TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Mzia Galdavadze (Tbilissi), Tornike Potskhishvili (Wien), Vilayet Hajiyev (Universität Baku) und Azat Yeghiazaryan (Jerewan)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Ein Mantel aus Kutaissi
Georgien, 21. bis 26. Oktober 2002

Ulrike Längle (Bregenz) [BIO]

Email: Ulrike.Laengle@vlr.gv.at

 

Ich sitze im "Mr. Lee. Asia Wok & Nudeln" am Naschmarkt und warte auf meine letzte Mahlzeit vor dem Abflug nach Georgien. Drei Köche werken vor den Augen der Gäste an den Töpfen, in einem Lokal, das so eng ist, dass ich mich frage, wie der normale übergewichtige Wiener sich hier hereinquetscht.

Heute war ich in der Georgischen Botschaft. Man hat mir das Visum ausgestellt, obwohl ich kein Foto dabeihatte. Eine Dame im Tigerlook, die Englisch sprach, machte mich darauf aufmerksam, dass ich unbedingt die Passnummer noch einmal mit der Nummer im Visum vergleichen solle. Das würde sie immer empfehlen, bei jedem Visum. Während ich auf einer Bank mit Wiener Werkstätten-Bezug wartete, blätterte ich die Prospekte auf dem Tisch durch. Vor allem eine Broschüre über georgische Weine interessierte mich, und ich notierte die Namen: MUKUZANI, SAPERAVI (dry red), VAZISUBANI, RKATSITELI, TSINANDALI (dry white). Morgenstern hätte eine Beschwörungsformel aus diesen Wörtern gemacht.

Ein anderer Prospekt informierte über "The twenty-six century Jubilee of the Jewish Settling in Giorgia" 1998 in Tiflis. In Georgien haben die Juden immer religiöse und andere Freiheit genossen. Bereits im 7. Jahrhundert vor Christus kam ein Teil der von Nebukadnezar besiegten Juden statt in die Babylonische Gefangenschaft nach MZcheta, die damalige Hauptstadt. Der Gefangenenchor aus "Nabucco" wäre nie entstanden, hätten sich die Juden alle gleich in Georgien niedergelassen. Seltsamerweise spielten sie dort eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Christentums: In der Broschüre hieß es, dass Elioz, ein Jude aus MZCHETA, die Tunika des gekreuzigten Christus nach Georgien gebracht habe. Seine Schwester Sidonia presste die Tunika an ihre Brust und starb auf der Stelle. Sie wurde mit der Reliquie begraben, und eine prachtvolle Zeder wuchs an der Begräbnisstelle empor. Diese Zeder besaß  wundertätige Kräfte, ihr Harz heilte alle möglichen Leiden. Die erste christliche Kirche in Georgien wurde auf Sidonias Grab errichtet. Die heilige Zeder wurde zu einer der Säulen in Kircheninneren, behielt aber trotzdem ihre Heilkraft. Deshalb wird die Kathedrale der georgischen Patriarchen noch heute SWETI ZCHOWELI genannt, "lebensspendende Säule". Sie wurde im 11. Jahrhundert in MZCHETA an der Stelle errichtet, an der die frühere kleinere Kirche gestanden war. So sind Judentum und Christentum in Georgien untrennbar miteinander verbunden.

Genug der Legenden. Zur Vorbereitung auf die Reise hatte ich auch das Georgien-Buch von Clemens Eich gelesen. Am bemerkenswertesten fand ich den Satz „'Sie haben mit allem gerechnet in Georgien, nur nicht mit sich selbst‘“, den eine geheimnisvolle junge Frau zu Eich sagt, als er mit einem verletzten Auge in einem ungeheizten Krankenhaus in Tiflis liegt, wo das Wasser von den schimmligen Wänden tropft und das Gerücht umgeht, man habe noch Glück, wenn man bei Kerzenlicht operiert werde.

"Heute ist es noch viel schlimmer", erklärt mir die österreichische Botschafterin für Armenien, Georgien, Aserbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisien, Kasachstan und Tadschikistan, mit der ich zum Flughafen Schwechat fahre.

"1995-97, da herrschte Aufbruchsstimmung, da gab es noch Hoffnung, aber jetzt ist alles wieder viel schwieriger geworden."

Am Samstag, dem 26. Oktober 2002, dem österreichischen Nationalfeiertag, wieder nach Wien zurückgekehrt. Meine georgischen Freunde Chatuna und Claudio hatten mit mir am Vorabend Abschied gefeiert, nach dem Österreich-Empfang im Sheraton Metechi Palace in Tbilissi, wie Tiflis auf Georgisch heißt. Das Hotel wurde von Österreichern erbaut und von einem österreichischen Direktor geleitet. Chatuna, Claudio und ich gingen durch die  lobby, an einem Stand mit georgischen Andenken vorbei: Schmuck aus Silber, Weinschalen aus Ton und Trinkbechern. Der Saal sah aus wie alle Säle in  diesen neugebauten internationalen Hotels: auf dem Boden ein dicker Teppich mit eingewobenem Hotelsignet, Wände und Decke holzverkleidet. Links und rechts zwei Reihen mit silbrig glänzenden Metallhauben, unter denen das Buffet wartete. Ich nahm mir ein Glas Champagner, Claudio stellte mich einem Parlamentarier vor, der wichtig für das Wirtschaftsleben war. Ich hatte den Eindruck, dass die wichtigen Männer aus Wirtschaft und Politik auch äußerlich alle dem gleichen Typus angehörten: breite, niedrige Stirn mit Querfalten, braune Augen unter buschigen grauen Augenbrauen, breiter Nasenrücken, breiter Mund, energisches Kinn.       Obwohl mir das als Rückfall in völkerphysiognomische Betrachtungsweisen erschien, konnte ich mich dem Augenschein nicht entziehen.

Der offizielle Teil des Abends begann mit der Begrüßungsrede der österreichischen  Honorarkonsulin in englischer Sprache, die von einem schmalen, dunkelhaarigen Dolmetsch ins Georgische übersetzt wurde. Sie hatte ihre blonden Haare in einer Krone von kleinen Löckchen aufgesteckt und trug ein stilisiertes Dirndl. Die Rede enthielt keine politischen Aussagen. Alle Österreicher im Ausland würden sich am Nationalfeiertag, dem morgigen 26. Oktober, versammeln, um Österreich zu feiern. Als besondere Attraktion für die georgischen Gäste und die Botschafter aus anderen Ländern sei der Chefkoch des Hotels "Goldener Hirsch" aus Salzburg eingeflogen worden, um das Buffet mit österreichischen Spezialitäten vorzubereiten. Im Hintergrund ertönte der Donauwalzer, auf einer Videoleinwand konnte man einen Film mit Szenen aus Österreich sehen – Berge, Schnee, Schifahrer, schöne Landschaften, alles wie aus dem Bilderbuch. Von der Rede des georgischen Außenministers, eines glatzköpfigen gepflegten Herrn, verstand ich kein Wort, weil der Dolmetscher fast flüsterte. Alle klatschten, das Buffet war eröffnet. Ich lotste Claudio und Chatuna zu den kalten Vorspeisen: Tafelspitzsülzchen mit Kernöl, Hirschschinken mit Preiselbeerschlagrahm und kleine faschierte Laibchen. Besonders das Kernöl zum Tafelspitz und der Preiselbeerschlagrahm, den zuerst niemand angerührt hatte, erregten Entzücken. Jemand versuchte, Walzer zu tanzen, aber auf dem dicken Teppich rutschte es nicht so recht. Vom Personal wurden hellblau glasierte Pralinen mit dem internationalen e-Mail-Signal für "Spaß" herumgereicht.

Claudio stellte mich einem weiteren Freund, dem Handelsattaché bei der griechischen Botschaft,  und seiner Frau vor.

"Wir haben hier geheiratet, in diesem Hotel, und auch Walzer getanzt."

Die Frau war blond, und ich fragte sie, ob sie aus Westgeorgien käme. Man hatte mir erzählt, dass dort die Frauen blond seien.

"Nein, aus dem Kaukasus. Wir hatten nicht so viele fremde Eroberer, Mongolen und Muslime. Das Blut hat sich nicht so vermischt."

"Wie sehen Sie die Zukunft Georgiens?" fragte ich den Handelsattaché.

"Sehr schlecht. Vielleicht wird sich ein paar Generationen nach Schewardnadse etwas ändern, aber vorher nicht. Es gibt hier eine korrupte Schicht, die unersättlich ist. Sie haben sich schon unglaublich bereichert, aber sie können einfach nicht genug bekommen. Sie nehmen immer mehr."

