TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Mzia Galdavadze (Tbilissi), Tornike Potskhishvili (Wien), Vilayet Hajiyev (Universität Baku) und Azat Yeghiazaryan (Jerewan)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Zwischen Europa und Orient –
zur „Typologie des georgischen Zaubermärchens“

Elguja Dadunashvili [BIO]

Email: folklore@gw.acnet.ge

 

Der Vortrag bietet einen Überblick über die georgische Oralliteratur; betrachtet wird das neulich erschienene Buch „Typologie des georgischen Zaubermärchens“. Das Buch wurde in den Jahren 2005/06 im Rahmen des von der Volkwagen Stiftung unterstützten Forschungsprojekts am Institut für vergleichende Sprach­wissen­schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und an der Arbeitstelle Enzyklopädie des Märchens der Akademie der Wissen­schaften zu Göttingen fertig gestellt. Das Buch wird vom Schneider Verlag im Jahre 2007 veröffentlicht.

Das Buch  dient dem Ziel, die Stellung des georgischen Erzählguts innerhalb der euro-asiatischen Kulturbeziehungen neu zu bestimmen und es in den Themenkreis der europäischen Erzählforschung zu integrieren. Auf georgische mündliche Überlieferungen ist die europäische Erzählforschung erst im 19.Jahrhundert aufmerksam geworden. Das Interesse richtete sich hauptsächlich auf die Archaizität der georgischen Sprache und der georgischen Oralliteratur. Dazu trug auch die geographische Mittelstellung Georgiens zwischen Europa und Asien bei, die Forscher dazu anregte, Georgien als einen Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen westlichen und orientalischen Kulturen zu betrachten.

Durch die geographische Mittelstellung zwischen Europa und dem Orient stand die georgische Kultur seit jeher unter einem erheblichen Einfluss von beiden Seiten. So haben die fremde Kulturen u. a. jüdische,  griechisch-byzantinische, persische, arabische und osmanisch-türkische  ihre Spure auf die georgische Kultur im Allgemeinen und auf die Erzähltradition insbesondere hinterlassen.

Trotz des beständigen starken Einflusses „fremder“ Kulturen hat sich die georgische Kultur durch ihr Streben nach Selbständigkeit und ihre Sehn­sucht nach Unabhängigkeit immer ihre Originalität bewahrt. Das stetige Bemühen um die Bewahrung kultureller Eigenständigkeit hat sich in Georgien in einer bemerkenswerten Kontinuität traditioneller Formen in der Alltags- und Hochkultur niedergeschlagen.

Die Neigung zu Konservativismus und kontinuierlicher Bewahrung alter Traditionen ver­leiht dem georgischen Erzählgut einen besonderen Stellenwert im Hinblick auf die Rekonstruktion der Archetypen von ansonsten enigmatischen Erzähltypen. Dem georgischen Erzählgut kommt dadurch eine heraus­ragende Rolle für die europäische Erzählforschung im Allgemeinen zu.

Der erste Versuch einer Systematisierung der georgischen Zaubermärchen nach dem internationalen Typensystem wurde in den 1970er Jahren von Teimuraz Kurdowanidze durchgeführt; die letzte erweiterte Fassung dieses Katalogs, ergänzt durch andere Arten von Märchen, wurde im Jahre 2000 veröffentlicht.(1) Die typologischen Zuordnungen dieses Katalogs sowie weitere Informationen zu Sammlungen georgischer Märchen sind in den Typenkatalog The Types of International Folktales (2004) von Hans-Jörg Uther eingeflossen und dadurch für die internationale Erzählforschung zugäng­lich gemacht worden.(2) Ein allgemeines Bild über das Typenspektrum der georgischen Zaubermärchen kann man sich also bereits mit Hilfe des gegenwärtigen Forschungsstandes verschaffen. Das vorliegende Buch setzt sich demgegenüber das Ziel, dieser Frage noch tiefer nachzugehen, indem sie die Eigenschaften des Typenspektrums untersucht und auf dieser Grund­lage das georgische Märchengut vor dem Hintergrund west-östlicher Beziehungen betrachtet, wobei die unterschiedlichen Ansätze der gegen­wär­tigen Erzählforschung im Hinblick auf die georgische Volks­über­lie­ferung erstmalig mit repräsentativ-quantitativen Methoden integriert werden.

Die Neuartigkeit der hier angewendeten quantitativen Forschungs­methode besteht in der Ermittlung der Repräsentativität der zu vergleichen­den Einheiten, d. h. der Textmaterialien, die als repräsentative Beispiele für das Repertoire des georgischen Erzählguts angesehen werden können. Unter­stützt wird dieser Ansatz durch die Einbeziehung überwiegend unver­öffentlichter Archivmaterialien und durch den Ausbau der elektronischen Datenbank der georgischen Volksdichtung zu einem modernen Instrumen­tarium der Forschung.

