TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Zur literarischen Konstruktion europäischer Identitäten
in einem intertextuellen Raum

Christoph Parry (Vaasa) [BIO]

Email: christoph.parry@uwasa.fi

 

Die besondere Rolle, die literarische Institutionen und Gattungen bei der Herausbildung moderner nationaler Identitäten gespielt haben, wird heute sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Nationalismusforschung allgemein anerkannt. Tatsächlich spielt die Literatur bei der Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft eine doppelte Rolle: Sie war mit dem Aufkommen des modernen Romans seit dem 18. Jahrhundert an der Konstituierung der modernen Auffassung von Individualität und auf der kollektiven Ebene an der „Erfindung“ von Gemeinschaft beteiligt. Auf der individuellen Ebene reflektiert der Roman die sich herausbildende Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen und trägt dadurch auch zur Aufwertung des Individuums, seiner Gefühlswelt und seiner Lebensprojekte bei. Als narrative Gattung ist der Roman besonders gut geeignet, dieses zu leisten, denn auch die Identität selbst lässt sich als dynamischer Prozess auffassen, der in Form von Lebenserfahrung und Lebensentwürfen narrative Gestalt annimmt. Das Individuum entfaltet seine Identität in einem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, wobei dieser Entfaltungsprozess verschiedene potentielle Narrative generiert. Identitätsbildung und Identitätsbehauptung finden in einem sozialen Raum statt und sind daher grundsätzlich als kommunikative Prozesse zu verstehen. Reale Lebensläufe ähneln fiktiven Biographien und werden ständig im Hinblick auf die Vorgeschichte, Zukunftspläne und Wünsche der Protagonisten neu interpretiert.

Ist die Literatur durch ihre Abbild- und Vorbildfunktion an der Herausbildung des modernen Verständnisses von individueller Identität beteiligt, so ist sie noch mehr in dem Prozess der Herausbildung moderner kollektiver Identitäten verwickelt. Es ist inzwischen zum Gemeinplatz der Nationalismustheorie geworden, die Nation als Konstrukt aufzufassen. Darüber, dass an der Entstehung dieses Konstruktes auch die Literatur ihren Anteil hat, sind sich Theoretiker wie Gellner (1983), Hobsbawm (1990) und Anderson (1999) einig(1). Die Mechanismen dieser Beteiligung sind im Einzelnen recht unterschiedlich. Zum einen ist, wie bereits Habermas(2) gezeigt hat, die literarische Aktivität durch Journale, Essays und die Etablierung öffentlich zugänglicher Diskussionsforen eine Grundvoraussetzung der Herausbildung einer für die moderne bürgerliche Nation unentbehrlichen Öffentlichkeit. Aber die Literatur nimmt auch auf diskretere Weise durch die eigenen Inhalte an der Nationenbildung Teil und zwar dadurch, dass sie Diskurse verbreitet, die die nationale Gemeinschaft überhaupt erst denkbar machen. Letzteres geschieht gleichermaßen im Roman, in der Poesie und im Drama, wie im Essay. Tatsächlich kann die Analyse fiktionaler literarischer Texte mehr über die Denkgewohnheiten eines Landes oder einer Zeit entlarven als die Lektüre politisch zielgerichteter Aufsätze, und die Denkgewohnten selbst können ihrerseits durch die Aufnahme literarischer Texte beeinflusst sein. Was im literarischen Text denkbar und sagbar ist, kann auch in der Außenwelt denkbar werden. Zeigt der traditionelle Roman, wie sich Individuen ihren Weg durch die Wirren und Fährnisse sozialer Wirklichkeit bahnen, so kann er auch zum Verständnis eben jener Realität beitragen. So können etwa die Romane Balzacs als Porträt der realen französischen Gesellschaft ihrer Zeit betrachtet werden, auch wenn sie von ihren Figuren und Handlungen her gesehen reinste Fiktionen sind.

Dass Fiktionen als Träger von „Wahrheit“ verstanden werden können und oft tatsächlich so verstanden werden, zeigt die Rezeptionsgeschichte mit der Institutionalisierung eines nationalen Kanons. Literarische Werke geben den Kronzeugen für so unfassbare aber wichtige Bestandteile des sozialen Imaginären, wie den sog. Nationalcharakter, ab. Ob es um deutsche „Innerlichkeit“ oder finnischen „sisu“(3) geht, kanonisierte Nationalliteratur liefert die Beispiele. Das erklärt auch die häufig kontroverse Aufnahme neuer Interpretationen von Klassikern.  