Ich erzählte, dass ich von der österreichischen Botschafterin für Zentralasien und den Südkaukasus hierhergeschickt worden sei, die sieben Länder betreuen müsse, aber ihren Botschaftssitz in Wien habe und die mit wenigen Mitteln ein erstaunliches Kulturprogramm auf die Beine gestellt habe.

„Ich weiß nicht, wer da mehr zu bedauern ist: die sieben Länder oder diese Frau“, war sein Kommentar.

Auch ein georgischer Maler, eindrucksvoller Kopf mit kurzen grauen Haaren, und seine Frau, ebenfalls eine Blondine mit unvermischtem Blut, wurden mir vorgestellt. Der Maler war nicht sehr gesprächig, doch seine Frau meinte nachdenklich:

"Es ist jetzt ganz anders als früher. Man sieht so viele arme Menschen. Wenn ich auf den Bazar gehe, zum Einkaufen, da stehen jetzt Leute, die wertlose Sachen verkaufen wollen, nur damit sie irgendwie zu Geld kommen. Viele davon abchasische Flüchtlinge. Sie tun mir so leid, aber was soll man machen?"

Inzwischen bin ich nach Hause zurückgekehrt und in eine wochenlange Grippe versunken. Gestern Abend haben Chatuna und Claudio angerufen, Grund genug, meine Aufzeichnungen fortzusetzen. Zur Beförderung meiner Genesung öffne ich die Flasche "Old Tbilissi", trockenen Rotwein, den mir Claudio mitgegeben hat.

Zurück also nach Wien, zu den Reisevorbereitungen. Am Vormittag des 21. Oktober machte ich mich auf den Weg in die Innenstadt, in die österreichische Botschaft für Zentralasien und den Südkaukasus, um zu meinem Visum zu kommen. Ein Botschaftsangestellter hatte mir mitgeteilt, dass bereits eine Verbalnote vorbereitet sei, die ich nur abzuholen brauche. Am Ballhausplatz angekommen, fragte ich den wachhabenden Soldaten, ob ich hier richtig sei, für das Außenministerium. An sich nicht, doch als ich ihm das e-Mail des Botschaftsangestellten zeigte, ließ er mich hinein. Ich solle beim Pförtner fragen. Der Pförtner schickte mich weiter, zuerst durch eine Glastür links, dann über einen Innenhof, dort eine Türe rechts, Stiege II. Ich kletterte die enge Stiege hinauf, kam in einen Gang, fand nach den Türnummern das Büro des Beamten, mit dem ich telefoniert hatte, doch es war zugesperrt. Ein Herr kam den Gang entlang.

"Nein, der Herr S. ist heute nicht da, der ist im Spital."

Schließlich fand ich in den verwinkelten Gängen eine Tür, an der der Name eines Herrn stand, mit dem ich ebenfalls telefoniert hatte. Die Tür stand offen, ein jüngerer Beamter und eine Beamtin saßen an ihren Schreibtischen an den Bildschirmen.

"Ah, da sind Sie ja. Wir haben schon miteinander telefoniert."

Anscheinend wurde ich erwartet. Ich fragte nach der Verbalnote, und nach einem Telefonat mit einem weiteren Mitarbeiter fand sich das Stück auf dem Schreibtisch, ordnungsgemäß vorbereitet. Der junge Mann versuchte noch, mir den Weg zur Georgischen Botschaft zu erklären.

"Sie soll irgendwo beim Schwarzenbergplatz sein", warf ich ein, das hatte mir ein georgienkundiger Freund erklärt, mit dem ich mich am Abend zuvor im Café Landtmann getroffen hatte. Er war während der Sowjetzeit oft in Georgien gewesen und hatte mir vorgeschwärmt, wie schön es damals dort gewesen sei, wie toll das Essen, dass man sich als Tourist habe relativ frei bewegen können und dass die Georgier ihre Heimat so sehr liebten, dass fast niemand auswanderte. Auch das habe sich inzwischen verändert.  

Der Botschaftsangestellte hatte keine Ahnung. wo die Botschaft lag, und schaute auf die Verbalnote, wo die Adresse stand. "Marokkanergasse".

"Und wie komme ich da hin?"

Die beiden wussten es nicht, obwohl sie offensichtlich aus Wien waren.

"Haben Sie keinen Stadtplan?", fragte ich.

So etwas Altmodisches wie einen Stadtplan gab es schon lange nicht mehr. Der junge Mann wollte im Internet nachschauen, doch die betreffende Seite war ständig überlastet. Schließlich klappte es mit einem anderen Link. Ich bekam den ausgedruckten Planausschnitt und den Hinweis, mit dem D-Wagen zum Schwarzenbergplatz zu fahren und von dort zu Fuß weiterzugehen.

Die Botschafterin residierte einige verwinkelte Gänge weiter, in einem wohnlich eingerichteten Büro mit orientalischen Accessoires und Kinderzeichnungen hinter dem Schreibtisch. Eine kleine, distanzierte, höfliche Dame, mit offenen, schulterlangen Haaren. Sie bot mir an, dass wir zusammen am Nachmittag im Dienstwagen zum Flughafen fahren könnten. Dann machte ich mich auf den Weg in die Georgische Botschaft.

In der Eile hatte ich keine Zeit, einen Fahrschein zu kaufen - so fuhr ich schwarz. Mit mir stieg eine dunkelhaarige Frau ein, begleitet von einem Kamerateam und einer Reporterin. Als wir am Parlament vorbeifuhren, hatte ich mitgehört, dass die Dunkelhaarige eine aus der Türkei stammende Wienerin war, die in ihrem Bezirk für die SPÖ kandidierte und auf einen Erfolg bei den Nationalratswahlen hoffte.

"Haben Sie Mut gebraucht, für Ihre Entscheidung zu kandidieren? Sie sind die erste Türkin, die in Österreich für Wahlen kandidiert."

Die Frau verneinte und gab sich zuversichtlich. Dann hielt die Reporterin mir das Mikro vor die Nase und fragte:

"Finden Sie es nicht toll, dass eine Türkin, die die österreichische Staatsbürgerschaft hat, hier in Wien kandidiert?"

Ich sagte, dass ich es nicht "toll" fände, sondern selbstverständlich und dass gerade Wien immer schon - wie das alte Österreich - eine Vielvölkerstadt gewesen sei. Dann waren wir am Schwarzenbergplatz angelangt, und ich musste aussteigen.

"Ich fliege heute nach Georgien", sagte ich zum Abschied zu der Wiener Türkin.

"Ah, nach Dornbirn, das kenne ich auch", strahlte sie mich an.

"Georgien", sagte ich noch einmal und machte mich davon.

Da ich nicht genau wusste, in welche Richtung die Marokkanergasse abzweigte, frage ich einen älteren, seriös aussehenden  Herrn nach dem Weg.

"In welchen Teil müssen S' denn, von der Marokkanergasse? Die ist so lang, da können S’ leicht verkehrt gehen."

Ich nannte ihm die Adresse der Botschaft.

"Wissen S' was, ich muss eh ein Stück in die gleiche Richtung, ich führ‘ Sie hin, dann können S' gar nicht mehr fehlgehen."

Im Außenministerium hatte ich schon einen Blick auf die sogenannte Verbalnote geworfen und ein paar Sätze flüchtig gelesen. Ich zog das Blatt aus dem Umschlag und vertiefte mich in die Lektüre. Wunderbar gedrechselte Formulierungen, die musste ich mir aufschreiben, bevor ich das Blatt abliefern würde. Am Ende der Marokkanergasse stand eine Telefonzelle, eine richtige gute, alte Telefonzelle mit Dach, Wänden und Tür, in die man verschwinden konnte wie in einen Zufluchtsort. Ich trat ein und zog mein Notizbuch heraus.

"Die österreichische Botschaft entbietet der Botschaft von Georgien ihre Empfehlungen und beehrt sich um Ausstellung eines Courtoisiesichtvermerks für - dann kam mein Name, mit Titel - zu ersuchen. Die österreichische Botschaft benützt die Gelegenheit, der Botschaft von Georgien der Versicherung ihrer ausgezeichneten Hochachtung zu erneuern."

Es hieß tatsächlich "der Versicherung", aber bei diesem gewundenen Stil hatte der Schreiber oder die Schreiberin anscheinend den Überblick verloren.

Nun machte ich mich auf den Weg durch das mit dem Georgischen Wappen, einem heiligen Georg, geschmückte Tor, eine Stiege hinauf, in die Botschaft. Zwei hübsche junge Damen nahmen die Verbalnote und meinen Paß in Empfang, Sie sprachen beide sehr gut Deutsch und luden mich ein, auf einem Sofa Platz zu nehmen. Die englischsprechende Dame im Tigerlook kümmerte sich um mein Visum. In einem weiteren Prospekt entdeckte ich  ein Höhlenkloster, den Hafen von Batumi und das Innere des Sheraton Metechi Palace-Hotels in Tiflis. Am Schluss hieß es:

"Um Georgien besser zu verstehen und um seine Rhythmen besser zu spüren, sollte man in dieses Land kommen, sein kulturelles Erbe kennenlernen und Geschäfte machen. Dieser Besuch wird dauerhafte und unauslöschliche Erinnerungen hinterlassen."

