Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

14.6. Die Rolle von Wissenschaft und Forschung bei der Herausbildung eines neuen Selbstbewußtseins in den jungen Demokratien in Europa
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Penka Angelova (Rousse/Rustschuk)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Der Schelm und die Europäisierung

Vladimir Sabourin (Veliko Tarnovo, Hll.-Kyril-und-Method-Universität)
[BIO]

 

Der vorliegende Vortrag geht davon aus, daß die soziologische und literarische Figur des Schelmes, wie sie in der zweiten Hälfte des XVI. Jh.s in Spanien zum ersten Mal in Erscheinung tritt, gleichzeitig mit einem Modernisierungsschub, der auch ein Europäisierungsschub war, entstanden ist. Als Produkt der Modernisierung versucht der Schelm, die Spielregeln und die Zwänge der rationellen Lebensführung zu unterlaufen. Die Europäisierung erscheint bei ihm - und er empfindet, verinnerlicht und legitimiert sie für den eigenen Gebrauch - als eine Art Travestie. Die rationelle Lebensführung wird von ihm letzten Endes als dumm und beengend empfunden und in einer karnevalistischen Verkehrung aufgehoben. Die folgenden Bemerkungen zur Phänomenologie des Schelmes versuchen durch den Rückgriff auf die Urgeschichte der europäischen Moderne einen Beitrag zum Verständnis einiger grundlegenden Mißverständnisse des gegenwärtigen Europäisierungsprozesses in Südosteuropa zu leisten.

Die Erscheinung des Picaro in der spanischen Gesellschaft der ersten Hälfte des XVI. Jh.s hat zur strukturellen Voraussetzung die Gründung des modernen zentralistischen Staates im Anschluß an die Ende des XV. Jh.s abgeschlossene Verdrängung der Araber von der Iberischen Halbinsel. Bis an die Schwelle der Neuzeit stellen die christlichen Königreiche auf der Halbinsel ein Grenzland dar, das noch nicht zur europäischen politischen und kulturellen Sphäre gehört. Im späten Mittelalter zeichnet sich Spanien durch ein multikulturelles Zusammenleben aus, das im christlichen Abendland einzigartig dasteht. Der spanische Schelmenroman entsteht im Rahmen einer systematischen Zerstörung dieser einzigartigen Synthese der drei Religionen des Buches im Zuge der Synchronisierung der spanischen Sonderentwicklung mit den gesamteuropäischen Tendenzen. Die Synchronisierung mit der gesamteuropäischen Entwicklung beinhaltet die bürokratische Zerstörung der Synthese zwischen spanischen und semitischen Elementen, die für das späte Mittelalter charakteristisch war. Als entscheidende Vorstufe des modernen Romans weist der spanische Schelmenroman einerseits auf eine erfolgreiche Gattungsevolution, die bis in unsere Gegenwart reicht, andererseits auf die traumatische Erfahrung der bürokratischen Zerstörung einer unwiederbringlich verlorenen Lebenswelt. Die Entstehung der Gattungsform des modernen Romans fällt mit der Zerstörung der lebensweltlichen Synthese, die dem Gattungsursprung zugrunde liegt. Diese knapp angedeutete kulturologische Dialektik findet ihre paradigmatische geschichtsphilosophische Formulierung in Georg Lukács’ Romantheorie: "die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit."(1) Bei der Rückübersetzung der geschichtsphilosophischen Ausführungen von Lukács in den sozialgeschichtlichen Kontext der Genese des Schelmenromans erscheint die für die Gattungsform charakteristische "transzendentale Obdachlosigkeit" als Folge der Entstehung des modernen zentralistischen Staates.