Als Beispiel dafür lässt sich die zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrags anhaltende Kontroverse um  die Inszenierung einer neuen Dramatisierung des Unbekannten Soldaten (Tuntematon sotilas)(4) auf dem finnischen Nationaltheater nennen. Der Roman Väinö Linnas, der das Leben an der Front im Winterkrieg schildert, war zwar selbst bei seinem Erscheinen wegen seiner betont unromantischen Darstellung des Kriegsalltags zunächst auch auf Ablehnung gestoßen. Inzwischen sind jedoch sowohl der Roman selbst als auch seine Verfilmung durch Edvin Laine(5) nahezu auf den Rang der offiziellen Repräsentation der finnischen Kriegserfahrung gehoben worden. Diese Art von Umgang mit Literatur, die Aufwertung eines Werkes zum nationalen Heiligtum, erscheint nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts höchst anachronistisch. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Rolle der Nation in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht deutlich zurückgegangen und scheint auch kulturell auf dem Rückzug zu sein. Im Zeitalter der europäischen Integration und der Globalisierung ändert sich nicht allein die Stellung der Nation, sondern auch die Stellung der Literatur innerhalb einer sich ständig erweiternden Medienlandschaft.

Der Zweite Weltkrieg bildete den Höhe- und Endpunkt der meisten europäischen Nationalismen. Der Krieg verursachte die Vernichtung und Verschiebung enormer Bevölkerungsgruppen und bedeutete praktisch das Ende der europäischen Welthegemonie. Das Ende der europäischen Weltreiche brachte wiederum eine Umkehr der traditionellen Migrationsrichtung mit sich, und die Einwanderungswellen aus Übersee machten der Homogenisierungstendenz, welche nicht ohne Anteil der Nationalliteraturen die Konsolidierung der europäischen Nationalstaaten von Anfang an begleitet hatte, ein Ende. Auf kollektiver Ebene kommt es dadurch zu einer erneuten Stärkung multikultureller Gesellschaften und auf individueller Ebene immer mehr zu sog. „hybriden“ Identitäten.

Angesichts solcher Verschiebungen der gesellschaftlichen Realität, wäre zu fragen, ob nicht die Literatur auf ähnliche Weise wie bei der Konsolidierung nationaler Identitäten, auch das Aufkommen hybrider und postnationaler Identität registrieren und sogar vorantreiben könnte. Tatsächlich handeln zahllose autobiographische und fiktionale Texte der Nachkriegszeit von hybriden Identitäten und Entwurzelung. Das war nach den Umwälzungen des Zweiten Weltkrieges zu erwarten. Oft halten sich solche Texte an traditionelle epische Formen, wie sie für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. Solche eher traditionell geschriebenen Werke, die in einer veränderten Welt veränderte Identitäten mit unveränderter Ästhetik registrieren, können für den Literaturwissenschaftler wie auch für den Sozialhistoriker sehr aufschlussreich sein, denn sie spiegeln reale Identitätsoptionen unter den vorherrschenden Bedingungen der Zeit wider(6). Doch mit ihren traditionell verstanden Vorstellungen von Mimesis vertreten sie nicht unbedingt die aktuellsten Entwicklungstendenzen der Literatur selbst.

Spätestens seit den 60er Jahren wird das kohärente Weltbild, das ohnehin mit den Erfahrungen der Entwurzelten schlecht in Einklang zu bringen war, auch in der Literatur selbst und im wissenschaftlichen Verständnis von Literatur in Frage gestellt. Poststrukturalismus und Postmoderne stellen traditionelle Annahmen über das Verhältnis zwischen Autor, Text und Welt radikal in Frage. Mit Foucault und Barthes verliert der Autor seine souveräne Position als Schöpfer und Meister der Welt des Textes und wird zu einer Funktion des Werkes. Noch radikaler stellen Theorien des literarischen Diskurses, der Dekonstruktion und der Intertextualität jeden Anspruch des einzelnen Textes auf Autonomie und Originalität in Frage. Jeder Text wird somit, wie Kristeva es bekanntlich formulierte, zum Mosaik von Texten, so wie jedes Wort, wie es bereits bei Bahtin hieß, das Wort eines anderen war. Die so formulierte Entgrenzung des Textes und des Werkes dürfte der Erfahrung der Entwurzelung und der Hybridität in vielen Fällen eher entsprochen haben, als die selbstsicheren, in sich geschlossenen fiktiven Welten als welche man bis dahin die literarischen Werke, insbesondere die Romane verstanden hatte. Es nimmt auch in dem Zusammenhang kein Wunder, dass viele Theoretiker des Poststrukturalismus und der Postmoderne, darunter u. a. Kristeva und Derrida selbst, aufgrund ihrer eigenen „multikulturellen Biographie“ durchaus als Beispiele hybrider Identität gelten dürfen.

Die Destabilisierung des Autors und der Texte durch die wissenschaftliche Theorie hat die literarische Produktion selbst nicht unbeeinflusst gelassen. Die neuen Lesarten der Literatur, die ihren Blick zunehmend auf die Abhängigkeiten der Texte von anderen Texten und von den Zwängen waltender Diskurse lenkten, scheinen ihrerseits unter zeitgenössischen Autoren eine zunehmend bewusste intertextuelle Schreibweise begünstigt zu haben, die den Anspruch sowohl auf Authentizität als auch auf Originalität und Erfindung nicht mehr zu erheben gewillt ist. So scheint die zunehmende Komplexität der Identitätskonstruktion in der spätmodernen postnationalen Welt eine gewisse Entsprechung in einer Schreibweise zu finden, die durch die Offenheit der Texte gegenüber benachbarten Texten und Diskursen charakterisiert ist. Es entstehen dabei bestimmte kulturelle und textuelle Verknüpfungen, die dem jeweiligen Werk doch wieder ein eigenes Gesicht geben, das sich zwar nicht direkt mit der einen oder anderen nationalen Identität deckt, aber das doch sehr deutlich die Erfahrung bestimmter Schicksalsgemeinschaften reflektiert. Im Folgenden werden dazu zwei Beispiele genauer unter die Lupe genommen.