Der Prospekt stammte von der GZA, dem staatlichen georgischen Fremdenverkehrsbüro im Staatsministerium für Tourismus und Kurorte.

In der FAZ hatte ich kurz vorher einen Artikel gelesen, "Nicht nur Georgien pocht an die Tür der Nato", mit dem Fazit:

"Welche Richtung die Debatte über die künftige geopolitische Reichweite der Nato mittlerweile in Amerika nimmt, hatte in zugespitzter Form der frühere Sicherheitsberater Brzezinski in Prag unmittelbar vor Beginn der Nato-Gipfelkonferenz deutlich gemacht. Danach sollte die Nato die Ukraine, Georgien und Aserbeidschan in ihre Reihen als vollwertige Mitglieder aufnehmen, Staaten also, die angesichts ihrer prekären inneren Verfassung oder der Art der Herrschaft heikle Kandidaten wären, aber für Amerika eben strategisch interessant. Und ob das eine Idee ist, die zur Verwässerung der Nato führen würde oder nicht: Der georgische Präsident Schewardnadse hat schon mal leise angedeutet, daß sein Land, dessen Gemengelage innerer Konflikte kaum zu überblicken ist und das im Verdacht steht, Rückzugsraum für tschetschenische und islamistische Terroristen zu sein, vielleicht im Jahre 2005 an die Tür der Nato klopfen wolle."

Gestern haben Claudio und Chatuna wieder angerufen. In Tbilissi hat es heftig geschneit. Meine Grippe hat mittlerweile fünf Wochen gedauert, doch seit zwei Tagen bin ich nun fieberfrei und auf dem Wege der Besserung. Zeit, meine georgischen Aufzeichnungen weiterzuschreiben.

Zurück also nach Wien: An jenem 21. Oktober fand ich mich kurz vor 15 Uhr wieder per Taxi mit meinem Gepäck am Ballhausplatz ein. Im Hof stand der Dienstwagen bereit, ein dunkelblauer BMW. Zuerst ging es zum Wohnhaus der Botschafterin, einem Block aus der Gründerzeit, dann nach Schwechat, vorbei an den Gasometern, die ich noch von innen gesehen hatte, als dort 1988 die Ausstellung "100 Jahre Zukunft" über die Geschichte der Sozialdemokratie in Österreich stattgefunden hatte. Die Ausstellung, die schneckenförmig den Wänden des Gasometers entlang an einer sich nach oben windenden Treppe aufgebaut war, endete vor einer Tür, mit dem fiktiven Ausblick in die Zukunft. Als ich die Tür öffnete und ins Freie trat, schlug mir ein heftiger Gestank entgegen. Inzwischen sind die Gasometer zu lifestyle-Wohnungen und Geschäften umgebaut worden.

In Schwechat trennten sich unsere Wege. Ich reihte mich in die Schlange für Economy ein, die Botschafterin war allein bei der  Business Class. Nach ihrem Rat kaufte ich noch zwei Schachteln mit Mozartkugeln, als typisch österreichisches Mitbringsel.  Im Flugzeug, einer Boeing der Turkish Airlines, saß ich allein am Fenster, umgeben von vorwiegend türkisch sprechenden Männern, alle dunkel gekleidet. In Istanbul war Zwischenlandung, in dem prachtvollen, an ein Schloss erinnernden Flughafen aus hellem Stein, dem Atatürk Airport. Die Botschafterin nahm mich mit in die First Class Lounge, einem Saal mit Polstergruppen, einer Theke mit Getränken und kleinen Imbissen und vielen Fernsehgeräten, die über den ganzen Raum verteilt waren. Dann, nach eineinhalb Stunden, weiter in die Maschine nach Tbilissi, ich wieder nach hinten, wieder allein am Fenster, wieder umgeben von dunkel gekleideten Männern und einigen Frauen. Draußen schien der Vollmond, auf dem kleinen Fernsehschirm an der Vorderlehne verfolgte ich, wo sich das Flugzeug gerade befand, wie kalt es draußen war (meist minus 40 Grad Celsius) und wie weit wir noch zu fliegen hatten.

Kurz vor dem Ziel dann heftige Turbulenzen, wir sackten ab, dann ging es wieder aufwärts. Die Landung ging glatt vor sich. Der Flughafen ein niedriges unscheinbares Gebäude, die Hinweistafeln auf Georgisch, also unleserlich, und Gott          sei Dank auch in lateinischer Schrift auf Englisch. Auch die Kontrollen waren ganz normal, nach der Lektüre von Clemens Eich war ich auf bewaffnetes Militär gefasst gewesen. Wir wurden von einem Chauffeur des Sheraton Metechi Palace  abgeholt, der uns zu seinem Wagen führte, durch anfallsartig heftige Windböen. Die Straße nach Tbilissi eine schnurgerade Piste, selbst um diese Zeit, drei Uhr nachts Ortszeit, Georgien ist Mitteleuropa um zwei Stunden voraus, sah man ab und zu kleine schäbige Bretterbuden mit Colaflaschen, Dosen und großen Plastikflaschen mit verschiedenen Getränken am Straßenrand, spärlich beleuchtet und mit einer dickvermummten Frau oder einem dickvermummten Mann in einem Stuhl, die auf Kunden warteten und vor sich hindösten. Die Bäume bogen sich im Wind fast bis zum Boden, der Vollmond schien auf jagende Wolken, man sah die Silhouette eines Gebirges.

Und schon waren wir angekommen, ohne dass wir durch ein Stadtzentrum gekommen wären. Das Sheraton lag etwas außerhalb. Es war ein neuerbautes Hochhaus auf einer Anhöhe am Stadtrand. Im Inneren die typische Luxusgefängnisarchitektur: ein überdachtes Atrium, rundherum auf ca. 10 Stockwerken die Galerien, auf die die Zimmertüren führten. Lifte in durchsichtigen Schächten, an den Wänden Glassäulen mit perlenden Lichtkaskaden im Inneren. Da wir schon um sieben Uhr wieder frühstücken und dann nach Kutaissi in Westgeorgien aufbrechen würden, sollte ich den kleinen Rest der Nacht in der Suite der Botschafterin verbringen. Ein eigenes Zimmer für mich wäre zu kostspielig gewesen. Für die Unterbringung waren die Georgier zuständig, und die hatten kein Geld. Ich war zu müde, um zu protestieren. Wo ich in den anderen Nächten schlafen sollte, war noch immer ungeklärt. Die letzte Auskunft lautete, dass der Rektor der Universität auch eine Pension betreibe, in der ich untergebracht werden würde.

In der Suite gab es einen Arbeits-Wohnbereich mit Schreibtisch, Faxgerät, Internetanschluss und einer Sitzgruppe mit Sofa und ein großes Schlafzimmer. Nachdem ich geduscht hatte, streckte ich mich im Pyjama auf dem Sofa aus, für drei Stunden, zugedeckt mit dem weißen Bademantel aus dem Hotelbad. Ich war so müde, dass mir alles gleichgültig war, und schlief sofort ein. Die Klimaanlage war auf ziemlich kühl eingestellt. Thomas Bernhard hätte diese Situation nicht so stoisch ertragen: die Staatsmacht im Daunenbett, die Literatur auf der Couch.

   Nach drei Stunden, um halb sieben, summte der Wecker. Aufstehen, im

weißgekachelten Bad duschen, umgeben von den Toilettenutensilien der Botschafterin, dann ging es wieder hinunter im gläsernen Liftschacht, in den Frühstücksraum. Ein riesiges Buffet, internationaler Standard, dazu typisch georgische Speisen wie weißer Schafskäse, Honig in Waben und Granatäpfel. Zum Kaffeetrinken dienten Henkelbecher mit einem farbenfrohen Dekor. Ich hatte kurz zuvor gelesen, dass laut Lombroso der geborene Verbrecher Henkelohren habe. Kaum saßen wir, kam ein Herr an den Tisch, ein niederösterreichischer Rinderzuchtexperte, der hier Geschäfte machen wollte, nach ihm ein Druckereifachmann. Dann eine Dame im grauen Kostüm, blond, gepflegt, die aussah, wie aus dem Ei gepellt, obwohl sie gerade erst mit dem Austrian Airlines-Flug aus Wien eingetroffen war. Es war die österreichische Honorarkonsulin, die hier das AUA-Büro leitete.