Orientierung auf die Archivmaterialien gründet sich auf die Annahme, dass das bei der Feldforschung gesammelte Archivgut sich ein repräsentatives Modell für das Repertoire der untersuchten Gruppe zu bilden lässt. Die im Buch repräsentierten Archivmaterialien stammen aus dem Folklorearchiv Rustaveli-Institut für Georgische Literatur Tbilisi und Berdsenischvili Institut Batumi.

Wie gesagt, wird dieser Ansatz durch die Einbeziehung überwiegend unver­öffentlichter Archivmaterialien und durch die elektronische Datenbank der georgischen Volksdichtung unter­stützt. Die elektronische Datenbank der georgischen Volksdichtung wurde 1996 beim Folklorearchiv am Rustaweli-Institut für Georgische Literatur der Akademie der Wissen­schaften Georgiens (Folklorearchiv Tbilisi) eingerichtet.(3) Seit 2000 wird die Datenbank im Folklorearchiv des Berdzenischwili-Instituts Batumi der Akademie der Wissenschaften Georgiens angewendet.

Bis 2003 war die Datenbank der georgischen Volksdichtung über eine exklusive Softwareinstallation zugänglich; ihre Überführung in eine über das Internet nutzbare Fachressource wird seither von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (Institut für Vergleichende Sprach­wissenschaft) unter der Leitung von Prof. Dr. Jost Gippert ermöglicht (cf. http://armazi.uni-frankfurt.de, letzter Zugriff: 10.03.2010).

Die Datenbank bemüht sich, den Anforderungen der modernen Erzähl­forschung zu entsprechen. In dem jetzt etablierten Systematisierungsschema wird das Material des Archivs für Georgische Volksdichtung nach 26 Parametern, insbesondere auch mit Hilfe des internationalen Typenkatalogs von Uther, klassifiziert und mit diesen Informationen in die elektronische Datenbank aufgenommen; sie umfasst bisher etwa 23.600 Datensätze und mehr als 3.100 Texte aus der Volksüberlieferung. Es handelt sich haupt­sächlich um Materialien aus dem Folklorearchiv Tbilisi, in geringerem Umfang auch aus dem Folklorearchiv Batumi.

Die Typologie des georgischen Volksmärchens gründet sich auf die Hypothese, dass es möglich sein muss, die Relevanz eines bestimmten Typs im gesamten Erzählgut der handelnden Gruppe durch seine Häufigkeit (Popularität) in der mündlichen Tradition dieser Gruppe zu bestätigen. Je größer die Menge des verglichenen Materials ist, desto präziser können die Ergebnisse einer solchen Forschung sein. Allerdings wird die Tragweite der Forschungsergebnisse immer davon abhängig sein, wie weit die Sammelarbeit und die Systematisierungsmaßnahme in dem jeweiligen Fall entwickelt sind. Die vorliegende Forschungsarbeit stützt sich auf die folgenden Angaben:

Gesamte Zahl der Datensätze = 23.601
Zahl der Märchen = 2.725
Zahl der Zaubermärchen = 1.343
Zahl der in der vorliegenden Forschung zur Verfügung stehenden Zauber­märchen = 1.043

Zu den zur Verfügung stehenden Zaubermärchen gehören die Datensätze mit festgelegten Typennummern und beigefügten Texten. Die anderen Daten­sätze, die auch zu den Zaubermärchen, jedoch nicht zum Allgemeingut gehören, werden ignoriert, da sie wegen technischer Probleme derzeit noch keine beigefügten Texte enthalten.

Die Arbeit besteht aus Einleitung, Verzeichnis der häufig anzutreffenden Typen und der typologisch-vergleichenden Charakteristika des georgischen Zaubermärchens. Der Hauptteil der Arbeit ist das Verzeichnis der häufig im georgischen Märchenrepertoire anzutreffenden Typen. Entsprechend dem in diesem Kapitel angewandten analytischen System werden die Texte zunächst nach den traditionellen Definitionen des internationalen Typenkatalogs identifiziert. Die dann folgende Feststellung des Kerns des jeweiligen Typs richtet sich weitgehend nach den inhaltlichen Zusammen­fassungen in The Types of International Folktales von Hans-Jörg Uther (ATU) sowie in der Enzyklopädie des Märchens (EM). Jedes zu dem ent­sprechenden Typ gehörende Märchen wird durch seinen Inhalt charak­terisiert und mit anderen Exemplaren desselben Typs verglichen. Bei der Zusammenfassung wird das Vorkommen der Episoden in dem betreffenden Märchen durch die Identifikationsnummer des entsprechenden Textes ange­zeigt.