 

W. G. Sebalds Austerlitz

Sebalds Austerlitz(7) ist das letzte vollendete literarische Werk, das noch zu Lebzeiten seines Autors erschien. W. G. Sebald (1944–2001) ist im süddeutschen Wertach geboren und im benachbarten Sonthofen aufgewachsen. Er kam 1966 nach England, wo er zunächst als Dozent an der Universität Manchester lehrte. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland und der Schweiz zog er 1970 endgültig nach England und zwar nach Norwich, wo er schließlich den Lehrstuhl für deutsche Literatur innehatte. Der eigenen literarischen Produktion widmete er sich erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens. Schon in seinem ersten Prosaband Schwindel. Gefühle.(8)stach die eigenartige Erzähltechnik Sebalds hervor, die darin bestand, Anekdotisches aus Geschichte und Kulturgeschichte sowie Kuriositäten aus den Naturwissenschaften mit fiktionalen Elementen in einem lockeren,  zum Essayistischen neigenden Erzählfluss zusammenzuführen. Dieses Buch beginnt mit einer Nacherzählung der italienischen Erfahrungen Henri Beyles, des napoleonischen Offiziers und Diplomaten, der der Nachwelt unter seinem Schriftstellernamen Stendhal bekannt ist. Ein weiteres Kapitel erzählt über eine Reise Franz Kafkas, und die anderen beiden Kapitel sind autobiographisch. In allen diesen Abschnitten befindet sich der jeweilige Protagonist entweder außerhalb seiner Heimat, oder er fühlt sich, wie der Erzähler im letzten autobiographischen Teil, „Ritorno in Patria“, seiner früheren Heimat völlig entfremdet. Diese Thematik rückt im zweiten Prosaband Die Ausgewanderten(9) noch stärker in den Vordergrund. Auch dieses Buch ist in vier voneinander unabhängige aber thematisch verwandte „lange Erzählungen“ aufgeteilt. In jeder dieser Erzählungen gibt der mit dem Autor mehr oder weniger gleichzusetzende Erzähler vor, über das Leben eines Bekannten oder Verwandten zu berichten. Bei den Ausgewanderten selbst handelt es sich um Migranten und Flüchtlingen mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen, aber mit einer gemeinsamen Schwermut. Henry Selwyn war  als Kind mit seinen Eltern auf der Überfahrt von Litauen nach Amerika „versehentlich“ in England geblieben. Der Lehrer Paul Bereyter war zunächst aus dem Dritten Reich nach Frankreich emigriert und dann noch vor dem Krieg zurückgekehrt. Noch als Volksschullehrer in Nachkriegsdeutschland überwindet er das von den Nazis verhängten Berufsverbot nicht. Onkel Adalbert, dem im Gegensatz zu Selwyn die Übersiedlung nach Amerika gelungen ist, verliert seinen Sinn für die Realität und gerät in psychiatrische Behandlung. Die letzte Erzählung handelt von dem Maler Max Aurach, der als Kind von seinen Eltern zu Verwandten geschickt wurde und so dem Schicksal der Familie im Holocaust entkam. Diese Erzählungen sind zwar fiktionalisiert, aber haben meistens auch einen realen Bezug zum Leben. So lässt sich in Aurach leicht der Londoner Maler Frank Auerbach erkennen(10).

Im Nachhinein betrachtet kann man diese vierte und längste der langen Erzählungen in den Ausgewanderten als vorbereitende Skizze für Sebalds letztes zu Lebzeiten erschienenes Werk, den Roman Austerlitz, lesen. Der Protagonist dieses Romans, Jacques Austerlitz, leidet unter traumatischer Amnesie und kann sich an seine frühe Kindheit gar nicht erinnern. Er weiß nur, dass die Kindheitsjahre in Wales, an die er sich tatsächlich noch erinnern kann, ein Leben bei Pflegeeltern war. Wie schon bei den vier „Ausgewanderten“ ist der Lebenslauf des entwurzelten  Austerlitz eine typische Biographie des 20. Jahrhunderts. Austerlitz, Architektur- und Kulturhistoriker von Beruf, muss sich die eigene Herkunft und frühe Kindheit durch ein kompliziertes und langwieriges Verfahren rekonstruieren, das detaillierte Recherchen mit plötzlichen intuitiven Einsichten verbindet. Im Verlauf des Romans findet er heraus, wer seine Eltern waren, wie er seine frühe Kindheit in Prag verbracht hatte und schließlich mit einem sogenannten Kindertransport nach Großbritannien gekommen war.