Um sieben Uhr dreißig brachen wir in Richtung Westen auf. Wir kletterten in den Botschaftswagen, einen Landrover, vorne der Chauffeur und die Honorarkonsulin, hinten die Botschafterin und ich. Im Morgenlicht sah man auf den Festungsberg von Tbilissi, darunter zog sich der Fluss hin, dessen Namen MTKWARI war, den ich mir aber erst nach einigen Anläufen merken konnte. Ich hatte Herzklopfen vor Aufregung. Verglichen mit Clemens Eich, bei dessen Ankunft unfreundliche Militärs die Reisenden in einen klapprigen Bus geschubst hatten und der in einer kümmerlichen Privatwohnung untergebracht worden war, noch dazu im Winter, in einer dunklen Stadt mit Stromausfällen und Menschen, die sich an brennenden Autoreifen wärmten, war meine Ankunft ein Fest, trotz der Nacht auf der Couch. Es wehte noch immer ein kräftiger Ostwind, wenn auch nicht mehr so stark, der Himmel war schimmernd porzellanblau, im Osten ging gerade die Sonne auf, und im Westen versank der Vollmond als bleiche Scheibe in einem Bett  von rosa Wolken, man kann es nicht anders ausdrücken. Auf einer Postkarte Kitsch, in der Realität wunderschön.  Rechts in der Ferne türmten sich die schneebedeckten Gipfel des Kaukasus.

Ich hatte in einem Reiseführer ein Foto des Kaukasus gesehen: eine steil aufragende Felswand, im Vordergrund ein Hirte mit Schafen. Der Berg, den man im Hintergrund sehe, sei der Fels, an den Prometheus von Zeus geschmiedet worden war und wo er vielleicht noch immer mit Goethe schrie: „Ich dich ehren?/ Wofür/? Hast du die Schmerzen gelindert/ Je des Beladenen?/ Hast du die Tränen gestillet/ Je des Geängsteten?/ Hat nicht mich zum Manne geschmiedet/ Die allmächtige Zeit/ Und das ewige Schicksal,/ Meine Herrn und deine?“ Wir befanden uns hier mitten in der Antike, auf dem Weg nach Kolchis, in das Land Medeas. Von hier stammte das Goldene Vlies, laut Führer sei dieses goldene Fell so zustande gekommen, dass man in  goldstaubführende Bergbäche ein Schaffell gelegt habe, das nach einiger Zeit von Gold überzogen gewesen sei. Dies die "wissenschaftliche" Erklärung.

Die Straße hatte keinen Mittelstreifen, auch rechts und links ging sie unmittelbar in die Landschaft über. Im Grunde musste ich sehr müde sein, aber ich spürte nichts davon. Die Landschaft wurde immer bergiger, der Weg immer kurvenreicher. Links und rechts Laubwald mit Eichen und Buchen, unten rauschte ein Bergfluss, nicht reguliert wie bei uns, sondern richtig wild. Am Straßenrand saßen manchmal Leute, an einer schattigen Stelle in einem Tal zwei Frauen, die einen Korb mit Pilzen vor sich stehen hatten. Auch Tonwaren und Korbflechtereien wurden angeboten. Als die Gegend schon so gebirgig war, dass ich darauf wartete, jetzt endlich die Passhöhe des Rikoti zu erklimmen, fuhren wir in einen Tunnel ein, in der Sowjetzeit gebaut, spärlich beleuchtet, aber mit einem massiven Gewölbe, das wirkte, wie für die Ewigkeit errichtet.

Auf der anderen Seite hatte sich die Landschaft komplett verändert: Es war die kolchische Tiefebene, das Sonnenland Aia der Antike, die sich vor uns ausbreitete, sehr grün, sehr wellig, eher flach. Der Fahrer hielt kurz am Straßenrand an und befestigte eine kleine österreichische Standarte vorne auf der Kühlerhaube. Jetzt waren wir für alle sichtbar in offizieller Mission unterwegs. Die Straße führte in Kurven durch eine waldige Gegend, unterbrochen von Buschwerk und Baumgärten mit Feigen- und Nussbäumen und Weinreben. Einmal kamen wir durch ein Dorf, wo am rechten Straßenrand ganze Reihen von Töpferwaren aus dunkelrotem Ton aufgestellt waren. Ein paar Schweine flanierten über die Straße. Wir beschlossen, am Rückweg hier Halt zu machen, jetzt waren wir in Eile, wegen des Empfangs in Kutaissi. Es war nicht einmal Zeit, die Überreste der Kathedrale "Maria Entschlafen" und die Akademie von Gelati zu besichtigen, die der berühmte König Dawit der Erneuerer im Mittelalter gegründet und gebaut hatte.

Links an der Straße sah man die  Ruine eines riesigen Industriekomplexes. In der Sowjetzeit war hier ein Mangan- und Eisenhüttenwerk gewesen, erklärte mir die Botschafterin, die Schließung sei im Grunde ein Glück, weil die Umweltbelastung katastrophal gewesen sei. Der Straße entlang reihten sich kaputte Traktoren, Brachland, verlassene Tankstellen und verfallene Ställe. Ich merkte gar nicht, wie wir in Kutaissi einfuhren, der Übergang war kaum spürbar gewesen, und schon bogen wir in den Hof eines Gebäudekomplexes ein.

Wir waren angekommen, in der Universität von Kutaissi, der Hauptstadt der Provinz Imeretien in Westgeorgien, wo auch Berta von Suttner, die früher eine hohe österreichische Banknote geziert hatte und jetzt die 2€-Münze und die als Friedensnobelpreisträgerin und Verfasserin von "Die Waffen nieder!" noch heute bekannt ist, sieben Jahre lang mit ihrem Mann gelebt hatte. Kaum waren wir ausgestiegen, wurden wir auch schon von Scharen von jungen Menschen umringt, die meisten dunkel gekleidet. Eine wohlbeleibte Dame mit ausgebreiteten Armen und wehenden schwarzen Gewändern kam auf uns zu und begrüßte uns alle sehr herzlich. Es war eine Professorin des Germanistischen Institutes, die auch als Dolmetscherin fungieren würde. Und schon ging's hinein, in das Hauptgebäude, zunächst zum Büro des Rektors, dann gleich in einen vollen Hörsaal. Die Botschafterin und die Honorarkonsulin waren inzwischen bei  Gesprächen mit dem Rektor. Offenbar erwartete man von mir einen Vortrag über die gegenwärtige literarische Situation in Österreich; mir war gesagt worden, ich solle aus meinen Büchern lesen. Doch angesichts der gespannten Gesichter improvisierte ich eben einen Vortrag.  

Ohne Pause ging es dann weiter in die Eingangshalle der Universität, wo bereits die Botschafterin und die Honorarkonsulin warteten. Ich wurde dem Gouverneur von Imeretien vorgestellt. Sofort begannen die Reden, die von der Dolmetscherin in ihren wehenden schwarzen Gewändern übersetzt wurden. Hier wurde ein Österreich-Studienzentrum aufgebaut, eine kleine Bibliothek war schon vorhanden. Heute wurde die Fotoausstellung "Die dritte Generation", die 1995 bei der Frankfurter Buchmesse beim österreichischen Messeschwerpunkt gezeigt worden war, eröffnet, mit Fotos von Menasse, Jelinek, Jonke, Handke und so weiter. Auch ich war dabei. Nach der Botschafterin ergriff der Gouverneur das Wort. Er sei auch schon in Österreich gewesen, in Wien und in Salzburg, und habe dort mit seinem Mantel Aufsehen erregt. Es sei ein Mantel aus Kutaissi gewesen. Eigentlich ein ganz normaler Mantel.

Nach der Universität sollte die Botschafterin noch dem SOS-Kinderdorf am Stadtrand einen Besuch abstatten. Die Dolmetscherin fragte zum Abschluss, ob noch jemand etwas sagen wolle und sah mich dabei bedeutungsvoll an. Ich dachte daran, was mir ein Freund über die georgischen Tischreden eingeschärft hatte, dass es nämlich als extrem unhöflich gelte, wenn man eine solche Rede nicht aufnehme und erwidere. Offenbar war jetzt so eine Gelegenheit, wo eine Wortmeldung erwartet wurde. Ich trat nach vorne, nahm das Mikrofon und improvisierte eine kleine Ansprache über Westgeorgien und Westösterreich, woher ich kam. Die meisten Ausländer setzten Österreich mit Wien gleich. Ich aber käme aus Vorarlberg, dem westlichsten Zipfel. Hier, in Kutaissi, kenne man wahrscheinlich als einzige Österreicherin Bertha von Suttner, die Friedensnobelpreisträgerin, doch es gebe auch einen Herrn aus Vorarlberg, der in Kutaissi bereits seine Spuren hinterlassen habe. Hermann Gmeiner, der Begründer der SOS-Kinderdörfer, von denen eines auch hier stehe, wie ich soeben erfahren habe, stamme aus Vorarlberg. Ich war aufgeregt, aber die kleine Rede schien gut anzukommen. Jedenfalls ergriff der Gouverneur von Imeretien noch einmal das Mikrofon und betonte, wie stolz sie hier gerade als Westgeorgier seien. Wir hätten auf der Herfahrt eine Wasserscheide überschritten, zwischen der Mtkwari, die durch Tbilissi fließe, und dem Rioni, dem wichtigsten Fluss hier in Westgeorgien.

