethnie mit charakteri­stischen Züge behangen wird. Die Attribute des Mannes gelten als universal, die Beschreibungen der "Bulgarinnen" in den Geschichtsbüchern gehen auf ihre Schönheit oder ihre List ein. Über die Frauen schweigt die Geschichte, weil sie die Historiker nicht sprechen lassen(17). Die Narrativik der Geschichtsbücher erzeugt die Spannung, dass wenn eine Frau als königliche Gattin vorkommt, schon schlimmes zu erwarten ist.

 

Zu 3: Auch der Übergang von einer Bauerngesellaschft zu einer städtisch geprägten Gesellschaft, der zwangsläufig in dieser Region auch über die "Rurbanisierung" geht erfolgte massenhaft während des kommunistischen Regimes - eine städtische bürgerliche Identität hatte sich vor und um die Jahrhundertwende in Rousse und Plovdiv, dann am Anfang des Jahrhunderts in Sofia, Varna, Burgas schon geprägt, nun ging der Kommunismus mit seinem Industrialisierungsprogramm und der Bodenreform (Enteignung des Landeigen­tums), später mit der Zusammenführung der LPGs zu APKs (Agrarkombinate, die mehrere dörfliche LPGs verbanden) vehement an eine Verstädterung des Landes. Größere Dörfer wurden zu Städten zusammengeführt oder einfach "umbenannt", meistens ohne dass die Lebensweise der Menschen sich verändert hätte. Andererseits wuchs die Migration in die Städte enorm, ohne dass ein traditionelles "Arbeiterbewusstsein" entstanden ist, wie es sich in Mittel- und Westeuropa im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Denn im Sozialismus (bzw. kommunistischen System) waren alle Arbeiter, auch die "wissenschaftlichen Arbeiter". Auch das städtische Bild hatte sich in kleineren Städten verändert. Anstelle der alten Blumenanlagen treten Gärten hauseigener Produktion von Tomaten, Gurken und Paprikaschoten auf. Die "neuen Bürger" züchteten weiter ihre Tiere für den Haushalt im städtischen Hof, die kleinen Blumenanlagen vor den städtischen Häusern wurden durch Gemüseanlagen ersetzt und zwar nicht wegen Mangel an landwirtschaftlicher Produktion, sondern wegen der Vorliebe an hauseigener Produktion. Obwohl die Konservenkombina­te den Plan für Im- und Export ständig erfüllten und übererfüllten, wurden in den Städten - meistens im Hinterhof oder auf dem Balkon die s.g. "Büchseniaden" zelebriert: hauseigene Konservenproduktion in Gläsern. Dieses "Hamstern" für den Winter hätte den Eindruck erwecken können, dass im Winter die Lebens­mittelgeschäfte überhaupt nicht auf haben. Aber das war wieder die vom Lande mitgebrachte Vorliebe an der hauseigenen Produktion.

Die traditionelle Identitätsprägung, die durch Literatur und Förderung von Tradi­tionen gewährleistet wird, war und ist immer noch auf die "ländliche Tradition", die "angeborenen" Werte und Inhalte fixiert und beruft sich auf die "ländlichen Wurzeln". Selbst Feiertage einzelner Städte werden mit Reigen und Volksmusik eröffnet, die alten städtischen Lieder hört man nur in gesonderten Sendungen, der Ursprung vom Lande soll nach dieser Ideologie durch Literatur und Tradition gefestigt werden, was für die städtische Identität nicht förderlich ist.(18)

Die bulgarische Literatur ist auch zum großen Teil agrarbestimmt, auch in gegen­wärtigen Romanen spielt sich die Handlung "auf dem Anger und dem Acker" ab. In der Literatur geistert immer noch das Gespenst des expressionistisch gefärbten Stadtbildes - die Großstadt als Bedrohung.

Diese Identifikation mit dem Ländlichen ist keine bulgarische Ausnahme, sie ist eher für die traditionell agrarischen Gesellschaften auf dem Balkan charakteri­stisch. Auch bei rumänischen Studierenden, die seit Generationen aus Bukarest kommen und an rumänischen Feiertagen, wo die ländliche Tracht und die ländlichen Tänze eine Rolle spielen) habe ich diese Orientierung auf die ländli­chen "Wurzeln", auf den "Ursprung vom Lande" beobachtet. Dabei ist zu vermer­ken, dass die Tracht auf dem Balkan nicht mit der traditionellen Tracht in Öster­reich oder Bayern gleichzusetzen ist, die auf die Tracht der Landesherren zurückgreift, sondern auf die ländliche Tradition, auf den Reigen auf dem Anger zurückgreift.

 

Zu 4: Diese Übergänge ereignen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer Identitätsdiskurse, die sich auch im Spannungsfeld von Fern- und Selbstidentifizierung abspielen.