Über lange Strecken weist das Buch kaum Ähnlichkeiten mit einem Roman im traditionellen Sinne auf. Es gibt kaum Dialoge, obwohl der lange Monolog, aus dem der Text zu bestehen scheint, tatsächlich aufgeteilt ist zwischen dem Diskurs des Erzählers und dem des Protagonisten, den der Erzähler im Wortlaut aus dem Gedächtnis zitiert. Da der Erzähler, der sich kaum vom Autor unterscheiden lässt, und Austerlitz dieselbe Vorliebe für ausschweifende Rede teilen, kommt es kaum zu einer Differenzierung der einzelnen Stimmen oder Charaktere. Auch in dieser Hinsicht kann kaum von einem traditionellen Roman die Rede sein. Außerdem scheinen die melancholischen Reflektionen über die Geschichte und die Vergeblichkeit kultureller Bestrebungen eine ebenso wichtige Rolle zu spielen wie die eigentliche Romanhandlung selbst. Dennoch gibt es eine solche Handlung, und diese erweist sich bei näherem Hinsehen als komplexer als zunächst vermutet. Zum einen muss das Geheimnis von Austerlitz’ Vergangenheit gelüftet werden, und zum anderen entfaltetet sich eine deutliche Entwicklung im Verhältnis zwischen Austerlitz und seinem Erzähler.

Die beiden Herren lernen sich am Anfang des Romans im Wartesaal des Hauptbahnhofs von Antwerpen kennen. In charakteristischer Weise beschreibt der Text zunächst den Eindruck, den die monumentale Architektur dieses Bahnhofs auf den Erzähler macht, bevor die Aufmerksamkeit auf Austerlitz  gelenkt wird. Beim anschließenden Gespräch mit Austerlitz geht es mit kulturgeschichtlichen Betrachtungen weiter, wobei Austerlitz doziert und der Erzähler nur zuhört, um später die Worte des anderen wiederzugeben. Gleich bei dieser ersten Gelegenheit schlägt Austerlitz dem Erzähler einen Besuch der in der Nähe von Antwerpen liegenden Festung Breendonk vor, die im Zweiten Weltkrieg von der SS als Folterstätte benutzt wurde und zu dessen bekannteren Opfern der Schriftsteller Jean Améry zählte. Tatsächlich integriert Sebald in indirekter Rede ganze Passagen aus Amérys Bericht über die Folter(11) in seinen Text und das Schicksal Amérys bleibt ein wichtiger Bezugspunkt im Verlauf des ganzen Buches.

Es folgen weitere zufällige Begegnungen zwischen dem Erzähler und Austerlitz, bei denen die Unterhaltungen nach demselben Muster ablaufen. Austerlitz berichtet von verschiedenen kulturgeschichtlichen Kuriositäten. Der Erzähler hört hauptsächlich zu. Über den persönlichen Hintergrund seines Gegenübers erfahren der Erzähler und mit ihm der Leser kaum etwas.  Erst als sich beide einmal am Fährhafen von Zeebrugge begegnen, stellt sich heraus, dass beide in England leben. Danach kommt es noch zu einigen Besuchen des Erzählers bei Austerlitz. Dann verlieren sie sich jahrzehntelang aus den Augen.

Bis zu diesem Punkt im Roman wurde noch nichts über Austerlitz’ Vergangenheit gesagt. Wie sich später herausstellt, liegt dies nicht zuletzt daran, dass Austerlitz selbst nichts davon weiß

und sich bis dahin um die eigene Vergangenheit nicht gekümmert hat (S. 46). Da Sebalds Erzähler auch kaum etwas über den eigenen Hintergrund berichtet, fällt diese Lakune bei der