"Das Ufer des Rioni ist die Grenze zu Europa. Wir hier sind in Europa, Tbilissi ist Asien." Kräftiger Beifall. Zufällig hatte ich also in ein politisches Wespennest gestochen.

Dann wurden wir in einen kleineren Raum geführt, in dem an drei Wänden entlang auf Tischen ein Buffet aufgebaut war. Ich kam vor lauter Begrüßen und Händeschütteln kaum dazu, mich dem Essen zuzuwenden. Der Gouverneur drückte mir ein Glas mit georgischem Weißwein in die Hand. Er brachte einen Trinkspruch auf mich aus, ich erwiderte, so gut ich konnte, aß ein Stück einer süßen Teigtasche, und dann mussten wir schon wieder weiter, zum nächsten Programmpunkt.

Im Festsaal hatten die Studenten eine Österreich-Feier vorbereitet, anlässlich des nahenden österreichischen Nationalfeiertages am 26. Oktober. In Österreich feiert im Grunde kein Mensch den Nationalfeiertag, außer mit Fitnessläufen. In meiner Schulzeit hieß er "Tag der Fahne" und war noch kein Feiertag. Der Festsaal lag ein Stockwerk höher und erschien geradezu rührend in seiner verblichenen Pracht: an den Fenstern Wolkenstores und verschossene rosa Vorhänge, von der Decke hing ein Kronleuchter, vorne stand ein Flügel. Die Botschafterin, die Honorarkonsulin und ich nahmen als Ehrengäste in der ersten Reihe Platz, dann begann das Fest. Zwei schlanke großäugige junge Menschen, ein junger Mann in einem enganliegenden schwarzen Anzug und seine Partnerin in einem weißen Ballkleid aus Tüll, tanzten den Donauwalzer, ein anderer Student spielte am Klavier. Als Moderatoren traten vier Studenten beiderlei Geschlechts auf, die ein sorgfältig artikuliertes, tadelloses Deutsch sprachen und sich vollkommen frei ausdrückten. Sie erzählten die Dinge, die man als Österreicher im Ausland gerne hört: Österreich, das Land der Kultur, das Land Mozarts, Schuberts, das Land einer großen Literatur, das Land mit bedeutenden Malern. Sogar einige aktuelle zeitgenössische Künstler wurden genannt. Die Studenten waren auch auffällig gut über die politische Geschichte informiert, besser wahrscheinlich als mancher Österreicher. Auf das Tanzpaar folgte eine Studentin, die eine Mozart-Sonate spielte, mit einer steilen, konzentrierten Falte an der Nasenwurzel, dann eine schüchterne Sängerin mit dem Schubert-Lied, "Über den Wassern zu singen", schließlich eine schwarzhaarige Schöne,  die Liszt geigte, russische Schule, sehr temperamentvoll.

Neben mir saß eine ältere Dame, die mir zuflüsterte:

„Ich bin aus dem Saarland. Das Saarland arbeitet schon viel länger mit Georgien zusammen als Österreich.“

Als die Dolmetscherin fragte, ob noch jemand etwas sagen wolle, sprang sie auf, stellte sich vor das Publikum und erzählte, dass die deutsch-georgische Freundschaft und die Partnerschaft mit dem Saarland schon seit zwanzig oder dreißig Jahren bestünden, wie wichtig diese Kulturkontakte seien und dass es das alles schon viel länger gebe als den Österreich-Club. Die Botschafterin wirkte indigniert, sagte aber nichts.

Von der Feierstunde wurden wir in den Österreich-Club geführt, ein kleines Zimmerchen, das mit viel Enthusiasmus eingerichtet worden war. An den Wänden hingen Tourismus-Plakate aus allen österreichischen Bundesländern, eine bescheidene Bibliothek war auch schon eingerichtet, und dort stand auch der Sammelband mit ins Georgische übersetzten österreichischen Schriftstellern, den Mzia G. von der Universität Tbilissi herausgegeben hatte, unter anderem mit der Übersetzung einer meiner Erzählungen, "Beware of the Naked Man". In dieser Geschichte trifft der nackte Kafka auf meine Großmutter. Der Gouverneur von Imeretien schnappte sich den Band und zog sich in eine Ecke zurück, dann kam er zu mir und sagte:

"Sie brauchen keine Angst vor nackten Männern zu haben. Nur so pflanzen sich Dichter fort." 

Das SOS-Kinderdorf lag etwas am Stadtrand, in einem Waldgebiet. Die Häuser waren aus glasierten gelben Ziegeln. Bewohnt waren sie noch nicht, aber schon fast fertig. Dann machten wir uns auf den Rückweg, da am Abend in Tbilissi schon wieder ein Empfang auf dem Programm stand. Diesmal hielten wir bei den Töpferwaren am Straßenrand an und kauften Trinkschalen mit einer georgischen Inschrift, die soviel wie „Auf die Gesundheit“ bedeutete. In einer engen, schattigen Talsenke hielten wir vor zwei Ständen, an denen lange, eigenartige Gebilde von Schnüren hingen. Es handelte sich um Nusswürste, das waren Nüsse, die an einem Faden aufgereiht und durch einen dick eingekochten Weinsirup gezogen worden waren. Trotz der Eile bogen wir dann doch noch von der Straße ab, in das Tal hinunter, um eine alte Kirche zu besichtigen. Der Fluss rieselte in seinem flachen Bett über Kieseln dahin, etwas entfernt sah man die einfachen Hütten eines Dorfes. Der Kirchhof war ummauert, die Kirche wurde gerade renoviert. Drei Mönche in schwarzen Kutten saßen auf einer Bank in der Sonne. An einer Stelle unter den Gewölben  war ein farbiger Druck eines Heiligenbildes an der Wand befestigt, davor brannten Kerzen.

Schließlich kamen wir nach Tbilissi zurück und warfen uns in den innerstädtischen Verkehr. Warfen ist der richtige Ausdruck, denn es gehörte Mut dazu, sich in diesem Chaos zurechtzufinden. Meine Stimmung  sank, denn nach den sonnigen ländlichen Gegenden war es hier im Dämmerlicht und bei spärlicher Straßenbeleuchtung düster und grau. Die Hausfassaden alle schwarz oder dunkel, die Menschen schwarz oder grau gekleidet, ein Bild des Trübsinns. Wie wohl die nächsten Tage hier verlaufen würden? Vielleicht hatte Clemens Eich doch recht. Die Botschafterin erklärte mir, dass Schwarz und Grau die Farben der billigsten Stoffe waren. Dem Fahrer gelang es, uns ohne Unfall zum Haus der Honorarkonsulin zu bringen, wo der Empfang stattfinden sollte. Drinnen war es kühl, es stimmte also, dass hier kaum geheizt wurde, selbst in einem solchen Haus nicht. Ich stand ein wenig verloren herum, auf einem Tisch waren Getränke aufgereiht, immer mehr Gäste kamen. Hier würde ich also meine Übersetzerin – ich stellte mir eine füllige, herzliche ältere Dame vor – und die Leute kennen lernen, bei denen ich wohnen würde. Die Pension des Rektors hatte sich inzwischen auch in Luft aufgelöst, nun hieß es, ich würde privat aufgenommen werden, von Universitätsleuten. Plötzlich kam eine große junge Frau auf mich zu, mit Zöpfen und einem Hängerkleid. Es war eine Deutsche aus Bayern, die hier in Tiflis Deutsch unterrichtete.

„Am Anfang konnte ich mir die Namen der Kinder überhaupt nicht merken, aber jetzt geht es schon besser.“

Dann sprachen mich zwei Studentinnen an, die mich in eine Diskussion über Literatur verwickelten und mit leuchtenden Augen verkündeten, die Literatur sei lebenswichtig für sie. 