Für die Fernbestimmung sorgen wiederum Historiker und Literaturhistoriker. Der "geschichtswissenschaftliche Beitrag" für die zwanghafte Umbenennung der "bulgarischen Türken", der bulgarischen Bürger türkischen Ursprungs, bestand in der Beweisführung, dass es Bulgaren "mit verdunkeltem Selbstbewusstsein" seien - angeblich während der osmanischen Herrschaft zwangsmoslemisierte Bulgaren. Und über den Ursprung der Pomaken streiten bulgarische und türki­sche Historiker, wobei die Pomaken auch ihren Anspruch auf Ethnie erheben.(19)

Des weiteren gehe ich nur stichpunktartig auf einige Aspekte der Auffächerung und Bewältigung dieses Diskurses, die in einer längeren Abhandlung aufgearbei­tet werden sollen:

 

Zu 5: Eng damit verbunden sind auch religiöse Identitätsdiskurse, die sich im "Nahkampf" mehrerer Ideologien, Kirchen und Sekten abspielen und als Kon­strukte erweisen. Als erstes muss vermerkt werden, dass die traditionelle Glaubensvielfalt auf dem Balkan vom Islam über die jüdische und die führen­den christlichen Religionen ihre reichhaltige Skala in einem jeden der Länder aufweist. In den neuen Demokratien, in denen die Religion auf unterschied­liche Weise und in unterschiedlichem Maße unterdrückt wurde, hat das Euro­pa der Religionen und Sekten gleich nach der Wende in die "neuentdeckten" Regionen des Ostens und Südostens Einzug gehalten. Die orthodoxen Kir­chen andererseits erheben in den meisten Ländern ihren cäsaropapistischen Anspruch auf staatliche Anbindung und mit den neugegründeten und sich selbstbestimmten Staaten entstehen auch neue orthodoxe Kirchen, die die Einheit von Staat, Nation (in manchen Fällen auch Ethnie) und Glauben demonstrieren wollen. Bulgarien ist bietet in diesem Fall eine eigenartige Ausnahme, bei der zwei orthodoxe Kirchen gegenseitig um die Legitimität streiten und dadurch ihre Wirksamkeit in der Öffentlichkeit eingebüßt haben.

Zu untersuchende Schwerpunkte in diesem Bereich sind:

  1. Eine kritische Hinterfragung der traditionellen Anbindung zwischen nationalen, ethnischen, panslavistischen(22) und religiösen Identitäten auf dem Balkan.

  2. Eine kritische Hinterfragung des traditionellen orthodox-autoritären Denkens, das bis in die Pädagogik reicht und der damit verbundene späte Einzug von aufklärerischen Techniken und Methoden in der gesamten orthodoxen Welt.

  3. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten der Religion, die freigewordene und noch nicht besetzte Stelle (Nische) der Werte und der Ethik in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen auszufüllen.

  4. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten eines gerade durch die verspätete Aufklärung immer noch präsenten mystischen, kontemplativen Denkens, das die Pole des rational Erfassbaren mit dem emotional Erfühlbaren im Ethischen zueinander biegen könnte. Das Aufspüren von Spuren mythischen Denkensa, wie es in mehreren postaufklärerischen Versuchen zu finden ist. Ein solcher Ansatz ist jedoch nur auf dem Hintergrund des von der Aufklärung erbrachten Bestandes an Gedankengut und Traditionen möglich. Das heißt, eine Erprobung sowohl der Gefahren als auch der Chancen der Orthodoxie als öffentliche Religion.

 

Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass eine solche Untersuchung der Identitätsdiskurse sich auf das Verbindende der Kulturen auf dem Balkan und in Europa und auf die Vielfalt von Identitätskonstruktionen orientieren soll. In dem Zusammenhang spricht der rumänische Forscher Sorin Antohi von "Netzidentitäten"(23). Im normalen Fall konstituiert sich die Identität durch das Zusammenspiel der verschiedenen Identitätsbildungen als Interaktionsidentität von Natürlicher Identität, Sozialer Identität zu einer Ich-Identität(24). Die persönlichen Identitäten auf dem Balkan werden schon in diesem Zusammenspiel von regionalen und überregionalen Identitäten im Spannungsfeld der hier beschriebenen fünf Diskurse und dem in und hinter ihnen präsenten sechsten Diskurs des Übergangs von realsozialistischer zu neudemokratischer Kultur als ein Bündel von Identitätsbildungen und -fixierungen auf verschiedene Rollenspiele und Gruppen hin erlebt auf dem Hintergrund und im Zusammenspiel mit den Identitätsangeboten der sich verändernden Gesellschaft und der einzelnen menschlichen Figurationen einer im Werden begriffenen Bürgergesellschaft.

© Penka Angelova (Universitäten Rousse und Veliko Tirnovo)


ANMERKUNGEN

(1) Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf. Deuticke. 2005 S.5.

(2) Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Hanser Verlag S. 11.

(3) Vgl. auch die hier veröffentlichten Untersuchung von Christian Autengruber: Die politischen Parteien in Bulgarien. Eine Entwicklungsanalyse seit Beginn der 90er Jahre.

(4) Angelova, Penka/Veichtlbauer, Judith: Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität . Schriftenreihe der Elias Canetti Gesellschaft, Bd. 3 , R ö hrig Universit ä tsverlag 2001.