Darstellung der Austerlitz-Figur kaum auf. Die eigentliche Romanhandlung, d. h. der Bericht darüber, wie Austerlitz sich auf die Suche nach seiner Kindheit begibt und wie diese Suche auch zunehmend den Erzähler beschäftigt, fängt erst nach etwa fünfzig Seiten Text und zwanzig Jahren erzählter Zeit an. Anfang der 90er Jahre bringt der Zufall die zwei Figuren erneut zusammen, diesmal in einem Wartesaal auf dem Londoner Liverpool-Street-Bahnhof. Erst jetzt zieht Austerlitz den Erzähler ins Vertrauen und fängt an, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Beide sind  in der Zwischenzeit etwas reifer geworden. Austerlitz hat eine psychiatrische Behandlung und der Erzähler einen wenig befriedigenden Aufenthalt in seinem Heimatland hinter sich. Das ist nicht nur ein biographisches Detail, das der Erzähler mit dem Autor Sebald teilt, sondern auch eines, das diese Erzählung mit der Geschichte des Malers Aurach in den Ausgewanderten verbindet. Dort wirkte es fast so,  als fehlte dem Autor/Erzähler in der ersten Phase seiner Bekanntschaft mit dem Maler noch das Interesse, oder vielleicht eher der Mut, den Maler über sein Emigrantenschicksal auszufragen. In Austerlitz wiederholt sich der lange zeitliche Abstand im Freundschaftsverhältnis der beiden Figuren, aber der zwischenzeitliche Wandel in ihrer Beziehung ist jetzt vor allem darin begründet, dass Austerlitz selbst anfängt, sich mit seinem Schicksal zu beschäftigen. Anders als der Maler im früheren Buch, dessen Züge und Lebenslauf sich auf ein erkennbares Vorbild zurückführen lassen, ist Austerlitz jedoch eine synthetische Figur. Seine frühe Erfahrung der Entwurzelung und Deplatzierung verbindet ihn mit demselben Maler Auerbach, der schon im früheren Buch als Vorbild diente. Seine tschechische Herkunft und den Namen Austerlitz teilt er mit dem nach Amerika ausgewanderten und unter dem Pseudonym Fred Astaire berühmt gewordenen Tänzer. Auf diese Namensverwandtschaft stößt Austerlitz zwar selbst im Verlauf seiner Recherchen - sie bleibt aber eher eine Kuriosität. Die Bedeutung des Namens liegt woanders. Austerlitz hieß das berühmte Schlachtfeld in Böhmen, wo Napoleon Bonaparte einen seiner größten Siege bei seinem Projekt der Unterwerfung Europas erzielte, und Austerlitz ist der Name eines Bahnhofs in Paris, der nach Napoleons Sieg bei jener Schlacht benannt ist. Zieht man noch die klangliche Ähnlichkeit mit Auschwitz hinzu, ist der Eindruck unvermeidlich, dass hier gleich im Namen die symbolische Anspielung auf den katastrophalen Gang der europäischen Geschichte vom Größenwahn des napoleonischen Feldzugs bis zum Holocaust gemeint ist(12). Der mit dem kulturellen Erbe seines Erdteils so intensiv beschäftigte Wissenschaftler Austerlitz ist mit seinem so assoziationsreichen Namen nichts Anderes als eine Personifizierung der katastrophalen „Dialektik der Moderne“.

An dieser Stelle lohnt es sich, die Architektur dieses von Architektur beherrschten Romans genauer zu betrachten. Die Grundstruktur ist durch die fiktive Geschichte des Protagonisten gegeben. Das Fundament ist jedoch die europäische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte und das Mauerwerk sind die Bauwerke, die diese Geschichte begleiten, ob es, wie bei den monumentalen Bahnhöfen oder dem Justizpalast in Brüssel, um  die Verherrlichung der Errungenschaften des Imperialismus und der Industriegesellschaft geht, oder um die Infrastruktur des Krieges und der Vernichtung, zu der auch die europäischen Eisenbahnen gehören. Der Betrachtung dieser Baudenkmäler und ihrer Rolle im großen Narrativ der Zerstörung widmet Sebald weit mehr Seiten als der Entfaltung der fiktiven Handlung. Doch diese Handlung selbst ist untrennbar mit dem Netzwerk historischer Zusammenhänge verknüpft. Am Ende des Buches kehrt der Gedankengang zu seinem Ausgangspunkt zurück. Bei ihrer letzten Begegnung besuchen der Erzähler und Austerlitz den besagten Bahnhof in Paris. Dies ist der Bahnhof, von dem aus die jüdischen Häftlinge im Zweiten Weltkrieg zum Internierungslager nach Gurs verschickt wurden,  um dann weiter in die Todeslager verfrachtet zu werden. Auch der eingangs erwähnte Jean Améry gehörte zu den nach Gurs verschickten Häftlingen. Bei ihrer letzten Begegnung übergibt Austerlitz dem Erzähler die Schlüssel seiner Londoner Wohnung. Er selbst hat vor, von Paris aus nach Gurs zu fahren, um eventuell Spuren seines Vaters zu finden. Der Erzähler kehrt indes zurück nach Antwerpen, wo er wieder die Festung Breendonk besichtigt.

Mit der Schlüsselübergabe macht Austerlitz den Erzähler zum Erben seiner Biographie. Damit eröffnet sich eine weitere symbolische Ebene des Romans und die eigentliche Funktion des Erzählers wird sichtbar. Wenn Austerlitz eine fiktive Figur ist, in der die Koordinaten der neueren europäischen Geschichte zusammenlaufen, dann lässt sich die narrative Struktur des Romans als fiktionalisierte Repräsentation des Prozesses verstehen, wonach der Autor selbst sich immer mehr in die Geschichte des Erdteils und das Schicksal seiner Emigranten und Flüchtlinge vertieft.  Denn der Roman handelt weniger vom Leben des Austerlitz, als von dem Prozess seiner doppelten Rekonstruktion, zunächst durch die Recherchen von Austerlitz selbst und dann durch die rekapitulierende und erzählende Arbeit des Erzählers. Damit rückt nun der Erzähler als alter ego des Autors in den Mittelpunkt. In seiner zunächst zögerlichen, dann immer engagierteren Annäherung an die Biographie des Freundes zeichnet sich im Kleinen derselbe Prozess nach, der die Auseinandersetzung Sebalds mit Geschichte in seinem ganzen Werk kennzeichnet. Es geht um die Verortung des Subjekts als Nachgeborenen angesichts der allgegenwärtigen Spuren der Zerstörung. Darum bedient sich Sebald auch in diesem Roman derselben Mittel des essayistischen und referierenden Erzählens und des Einschubs von scheinbar dokumentarischem Photomaterial wie in seinen früheren Werken. Die Last der Geschichte ist jedoch so stark, das sich die Subjektposition nicht mehr vom betrachteten Gegenstand lösen lässt. Folglich fließen die Diskurse im Buch ineinander. Wenn Austerlitz spricht, dann werden seine Worte vom Erzähler wiedergegeben. Aber beide, Austerlitz und der Erzähler referieren andere Bücher. So spannt sich neben dem topographisch historischen Netzwerk auch ein Netzwerk der Intertextualität über das ganze Buch. Ein wahres Mosaik, in dem jedes Wort zugleich Wort eines anderen ist.