Nun wurde ich meiner Übersetzerin vorgestellt. Es war keine füllige Matrone, sondern eine schlanke, rotblonde junge Frau. Sie wiederum stellte mich einer damenhaften Erscheinung mit schwarzer Pagenfrisur vor, die meine Quartiergeberin sein würde. Den Namen konnte ich mir beim besten Willen nicht merken, erst im Laufe der Woche wusste ich dann, dass dieses freundliche Wesen Frau Chatuna Z. war, die an der Universität Deutsch unterrichtete. Auch ihr Mann war dabei, Claudio, ein Norditaliener aus Rovereto, also eigentlich ein Altösterreicher, der sehr gut deutsch sprach. Nun wurden auf Tabletts in würziger Brühe mit Koriander gekochte Rindfleischhappen herumgereicht, die in großen Porzellanlöffeln serviert wurden. Irgendwann gab die Gastgeberin ein Zeichen, und alle stellten sich im Halbkreis auf. Die Botschafterin ergriff das Wort und würdigte den Rektor der Universität, der ebenfalls Germanist war, sowie meine Übersetzerin, Frau G., die die Österreich-Bibliothek aufgebaut hatte. Beide erhielten das große österreichische Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft.

Langsam wurde ich müde, es war ja doch ein langer Tag gewesen. Und schließlich löste sich die Gesellschaft auf. Claudio steuerte traumwandlerisch durch den chaotischen Verkehr. Es ging in die Altstadt, ein paar Straßen hoch, dann bogen wir rechts ab, dann noch einmal links. Das Stiegenhaus düster, aus den Wänden starrten elektrische Drähte in wirren Knäueln, die Farbe war abgeblättert und eine einzige Glühbirne brannte. Das Haus stammte noch aus der Stalinzeit. Im zweiten Stock lag die Wohnungstür, die jetzt auch meine sein würde. Nach dem Eindruck des Stiegenhauses war ich auf das Schlimmste gefasst, aber hinter der Tür lag eine sehr schöne geräumige Wohnung, mit Parkettböden und massiven Holztüren. Für mich hatte meine Gastgeberfamilie ihr Wohnzimmer zur Verfügung gestellt. Ich nächtigte auf einem als Bett hergerichteten Sofa zwischen einem Klavier, einem Schrank mit dem guten Porzellan und einem Bücherschrank. Vor meiner Reise war ich gewarnt worden, dass es in Georgien oft keinen Strom und auch kein warmes Wasser gebe, aber die Verhältnisse schienen sich gebessert zu haben. Ich war so müde, dass ich sofort einschlief. Vor dem Einschlafen geisterte noch kurz der Gedanke durch meinen Kopf, dass ich jetzt im Grunde bei wildfremden Menschen war und nicht einmal die Tür absperren konnte.

Am nächsten Morgen wachte ich vom Autolärm auf. Ich warf vom Balkon aus einen Blick über die Stadt: In der Ferne sah man einen weißen Berg, später erfuhr ich, dass es der Kasbek oder Kasbegi war, unten tobte der Verkehr um einen Platz herum. In der Küche stand Claudio und hatte für mich gedeckt. Ich entschied mich für italienischen Espresso und Brot mit Sulguni, weißem Käse. Rechts an der Wand hing ein Bild mit gemalten Granatäpfeln. Vor der Lesung fuhren wir noch ein wenig durch die Altstadt, dann über den Stalin-Platz, auf dem früher ein Stalin-Denkmal gestanden hatte und jetzt ein Springbrunnen. Schöne alte Häuser am Rande des Platzes waren abgerissen worden, um einem modernen Bankenkomplex Platz zu machen. Unten sah man den graugrünen Fluss MTKWARI, am felsigen Ufer blaugrün gestrichene Häuser.

„MTKWARI heißt ‚trübes Wasser‘“, erklärte mir Claudio. „Im Georgischen gibt es viele Wörter mit vier Konsonanten hintereinander.“

Nach und nach stieg die Straße in vielen Kurven durch einen Laubwald an, schließlich waren wir am Ziel, am Gipfel eines Berges, auf dem sich eine verwahrloste Parklandschaft ausdehnte. Mittendrin stand ein stattliches Gebäude, das ich am Abend vorher schon von der Stadt aus gesehen hatte. Es sei ein Hotel gewesen, war mir erklärt worden. Das Gebäude war mehrstöckig, die Fenster zerbrochen, keine Türen, der Putz blätterte ab. Drinnen sah man schemenhaft eine Gestalt in einem graugrünen Parka verschwinden. Der Eingang war imposant, innen dann eine Säulenhalle von gewaltigen Dimensionen, die Säulen aus schwarzem Porphyr. Eine große Freitreppe führte ins obere Stockwerk. Ich kam mir vor wie in einem Film von Tarkowskij.

„Hier war früher ein beliebtes Ausflugslokal, mit Eisdiele und Tanzbar. Während des Bürgerkriegs ist es zerstört worden, Sie sehen es ja. Noch vor zehn Jahren war hier jeden Abend Betrieb, man hat die Lichter von der Stadt aus gut gesehen, und natürlich auch tagsüber. Die Leute sind im Park spazieren gegangen, ganze Familien, haben ein Eis gegessen, sich auf die Terrasse gesetzt und das Leben genossen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch etwas.“

Wir verließen das zerstörte Hotel und gingen zum Rand der Terrasse, von der aus man einen herrlichen Ausblick auf die Stadt hatte.

„Hier, sehen Sie, die Reste einer Seilbahn. Und weiter drüben, da war noch eine Bahn. Von zwei Seiten konnte man hier herauf fahren.“

Claudio zuckte mit den Achseln, es sah bedauernd und etwas resigniert aus. Links lag ein verfallenes Häuschen, von dem Schienen in die Tiefe hinunter führten. Es erinnerte mich an die Hungerburgbahn in Innsbruck, die Bahn war nach demselben Prinzip konstruiert. Jetzt war alles verrostet und verfallen.

„Vor zehn Jahren, vor dem Bürgerkrieg, hat hier noch ein Betrieb geherrscht, das können Sie sich jetzt gar nicht mehr vorstellen.“

Drunten in der Stadt herrschte warmes Herbstwetter, die Leute auf den Straßen gingen mit offenen Mänteln umher. Der Boulevard, an dem die Universität lag, der Ilija-Tschawtschawadse-Prospekt, war voll mit jungen Menschen, die unter den Bäumen in Grüppchen herumstanden oder flanierten. Vor der Uni wartete schon Mzia auf uns, die Zeit war knapp.       

Ich war gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Der Rektor war eigens zu meiner Begrüßung gekommen und überreichte mir einen Strauß rote Blumen, die ich nicht kannte. Er forderte mich auf, den Mantel abzulegen, und aus Höflichkeit tat ich es, obwohl es in dem Hörsaal ziemlich kalt war. In den beiden ersten Reihen saß der Lehrkörper, interessante Köpfe meist höheren Alters, dahinter drängten sich die Studenten. Beim Lesen spürte ich, wie die Zuhörer mitgingen und genau an den richtigen Stellen lachten oder ernst wurden. So etwas hatte ich bei uns schon lange nicht mehr erlebt. Literatur wurde hier noch richtig ernst genommen und war nicht eine Ablenkung unter vielen anderen. Mein Selbstbewusstsein als Schriftstellerin stieg rapide an.

Dann führten Claudio, Mzia und Chatuna mich zum Essen aus, in die Innenstadt. Auch um diese Zeit, um halb fünf Uhr nachmittags, konnte man hier etwas bekommen. Nach einer kleinen Beratung, was wohl das Beste sei, gab Claudio die Bestellung auf. Als erstes kam der Rotwein, eine Flasche MUKAZANI. Dann wurde das Essen serviert, alles gleichzeitig in vollen Schüsseln: gefüllte Auberginen mit BASCHI, einer Sauce aus Walnüssen, knackiger Salat mit Petersilien- und Basilikumblättern, riesige ravioliähnliche Gebilde mit einem Teigstiel, Kebab, Schaschlick, Maisbrot und normales Brot. Nach den Auberginen machte ich mich über die Teigtaschen mit Stiel her.

„Das ist eine besondere Kunst, die so zu essen, dass die Flüssigkeit nicht herausrinnt. Die Honorarkonsulin beherrscht das perfekt.“, klärte mich Chatuna auf. Die Fleischfarce im Inneren, die mit Koriander gewürzt war, schmeckte köstlich, und auch ich schaffte es, vier Stück hintereinander zu essen, ohne dass etwas von der Brühe auf das Tischtuch getropft wäre. Kebab und Schaschlick kannte ich schon aus anderen Küchen, aber ich hatte den Eindruck, dass es hier besonders aromatisch und saftig war. Beim Dessert musste ich passen, ich konnte einfach nicht mehr.