(5) Kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden, bezeichne ich als Massensymbole. Canetti, Masse und Macht. S. 87

(6) Für diese "Opfertheorie" vgl. Radoslav Misev, Stefan Ancev, Andrej Andreev in Pulverfass Balkan Mythos oder Realität, aber auch Geschichtslehrbücher, etwa auch rumänische (vgl. Das Bild des "Anderen" in den Geschichtslehrbüchern der Balkanländer. Stiftung "Balkancolleges", Sofia 1998. bulg. Die Beiträge sind von Georgi Kasakov, Martin Kanuschev/Milena Jakimova/Nina Nikolova/Svetlana Sybeva, Aleksej Kaljonski, Vasko Arnaudov, Jordanka Bibina, Sonja Velkova, Darina Mladenova).

(7) Valentin Spiridonov, Pulverfass Balkan Mythos oder Realität. a.a.O. S. 233-248.

(8) Wolfgang Schmale: Die Komponenten der historischen Europäistik. Aus: Annäherung an eine europäische Geschichtsschreibung, Hrg. V. Gerald Stourzh unter Mitarbeit von Barbara Haider und Ulrike Harmat Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2002, S. 119

(9) Hier gehe ich vorwiegend auf bulgarische Beispiele ein und ziehe nur gelegentlich andere Exempel heran. Diese Diskurse lassen sich jedoch auch am Beispiel der anderen SOE-Länder beweisen, wie vergleichende Fallstudien gezeigt haben.

(10)Das Bild des Anderen in den Geschichtslehrbüchern auf dem Balkan. Autorenkollektiv. Образът на "другия" в учебниците по история на балканските страни. Фондация Балкански колежи. София 1998.

(11) Hier ist es angebracht, die von Karl Kaser und an Max Weber anknüpfende Einteilung der Gesellschaften in Behörden-, Gefolgs- und Verwandtschaftsgesellschaften zu übernehmen, wobei die Gesellschaften auf dem Balkan immer noch das Verwandtschaftsprinzip nachweisen.

(12) vgl. Kornelia Slavova: Frauenidentitäten zwischen dem Globalen und Lokalen. Ein Blick von Osteuropa und der Dritten Welt. In: Frauenidentitäten auf dem Balkan. Sofia 2004. S. 155.

(13) Susan Gal: Feminism und Civil Society. In: Replika. Hungarian Social Science Quartely, 75-78. (1996)

(14) Darüber habe ich in Ich sehe was, was du nicht siehst, Röhrig Verlag 2002 in Die sexistische Revolution geschrieben.

(15) vgl. Krassimira Daskalova: Die Frauen in den bulgarischen Geschichtslehrbüchern. In: Frauenidentitäten auf dem Balkan. Sofia 2004. s. 144.

(16) Auch als Leser der Geschichte findet man kein soziales Identifikationsbeispiel, da die Perspektive politisch ist und nur politische Identifikationsangebote als Vor- und Gegenbilder anbietet.

(17) Ebd. S. 139.

(18) So wurde z.B. a m Anfang des neuen Jahrtausends über die Medien in allen bulgarischen Städten ein Reigen organisiert, der als der längste Reigen in das Guiness-Buch aufgenommen werden sollte.

(19) gl. Ulf Brunnbauer(Hrsg):Umstrittene Identitäten. Ethnizität und Nationalität in Südosteuropa. Peter Lang 2002.

(20) Studierende aus Bulgarien, Rumänien, Moldawien, Makedonien, Kosovo, Albanien des Studienganges Europa Studien am Bulgarisch Rumänischen Interuniversitären Europazentrum (BRIE).

(21) Vgl. auch den Beitrag von Dimiter Angelov in der vorliegenden Sektion: Die Ethnisierung der sozialen Problematik in Bulgarien.

(22) Vgl. Penka Angelova: Zwischen Restauration und Dekonstruktion. Geistige Tendenzen in Bulgarien nach der Wende. In: Ich sehe was, was du nicht siehst.

(23) Sorin Antohi: Europa Comunitara, Europa Culturala: identitati reticulare [Das gemeinsame Europa, das kulturelle Europa: Netzartige Identitaten], in: Revenirea in Europa. Idei si controverse romanesti 1990-1995 [Die Wiederkehr nach Europa. Rumanische Ideen und Kontroversen].

(24) Vgl. Dietmar Larcher: Kunstreiten auf dem Lipizzaner der Identität. Selbstvergewisserung unter den Bedingungen der Risikogesellschaft. In: Kunstreiten auf dem Lipizanner der Identität. Beiträge zu Kultur und Mentalität. Wieser Verlag 1998. S. 16-35. Hier: S.20.


14.6. Die Rolle von Wissenschaft und Forschung bei der Herausbildung eines neuen Selbstbewußtseins in den jungen Demokratien in Europa

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For quotation purposes:
Penka Angelova (Universitäten Rousse und Veliko Tirnovo): Identitäten in Bulgarien zwischen Fremd- und Selbstbestimmung - Identitätsdiskurse. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/14_6/angelova16.htm

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