 

Paavo Rintalas Sarmatischer Orpheus

Das zweite Buch, das hier behandelt werden soll, Sarmaatian Orfeus (Der sarmatische Orpheus) ist etwa ein Jahrzehnt vor Austerlitz erschienen. Sein Verfasser, Paavo Rintala (1930–1999) wurde in der damals zu Finnland gehörenden karelischen Stadt Wiburg geboren, wo er bis zum Finnisch-sowjetischen Winterkrieg lebte. Zusammen mit einem großen Teil der karelischen Bevölkerung flüchteten die Rintalas in den westlichen Teil Finnlands, in ihrem Fall nach Oulu. Das Schicksal des jungen Rintala ist diesbezüglich nicht untypisch für Europäer seiner Generation, und die Erfahrung der Entwurzelung hat einen deutlichen Eindruck auf sein vielseitiges Werk gemacht.

Mit 40 Romanen und ungefähr gleich vielen Bühnenstücken und Hörspielen gehörte Rintala zu den produktivsten Autoren seiner Generation. Obwohl seine Bücher in einer recht internationalen Tradition stehen und er seine Themen sehr oft außerhalb Finnlands suchte, ist Rintala außerhalb Finnlands wenig bekannt geworden. Mit Romanen über Matthias Grunewald, Martin Bonhoeffer oder auch Faust ist der deutsche Sprachraum in seinem Werk sehr präsent. Trotzdem sind sein Bücher nur sehr spärlich übersetzt worden. In Finnland selbst wurde Rintala in den sechziger Jahren wegen seines kompromisslosen Pazifismus auch nicht einhellig geschätzt. Man warf ihm mangelnden Patriotismus bzw. mangelnden Respekt vor der militärischen Leistung des Landes im Zweiten Weltkrieg vor. Kritisiert wurde insbesondere sein Roman über die Belagerung Leningrads, der vornehmlich aus dem Blickwinkel der Opfer geschrieben ist.

Dass Rintala eigentlich nie durchschlagende Popularität erreichte, dürfte jedoch mehr an seiner Schreibweise als an seiner immerhin von vielen anderen Autoren geteilten Gesinnung liegen. Seine Bücher sind oft von einer ausgesprochen komplexen Montagetechnik geprägt, wobei verschiedenste Handlungsstränge und weit auseinander liegende Orte zusammengeführt werden und mit intertextuellen Anspielungen jeder Art nicht gespart wird. Ähnlich wie Sebald stellt Rintala somit hohe Anforderungen an seine Leser. Auch Rintalas Bücher befinden sich im Grenzraum zwischen Erzählung und Essay, und es ist immer wieder der Autor, der durch den Erzähler zu sprechen scheint. Doch bei aller Ähnlichkeit gibt es auch auffällige Unterschiede. Diese betreffen vor allem den Fiktionalisierungsgrad der Bücher. Während Sebald die Fiktion hinter dem Quasidokumentarischen versteckt, geht Rintala viel freier mit seiner Phantasie um. Seine Erzählungen springen zwischen Orten und Zeiten hin und her, nicht nur, wie bei Sebald, als Kette von gedanklichen Assoziationen, sondern in typisch postmoderner Manier in Form von ontologischen Sprüngen, notfalls unter Missachtung  der Naturgesetze. So spielt zum Beispiel der letzte Roman, Faustus, abwechselnd in der Gegenwart und in der frühen Neuzeit, und der Protagonist und Ich-Erzähler ist zugleich der Autor und die Reinkarnation des Georg Sabelius, des historischen Faust. Dieser Faust versucht sich die ganze Zeit gegen den schlechten Ruf, den er in der Weltliteratur hat, zu wehren. Ironischerweise wird er in seiner Eigenschaft als Faust und nicht als der zeitgenössische Autor in seine Heimatstadt Oulu eingeladen, wo er Ehrengast bei der Feier zur (durchaus fiktiven) Ernennung der Stadt zur europäischen Kulturhauptstadt werden soll.