Auf der Basis miteinander vergleichbarer und häufig vorkommender Motive und Episoden wird die Grundform des Typs festgestellt. Der Beschreibung des Typs folgt eine Tabelle. Diese Tabelle enthält Infor­ma­tionen über Identifikationsnummer, Signatur und Typ der Belege, daneben auch Angaben zu Wohnort bzw. Geburtsort und Geschlecht des Erzählers bzw. der Erzählerin. Jeder in der Arbeit untersuchte Text kann unter seiner Signatur bzw. ID im Internet gefunden und eingesehen werden.(4)

Der dann folgende Teil der Arbeit basiert auf den Angaben des vorangehenden Typen­verzeichnisses und ermöglicht so, ermittelte relevante Merkmale des georgischen Märchens weiter zu interpretieren.

Nach den Angaben der Forschung sind die folgenden Erzähltypen als häufig anzutreffende Märchen der georgische Erzählrepertoire  festgestellt:

ATU 300 – Drachentöter
ATU 301 – Die drei geraubten Prinzessinnen
ATU 302 – Herz des Unholds im Ei
ATU 302B – Das Seelenamulett
ATU 303 – Die zwei Brüder
ATU 313 – Magische Flucht
ATU 314 – Goldener
ATU 315A – Die menschenfressende Schwester
ATU 403 – Die schwarze und die weiße Braut
ATU 404 – Die geblendete Braut
ATU 449 – Sidi Numan
ATU 465 – Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt
ATU 467Geo – Die drei Zauberinnenschwestern
ATU 516 – Der treue Johannes
ATU 530 – Prinzessin auf dem Glasberg
ATU 531 – Der treue Ferdinand
ATU 545B – Der gestiefelte Kater
ATU 560 – Zauberring
ATU 590 – Die treulose Mutter
ATU 650A – Starker Hans
ATU 706 – Das Mädchen ohne Hände
ATU 707 – Die drei goldenen Söhne

Nach den Charakteristika der konstitutiven Eigenschaften des georgischen Zauber­­märchens  versucht die Forschung auf die Frage zu beantwortet wie sich diese Eigenschaften im Kontext der interkulturellen Beziehungen verhalten? Durch diesen Zweck werden die häufig anzutreffende Typen des georgischen, persischen,(5) türkischen,(6) armenischen(7) und russischen(8) Zaubermärchens zusammen­gestellt.

Die Untersuchung hat die große Rolle religiöser Faktoren bei der Formierung des Typenbestands des georgischen Zaubermärchens zutage treten lassen, bemerkbar ist zudem die tiefe Spuren altmediterraner Kulturen. Nach der Schlussfolgerung des Buches wird die Stellung des georgischen Märchens an der Grenze von Orient und Okzident als eindeutig abendländisches Märchen bestimmt.

 


Anmerkungen:

1 Kurdovanidze, Teimuraz: The Index of Georgian Folktale Plot Types. Systematic directory, according to the system of Aarne-Thompson. Tbilisi 2000.
2 Uther, Hans-Jörg: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. FF Communications. No. 284–286. Helsinki 2004.
3 Skhirtladze, Rati; Dadunashvili, Elguja (2003): Programm für digitale Dokumen­tation des Archivguts der Volksdichtung „DS-Folklore 2.0“. Nationales Zentrum für das Eigentum Georgiens, Nr. 586 (letzte Version).
4 http://titus.fkidg1.uni-frankfurt.de/database/folkarch/query.htm#inpform  (Letzter Zugriff: 10.03.2010)
5 Ulrich: Typologie des persischen Volksmärchens. Beirut 1984
6 Eberhard, Wolfram; Boratav, Pertev Naili: Typen türkischer Volksmärchen. Wiesbaden 1953
7 Gullakjan S. A.: Ukazatel’ sužetov armjanskich volšebnych i novelističeskich skazok. [Verzeichnis der Sujets des armenischen Zauber- und Novellen­märchens]. Erevan 1990
8 Barag, L. G.; Berezovski, I. P.; Kabaschnikov, K. P.; Novikov, N. V.: Sravnitel’nyj ukazatel’ sužetov [Vergleichendes Verzeichnis der Sujets]. Leningrad 1979

1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe

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For quotation purposes:
Elguja Dadunashvili: Zwischen Europa und Orient – zur „Typologie des georgischen Zaubermärchens“ - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-2/1-2_dadunashvili17.htm

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