Und schließlich wollte ich auch nicht bis zum Platzen gefüllt sein, denn der nächste Programmpunkt war ein Besuch in den seit der Antike weltberühmten Schwefelbädern von Tbilissi. Die Existenz der Schwefelquellen war überhaupt das erste gewesen, was ich über diese Stadt gehört hatte. Die mir damals noch völlig unbekannte Mzia hatte mir ein Mail geschickt und angefragt, ob ich nicht einmal nach Georgien zu einer Lesung kommen wolle. Ich hatte gleich begeistert zugesagt. Im nächsten Mail hatte sie mir von der Gründungslegende von Tbilissi berichtet: König Wachtang Gorgassali sei auf die Jagd gegangen und habe einen Fasan geschossen. Der Vogel sei vom Pfeil des Königs getroffen worden und in eine Schwefelquelle gefallen. Als der König gekommen sei, um seine Beute einzuheimsen, sei der Fasan verschwunden gewesen: das Wasser der Quelle habe ihn so schnell geheilt, dass er sich rechtzeitig in die Lüfte erheben und entkommen konnte. Wachtang Gorgassali, was soviel wie Wolfshaupt bedeutet, hat Georgien, das damals Iberien hieß, Ende des 5. Jahrhunderts von der persischen Herrschaft befreit. Die Schwefelquellen und die darüber erbauten Bäder blieben auch später berühmt. Alle waren dort gewesen: Dumas, Tolstoi, Turgeniew, Puschkin – und nun auch ich. Am Eingang zu den Orbeliani-Bädern, die wie eine Moschee aussehen sollten, stünden noch heute die Worte von Puschkin: „Nicht in Russland, nicht bei den Türken, fand ich, seit ich lebe, köstlicheres als Tiflis‘ Bäder.“

Nun waren wir also auf dem Weg ins Bäderviertel in der Altstadt. Direkt aus dem Boden ragten gemauerte Kuppeln, dahinter lag tatsächlich die bunte Mosaikfassade des Orbeliani-Bades. Mzia hatte für mich aber nicht dieses, sondern ein traditionelles Bad mit Kuppeln ausgesucht. Der Eintritt war auch für mitteleuropäische Begriffe ziemlich teuer, für Georgien geradezu Luxus, umgerechnet ungefähr zwanzig Euro. Die georgische Währung hieß Lari, doch ich war noch gar nicht dazu gekommen, Geld zu wechseln, da ich immer in Begleitung und immer eingeladen gewesen war. Das Bad wollte ich jedoch selbst bezahlen. Ich stellte es mir wie ein Thermalbad bei uns vor: ein Schwimmbecken für alle und Ruheräume. In einem feuchtwarmen Empfangsraum saß eine füllige, dunkelhaarige Frau hinter einer Theke, auf einer Bank warteten zwei Männer und rauchten. Ich wollte einen Badeanzug ausleihen, aber das war hier anscheinend nicht üblich. Ich bekam zwei Handtücher und wurde gefragt, ob ich auch Tee wolle oder eine türkische Massage. Wenn ich schon da war, wollte ich alles ausprobieren, also sagte ich ja. Die Bademeisterin würde mir eine halbe Stunde vor Ende der Badezeit ein Zeichen geben, indem sie das Licht kurz aus- und wieder einschalten würde.

Nun wurde ich in einen anderen Raum geführt, in dem ein Holzschrank für die Kleider in die Wand eingelassen war. Rechts gingen zwei Durchgänge ab, einer führte über ein paar Marmorstufen direkt zu einem in den Boden eingelassenen Becken, das ca. fünf mal fünf Meter maß und unter einer Kuppel lag, von deren oberem Ende Licht durch ein buntes Glasfenster hereinfiel. Vor dem Becken stand ein weißer Tisch mit Stühlen. Der zweite Durchgang führte zu einem Raum mit einer Marmorbank, daneben einem Becken, in das ebenfalls Schwefelwasser floss und einfachen, an der Decke angebrachten Duschen. An der Wand stand ein bequemes, ausgeleiertes Ledersofa. Von den Duschen führten ein paar Stufen direkt hinüber zum Schwimmbecken. Und das alles sollte ich nun fast zwei Stunden lang für mich allein haben! Es fehlte nur noch die orientalische Musik im Hintergrund. Die Bademeisterin machte ein Zeichen, dass sie bald wiederkäme.

Ich zog mich aus, hängte die Kleider in den Schrank, und stellte mich unter eine der Duschen. Das Wasser, das herausströmte, war ebenfalls Schwefelwasser, mit seinem charakteristischen Geruch nach faulen Eiern. Ich stieg in mein Privatbecken, lehnte den Kopf an den Rand und ließ mich in der warmen, intensiv riechenden Brühe treiben. Über mir wölbte sich die Kuppel mit dem bunten Glasfenster, das Licht war goldgelb gedämpft mit bunten Flecken, die Hitze und die Dämpfe machten mich müde, fast wäre ich eingedöst. Ob die Männer im Vorraum noch immer rauchten? Um mich zu ermuntern, raffte ich mich zu ein paar Schwimmbewegungen auf, doch davon wurde ich nur noch müder.

Die Tür ging auf, die Bademeisterin winkte mir freundlich zu und bedeutete mir, in den Nebenraum zu kommen. Sie zeigte auf die Marmorbank und machte eine einladende Handbewegung. Kaum hatte ich mich auf dem glatten Marmor ausgestreckt, wurde ich von oben bis unten eingeseift, dann ergossen sich mehrere Kübel voll Schwefelwasser über mich. Als nächstes spürte ich etwas Rauhes. Es war ein Massagehandschuh, mit dem die Bademeisterin mich abschrubbte. Wieder kamen mehrere Kübel Schwefelwasser nach, dann war die Massage beendet. Die Bademeisterin strahlte mich an und sagte: „Now tea.“ Ich nickte und strahlte begeistert zurück. Nach einigen Minuten kam die Frau wieder und stellte ein Tablett mit Schwarztee, Zuckerstücken und einem Teeglas auf den weißen Tisch. Ich aalte mich noch eine Weile in dem Marmorbecken unter dem gedämpft-bunten Licht, stieg dann heraus, wickelte mich in eines der Handtücher und setzte mich zum Tisch, um Tee zu trinken. Doch eigentlich war es viel schöner, den Tee im warmen Wasser zu schlürfen. Sicher war man früher in einem solchen Bad nicht allein gewesen. Der Führer, in dem ich zur Vorbereitung etwas herumgeschmökert hatte, erzählte von CHANUMAS, einer georgischen Spielart von Kupplerinnen, die in den Bädern umhergingen und später die Vorzüge der Figuren der badenden Damen der Männerwelt bekannt machten. Dann stieg ich aus dem Wasser, ging noch einmal unter die Dusche, aber auch hier gab es nur warmes Schwefelwasser, ich konnte mich nicht einmal abkühlen, trocknete mich mit einem der Handtücher ab, wickelte mich in das andere ein und legte mich auf das abgewetzte Ledersofa. Das Flackern des Lichtes riss mich aus meinen Träumereien. Ich musste zusehen, dass ich in einer halben Stunde trocken und angezogen war. Meine Haut und meine Haare rochen intensiv nach Schwefel, aber das würde ich hier wohl nicht mehr loswerden. Ich fühlte mich wunderbar entspannt, wenn auch etwas müde. Welche unsichtbaren Wunden auch immer ich vorher gehabt haben mochte, nun waren sie sicher geheilt.

Draußen im Vorraum warteten bereits Mzia und ihr Mann auf mich, um einen kleinen Ausflug mit mir zu machen. Es war noch hell, doch man spürte schon die Dämmerung. Wir fuhren wieder durch die Altstadt.

„Das hier ist die Synagoge, und gleich daneben liegt eine Kirche und eine Moschee. In Tbilissi hatten wir immer religiöse Toleranz.“

Man sah ein paar dunkel gekleidete Männer auf dem Platz herumstehen. Auf dem Gehsteig einer steil ansteigenden Straße saß eine ärmlich gekleidete alte Frau, neun Äpfel vor sich auf einem kleinen Tischchen zu einer Pyramide aufgebaut, die sie zum Verkauf anbot. Ich fragte, ob das hier so üblich sei, und Mzia erzählte, dass es seit dem Bürgerkrieg ungefähr 300.000 abchasische Flüchtlinge gebe.

„Die georgische Bevölkerung von Abchasien, die fliehen musste. Abchasien ist das Paradies. Direkt am Schwarzen Meer, mit Orangenhainen, Teeplantagen, Bade- und Kurorten. Die Russen haben furchtbar gehaust dort. Jetzt verwaltet es die UNO, und niemand weiß, wem das Land gehört. Wir Georgier dürfen nicht mehr hin. Aber die Flüchtlinge sind bei uns. Sie sind in Hotels einquartiert worden und in ehemaligen Kurheimen. Wie sie durchkommen, weiß niemand so recht.“

Wir fuhren am berühmten Hotel Iveria vorbei, dessen Balkone mit allem Möglichen vollgestellt waren, weil jetzt Flüchtlinge dort hausten, passierten die Philharmonie und kamen dann durch die Außenbezirke auf einen Hügel, wo man in der hereinbrechenden Dämmerung verschiedene Hausformen aus allen Teilen Georgiens in einem Freilichtmuseum mehr ahnen als sehen konnte. Oben, auf dem Parkplatz, zog eine Herde  magerer Kühe vorbei.