Aus sozialgeschichtlicher Perspektive gesehen, ist der Schelm das Produkt einer "gefrorener sozialen Revolution"(2). Die tiefgreifenden Umwälzungen am Ende des XV. Jh.s, die im bewaffneten Aufstand der kastillischen Stadtkommunen gegen die Zentralgewalt gipfelten, wurden durch zentralistische Durchbürokratisierung der heterogenen Lebenswelten weitgehend zurückgenommen. Was an der Jahrhundertwende als eine revolutionäre Umwälzung begonnen hat, endete in der ersten Hälfte des XVI. Jh.s in einer bürokratisch-ständischen Überdeckung der ungelösten sozialen Spannungen. Der Schelm ist der Experte dieser überdeckenden Travestie der sozialen Konflikte auf der Ebene des alltäglichen Überlebens. Er zieht die Travestie der großen sozialen Aktanten ins Kleine, Körperhaft-kreatürliche. Es ist wohl kein Zufall, dass sich die picareske Travestie hauptsächlich auf die Kontroll-, Befragungs- und Verhörverfahren der Inquisition bezieht. Diese spielt eine entscheidende Rolle bei der bürokratisch-ständischen Bewältigung und Bemäntelung der sozialen Konflikte. Die Gründung der Institution der Inquisition im letzten Viertel des XV. Jh.s stellt einen wichtigen Aspekt des Übergangs zum modernen zentralistischen Staat dar. Ich folge bei dieser Behauptung den Ausführungen des französichen Sozialhistorikers Joseph Pérez, demzufolge "die Gründung der Inquisition durch unbestreitbare Modernisierungszüge gekennzeichnet ist, insoweit sie die Bestrebung der Katholischen Könige zur aktiven Kontrolle des Lebens und Denkens der Untertanen zum Ausdruck bringt."(3) Obwohl sich die Tätigkeit der Inquisition hemmend auf die wirtschaftliche Modernisierung ausgewirkt hat, gelingt es ihr, den bürokratischen Aspekt des modernen zentralistischen Staates konsequent durchzusetzen. Trotz des theatralisch inszenierten Schreckens beruhte die absolute - zum ersten Mal im modernen Sinne des Wortes - Macht der Institution eigentlich ihrem Wesen nach auf unsichtbaren bürokratischen Verfahren. Es ist die Macht der Geheimakten. "Die jahrhundertelang bewahrten Akten stellten eine Geheimwaffe dar, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Gesellschaft besessen hat [... ] ein Werkzeug zur Versteinerung der sozialen Geschichte."(4) Archivierung, Unsichtbarkeit und Verfahrenslegitimität, die für die Inquisition charakteristisch sind, bilden das Herzstück der modernen Machtausübung. Die von der Inquisition erarbeiteten Verfahren der "Erforschung" des Angeklagten - in erster Linie die Verhörverfahren - stellen einen nicht zu unterschätzenden Faktor bei der Konstituierung der modernen Subjektivität dar. "Für die Entwicklung der Individualität und die Geschichte der Individualisierung spielten neben kirchlich-religiösen Kontrollinstanzen die Institutionen des frühmodernen Staates eine Rolle, in denen der einzelne sich als Subjekt und Individuum erfuhr bzw. erklären konnte oder musste."(5) Das, was der moderne Mensch als sein "Ich" anspricht, ist ein Produkt von Verfahren der Befragung, von systematisch gefächerten Fragebogen, die das gestaltlose menschliche Substrat zum Subjekt machen. Die befragende Institution "hilft" dem Subjekt, seine Geschichte zu erzählen, die Erzählung zu konstruieren, die ihn erst zum Subjekt macht. Das Routineverfahren des Inquisitionsverhörs setzt die Erzeugung einer autobiographischen Erzählung voraus, die man im Schelmenroman wiederfindet. Die gattungsspezifische Form der autobiographischen Ich-Erzählung des Schelmen bezieht sich parodistisch auf die frühmoderne Generalisierung und Systematisierung der religiösen Bekenntnispraktik und auf die Verfahren der Rekonstruktion der eigenen Autobiographie im Rahmen des Inquisitionsverhörs.