Sarmaatian Orfeus [Der sarmatische Orpheus](13), das Buch das hier genauer betrachtet werden soll, ist als Hommage für den Dichter Johannes Bobrowski angelegt. Der in Ostpreußen geborene und in Ostberlin verstorbene Bobrowski hatte in vielen Werken seine heimatliche Landschaft gewürdigt, insbesondere im Gedichtband Sarmatische Zeit. Der Name Sarmatien ist wiederum eine mythologische und historische Bezeichnung für das osteuropäische Gebiet, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt und Russland bzw. Asien von Mitteleuropa trennt. Es ist ein Gebiet, dessen wechselhafte Geschichte sowohl die Blüte des kurzlebigen Großreichs Litauen im Mittelalter als auch, weit häufiger, die wechselseitige Unterdrückung seiner Völker durch die benachbarten Großmächte in Ost und West umfasst.

In Rintalas Roman wird diese Grenzlandschaft aufgesucht. Der Ich-Erzähler, eine fiktive Persona des Autors, erzählt von einer Reise, die er auf den Spuren Bobrowskis unternimmt, indem er den Weg zurücklegt, auf den der Dichter als  Soldat im Zweiten Weltkrieg gezogen war. Rintalas Erzähler wird auf seiner Reise von demselben Henri Beyle (Stendhal) begleitet, dessen Biographie Gegenstand der ersten Erzählung in W. G. Sebalds Schwindel. Gefühle. war. Doch auch wenn Rintala und Sebald zum Teil dieselben Einzelheiten aus Beyles Leben berichten, so ist der Umgang Rintalas mit der Figur ein ganz anderer. Rintalas Protagonist aus dem späten 20. Jahrhundert hat den napoleonischen Offizier zum höchstpersönlichen Reiseführer erkoren, denn Beyle kennt ja die Landschaft bereits von Napoleons Russlandfeldzug. Tatsächlich geraten die beiden während der Reise nicht nur in dieselben Gegenden wie Bobrowski, sondern auch in dieselbe Zeit: mitten ins Kriegsgeschehen. Auf diese Weise überführt Rintala Napoleons Feldzug, Hitlers Operation Barbarossa und schließlich Stalins Unterwerfung  des ganzen Gebiets in ein einziges Kontinuum des Leidens.

Unter den Opfern dieses Leidens gibt es jedoch keine Solidarität. Das hat sich in der Geschichte immer wieder etwa im Eifer der Judenverfolgungen gezeigt. Auch dieses Thema wird im Verlauf des Romans mehrfach aufgegriffen. Tatsächlich wird gleich zu Beginn des Romans die von Bobrowski besungene Landschaft Sarmatiens mit dem Gedenken der Opfer des Holocausts zusammengeführt. Auch in diesem Punkt ähnlich wie Sebald, streut Rintala nicht nur mehrere Abstecher und Umwege in seinen Text hinein, sondern fängt den Roman gleich mit einem Abstecher an. So wird zuallererst nicht Bobrowski sondern Paul Celan genannt. Rintalas Autor-Erzähler fährt zunächst nach Paris, um Celan zu treffen. Den Dichter trifft er jedoch nicht mehr lebend an. Dieser hat sich in die Seine geworfen, und der Erzähler wird Zeuge wie die Leiche geborgen wird. Die sarmatische Landschaft wird daraufhin als die Landschaft eingeführt, in der Celans Mutter und mit ihr Millionen andere nicht leben durften. In diesem Zusammenhang nennt Rintala auch seine poetische Absicht:

Während ich dieses schreibe, blicke ich auf ein Vakuum in Ost-Europa: auch diejenigen, die von Paul Celans Volk am Leben blieben, sind nach Israel gezogen. In die von ihnen verlassene Häuser zogen Fremde ein. Aber so wie Paul Celans Mutter ihrem Sohn nicht nach Wien und dann weiter nach Berlin folgen konnte, so konnten auch die Millionen osteuropäischer Opfer nicht nach Israel ziehen. Irgendwo müssen jedoch auch die Toten wohnen, die Opfer wie auch die Täter, sonst verliert dieser Erdteil sein Gedächtnis.(14)

Mit dem Buch soll den Toten ein Denkmal gesetzt werden, indem sie zumindest auf den Seiten des Buches ihre heimatliche Landschaft wieder bewohnen dürfen.

Die Verfolgung der Juden hat in der sarmatischen und europäischen Landschaft Tradition, die lange vor dem Holocaust des 20. Jahrhunderts ansetzt. Am deutlichsten wird dies im Roman durch die Einführung der Gestalt Jakob Oppenheimers thematisiert, der sich eine Zeit lang ebenfalls der Reisegesellschaft anschließt. Der Nachwelt unter dem Spitznamen Jud Süß bekannt, fiel Oppenheimer, Bankier am Württembergischen Hof im 18. Jahrhundert und einer der frühen Meister des modernen Finanzwesens, am Ende einer erfolgreichen Karriere in Ungnade und wurde hingerichtet.  Er wurde nachträglich zum Gegenstand verschiedener literarischer Bearbeitungen und schließlich zum demonischen Antihelden eines sehr erfolgreichen und im ganzen besetzten Europa verbreiteten Propagandafilms der Nazis. Wie Faust in Rintalas letztem Roman, ist dieser Oppenheimer sich seines zweifelhaften Nachruhms sehr bewusst. Dieser Nachrum ist ihm einerseits recht peinlich, andererseits ist er darauf beinahe stolz, auch wenn er dazu verurteilt ist, auf der Leinwand die Züge des Teufels zu tragen.

In Rintalas Roman, genau wie in Sebalds Austerlitz, ist die Geschichte Europas untrennbar mit Gewalt und Eroberung verknüpft. Sowohl Napoleons Eroberungsfeldzug als auch der zweite Weltkrieg werden im Buch als fehlgeleitete Versuche europäischer Einigung gedeutet. Deutlich wird das im Roman anhand einer bitterbösen Bemerkung im Zusammenhang mit dem Film Jud Süß, wenn es heißt, dass der Film ausdrücklich zur Förderung der europäischen Einheit gedreht wurde. Dabei war Rintala kein Gegner der europäischen Einheit. Ganz im Gegenteil: allein schon durch die Fülle literarischer und kultureller Anspielungen beweist der Roman, dass diese Einheit, in der Kultur und im kollektiven Gedächtnis seiner Völker längst vorhanden ist. Sarmatien, das der Autor durch die Bezugnahme auf Beyle und Celan großzügigerweise um Frankreich und Italien erweitert, wird zur Chiffre dieser bestehenden Einheit. Gerade in seiner Eigenschaft als mythischer Raum bietet sich Sarmatien zur friedlichen Identifikation an, wie es das reale Europa mit seinen militärischen Großunternehmen der Vergangenheit und dem einseitig marktwirtschaftlich orientierten Projekt der Gegenwart nie vermocht hat.

Rintalas Europa ist wie das Europa Sebalds durch die gemeinsame Leidensgeschichte seiner Völker vereint. Aus diesem Geflecht einzelne Länder herauszulösen hat ebenso wenig Sinn wie die einzelnen Figuren im Roman als autonom handelnde Individuen hervorzuheben. Die Identität der Figuren lässt sich kaum noch von der Identität der Texte trennen. Diese Identität besteht aber aus der gesammelten Erfahrung der europäischen Moderne. Beide Romane lassen sich daher mit der Terminologie von Liisa Saariluoma als postindividuell bezeichnen(15). Es sind postindividuelle Romane für ein postindividuelles Zeitalter. Beide Autoren verdichten die Geschichte zu einer Reihe von intertextuellen Bezügen, aus der sie dann die Landschaft errichten, durch die ihre Protagonisten nahezu willkürlich ihre Bahnen ziehen.

 


Anmerkungen:

1 Vgl. Ernest Gellner: Nations and Nationalism Oxford (Blackwell) 1983, E. J. Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth, reality. Cambridge (CUP) 1990, Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, (revised ed.) London, New York 1999.
2 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied (Luchterhand) 1962.
3 Ungefähr mit „Härte“ oder „Ausdauer“ übersetzbar.
4 Väinö Linna: Tuntematon sotilas Porvoo ( WSOY) 1955.
5 Bezeichnenderweise wird der Film von 1955 jedes Jahr am Unabhängigkeitstag (6. 12.) im finnischen Fernsehen ausgestrahlt. Die neue Inszenierung stellt nicht nur die bereits im Roman angegriffenen militärischen Werte und den unkritischen Patriotismus, sondern auch den Kanonisierungsmechanismus von Nationalliteratur in Frage.
6 Zur Diskussion solcher mimetischer Herangehensweise vgl. Christoph Parry: „Zur europäischen Identitätskonstruktion in Hilde Spiels Roman Lisas Zimmer: Komparatistik 2003/2004. S. 101–122, sowie Christoph Parry: „Europäische Identitätskonstruktion als Vergangenheitsbewältigung bei Alfred Andersch“. Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses in Paris 2005 "Germanistik im Konflikt der Kulturen" Bd. 12 (=Jb. Für Internationale Germanistik, Reihe A 88) 2007, S. 61-68.
7 W. G. Sebald: Austerlitz. München, Wien (Hanser Verlag) 2001.
8 W. G. Sebald: Schwindel. Gefühle. Frankfurt am Main (Eichborn) 1990.
9 W. G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch) 1994 [1992].
10 Für die englische Übersetzung des Bandes wechselte Sebald den Namen des Malers zu Ferber und entfernte eine Abbildung, die zu sehr den Stil Auerbachs erkennen ließ.
11 Vgl. Jean Améry: „Die Tortur“, in ders. Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München (DTV) 1970 [1966]. S. 33-54.
12 Vgl. Klüger, Ruth: „Wanderer zwischen falschen Leben. Über W.G. Sebald“. In: Text und Kritik H. 158, 2003, S. 95–102. Hier S. 100.
13 Paavo Rintala: Sarmatian Orfeus. Helsinki (Otava) 1991.
14 Ebd., S. 10.
15 Liisa Saariluoma: Der postindividualistische Roman. Würzburg (Königshausen und Neumann) 1994.

1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten

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