Nach dieser Rückblende auf die Urgeschichte des Schelms als Urgeschichte der Modernisierung und Europäisierung gehe ich zu einigen thesenhaften Bemerkungen über, welche die Osterweiterung der Europäischen Union aus der Sicht der gegenwärtigen Beitrittswilligen beleuchten. Diese Sicht ist in erster Linie durch die Erfahrung der Wendejahre und der Konfrontation mit einer neuen Normativität bestimmt. Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus erscheint die Wende im Osten als eine gescheiterte soziale Revolution, die in eine kapitalistische Welt von Gestern geführt hat. Die gestrigen Kommunisten sind zumindest in Bulgarien die heutigen Kapitalisten, die das Land voraussichtlich auch in die EU führen werden. Diese giftige Metamorphose wurde nicht zuletzt durch die Sperrung des Zugangs zu den Akten der kommunistischen Staatssicherheit und die Anfang der 90er Jahren verabschiedete postkommunistische Konstitution ermöglicht. Zur Zeit werden in gleicher Manier die von der Europäischen Union geforderten Änderungen im Gesetzeswerk hektisch durchgepeitscht. Es geht um die gleiche Mimikry, die ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegenüber jeglicher Normbefolgung verdeckt. Dieses Mißtrauen hat mit der Urerfahrung des Schelms zu tun, daß konsequente Normbefolgung ein Zeichen von Dummheit ist. Dabei geht es um grundlegende alltägliche Tatsachen, wie Einhaltung von Verkehrsregeln oder korrektes Schlangestehen. Hinter der juristisch-bürokratischen Mimikry der "Harmonisierung" des Rechtsystems mit den europäischen Standards steckt die Urerfahrung des Schelms, daß Normbefolgung dumm und zwanghaft ist. Der durch die Beitrittsverhandlungen ausgelöste Bürokratisierungsschub erzeugt unter diesen Bedingungen eine weitere Potenzierung der Phänomenologie des Schelms. Dadurch erstarrt die in der Wendezeit geträumte soziale Revolution zu einer Dialektik von Bürokratisierung und Schelmereien, die schmerzhaft an die Wiederkehr eines Immergleichen erinnert.

© Vladimir Sabourin (Veliko Tarnovo, Hll.-Kyril-und-Method-Universität)


ANMERKUNGEN

(1) Lukács, G. Die Theorie des Romans, 2. Aufl., München: DTV, 2000, 32.

(2) Gilman, S. The Spain of Fernando de Rojas. The Intellectual and Social Landscape of "La Celestina", Princeton: Princeton UP, 1972, 184.

(3) Pérez, J. "España moderna (1 474 -1700): aspectos políticos y sociales". In : Historia de España, tomo V, Barcelona: Labor, 1982, 160.

(4) Gilman, S., op. cit., 38.

(5) Dülmen, R. van Die Entdeckung des Individuums (1500-1800), Frankfurt am Main: Fischer, 1997, 53.


BIBLIOGRAPHIE

Dülmen, R. van Die Entdeckung des Individuums (1500-1800), Frankfurt am Main: Fischer, 1997.

Gilman, S. The Spain of Fernando de Rojas. The Intellectual and Social Landscape of "La Celestina", Princeton: Princeton UP, 1972.

Lukács, G. Die Theorie des Romans, 2. Aufl., München: DTV, 2000.

Pérez, J. "España moderna (1 474 -1700): aspectos políticos y sociales". In : Historia de España, tomo V, Barcelona: Labor, 1982.


14.6. Die Rolle von Wissenschaft und Forschung bei der Herausbildung eines neuen Selbstbewußtseins in den jungen Demokratien in Europa

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


For quotation purposes:
Vladimir Sabourin (Veliko Tarnovo, Hll.-Kyril-und-Method-Universität): Der Schelm und die Europäisierung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/14_6/sabourin16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 1.6.2006     INST