„Das sind wieder die abchasischen Flüchtlinge. Früher hat es das hier nicht gegeben, Kühe auf dem Parkplatz.“

Der kleine See, der hier oben lag und Schildkrötensee hieß, war ein beliebtes Ausflugsziel.

„Als meine Kinder noch klein waren, bin ich hier oft mit dem Kinderwagen spazieren gegangen“, erzählte Mzia. „Viele kommen auch zum Joggen hierher.“

Es wurde dunkel, und so fuhren wir in die Stadt zurück, wo Mzia und ihr Mann mich bei Chatuna und Claudio ablieferten. Ich war zwar müde, aber nicht so müde, dass ich nicht kurz von den Schwefelbädern berichtet hätte, in der engen Küche, am schmalen Küchentisch. Claudio gab mir ein Buch mit einem georgischen Märchen als Einschlaflektüre, in französischer Übersetzung, „Le pouvoir d’une berceuse“ von Jacob Gogebachvili. Ich streckte mich auf meinem Sofa aus, nahm einen Schluck des berühmten Borjomi-Mineralwassers, das schon die Kreml-Größen nach ihren Besäufnissen gegen den Kater getrunken hatten, und begann zu lesen. Das Buch war illustriert, in der Geschichte ging es darum, dass ein kachetisches Fürstenpaar, Magdana, die Mutter, die mit einer wunderbaren Stimme begabt ist, und ihr Mann Zurab, nach langer Zeit endlich eine Tochter bekommen. Dieses Kind, Keto, wird von ihnen über alles geliebt, eines Tages jedoch von durchziehenden Banditen geraubt und an den Naib von Daghestan verkauft. Keto wird dort wie eine Tochter gehalten und glaubt, dass sie bei ihren richtigen Eltern lebe. Zurab und Magdana gehen auf die Suche nach ihrer Tochter und finden sie schließlich nach langer Zeit. Keto erkennt sie jedoch nicht wieder und würde am liebsten bei ihren Zieheltern bleiben. Als Magdana schon in Verzweiflung zu versinken droht, beginnt sie mit ihrer schönen, tiefen Stimme ein Wiegenlied anzustimmen, das sie Keto als Kind oft vorgesungen hat. Nun endlich ist der Bann gebrochen, und Mutter und Tochter erkennen sich wieder.

Am nächsten Vormittag frühstückte ich wieder mit Claudio, Chatuna war schon bei der Arbeit, Sandro, der Sohn, hatte sich bis jetzt noch nicht gezeigt. Claudio war ursprünglich Sprachlehrer gewesen, bevor er in die Wirtschaft wechselte. Trotzdem arbeitete er noch immer mit zwei Kollegen an einem georgisch-italienischen Wörterbuch. Er versuchte, mir einige georgische Wörter und Redewendungen beizubringen: KINKHALI hießen die Riesenravioli mit Stiel, BADRIGIANI waren die Auberginen mit Walnüssen gewesen. Besonders aufschlussreich fand ich die georgischen Gruß- und Trinkformeln: „Zum Wohl!“ hieß GAUMARDJOS, was wörtlich: „Auf den Sieg!“ bedeutete, „Guten Tag!“ war GAMARDJOBA, was ebenfalls soviel wie „Auf den Sieg“ hieß. „Guten Morgen!“ jedoch, georgisch DILAS MSCHWIDOBISSA, bedeutete „Des Morgens Frieden!“, „Gute Nacht!“ hieß GAME MSCHWIDOBISSA – „Des Nachts Frieden!“ Nach dem Essen sagte man GAMOS, was soviel bedeutete wie „Möge das Essen euch wohl tun“. Die Georgier nannten Georgien SAKARTVELO und sich selbst KARTVELI. SA- war ein Ortspräfix und KARTLI die Region in Zentralgeorgien, die ich heute mit Mzia und ihrem Mann besuchen wollte. Und was jedem Ausländer auffiel, die Endungen der georgischen Namen, hatten auch ihre Bedeutung: -SCHWILI, wie in Dschugaschwili, hieß Kind von, -DSE, wie in Schewardnadse, Sohn. Auch einige neue Weinsorten brachte mir Claudio bei, z. B. den KVANTSCHKARA, den roten, halbsüßen Lieblingswein von Väterchen Stalin. Die Nusswürste, die wir auf der Fahrt von Kutaissi gekauft hatten, hießen TSCHURTSCHKHELA. 

Es klingelte, Mzia stand vor der Tür und holte mich ab. Unten im Auto warteten ihr Mann und ihre jüngste Tochter, ein hübsches, freundliches  Mädchen von neun Jahren. Wir verließen Tbilissi zuerst in Richtung Kartli, wo wir ein altes Kloster besuchen wollten. Das Auto war ein Geländewagen: Mzias Mutter wohnte in Westgeorgien, und für Besuche dort brauchte man einfach ein robustes Fahrzeug. Die Straße, die wir jetzt entlangfuhren, führte immer weiter in ein einsames Tal und war eher eine steinbestreute Piste. Plötzlich tauchte ein Stück Asphalt zwischen dem Schotter auf.

„Die Kommunisten haben jedes Jahr alle Straßen asphaltiert, natürlich auch zu militärischen Zwecken. Jetzt ist alles verfallen, seit zehn Jahren ist nichts mehr geschehen“, erklärte Mzias Mann, ein arbeitsloser Ingenieur, der auch Arabistik studiert hatte und sich nun mit irgendwelchen Jobs über Wasser hielt. Erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit die Spuren der Zivilisation verschwanden,  ich hätte geschworen, dass es hier seit der Steinzeit so ausgesehen hatte. Schließlich blieben wir an einer Mauer stehen und stiegen die letzten fünfzig Meter auf einem schmalen Pfad zu dem Kloster und der Kirche empor, die in einem muschelförmigen Talschluss lagen. Oben, in den Felsen, sah man Löcher, das waren die Höhlen, in die sich die Menschen bei Kriegen geflüchtet hatten. Eine Gruppe einheimischer Jugendlicher nahm den gleichen Weg wie wir. Vor dem Kloster stand ein schwarzgekleideter junger Mönch und wusch etwas in einer Schüssel. Trotz dieser profanen Tätigkeit machte er einen weltentrückten, frommen Eindruck. Die Kirche selbst war innen kahl, aber mit schönen Rundbogengewölben ausgestattet, ein Teil wurde noch renoviert. Gleich bei der Eingangstür hing ein wundertätiges Heiligenbild an der Wand, vor dem Kerzen brannten. Von draußen hörte man zu dieser Vormittagsstunde immer noch eifrig die Hähne krähen.

„Wie krähen denn die Hähne auf Georgisch?“, fragte ich.

„KHIKHLIKO“.

Bei der Rückfahrt auf der Buckelpiste begann ich meinen Rücken zu spüren. Autofahren war hier noch eine körperbetonte Fortbewegungsart. Die nächste Station war SWETI ZCHOWELI, der georgische Vatikan, das religiöse Zentrum des Landes. Es lag unten im Tal, und selbst an diesem Wochentag herrschte lebhafter Betrieb. Zahlreiche georgische Besucher hatten ihre Autos und Busse geparkt, es gab kleine Stände, an denen Ansichtskarten, noch aus der Sowjetzeit, Nüsse und Kappen verkauft wurden. Durch eine aus unbehauenen Steinen aufgerichtete Mauer ging es in den inneren Kirchenbezirk. Mzia lotste mich an den alten Leuten vorbei, die dort saßen und bettelten, aber trotzdem gelang es mir, ein paar Lari zu spenden, die ich seit dem Besuch im Schwefelbad besaß.

Die Basilika war ein Kreuzkuppelbau und lag auf einer grasbewachsenen Fläche. Vorne, vor dem Eingang, kauerte sich ein weißes Taubenpärchen in eine Nische und gurrte. Im Inneren konnte man unter einem steinernen Baldachin die Reste der Zeder sehen, die auf Sidonias Grab gewachsen war und zu der noch immer Wallfahrten gemacht wurden. Als dreihundert Jahre später die Syrerin Nino, eine Hauptheilige der Georgier, in der damaligen Hauptstadt MZCHETA den König und die Königin zum Christentum bekehrte und eine Basilika errichtet wurde, eben die Kirche von SWETI ZCHOWELI, erhob sich ein Baumstamm, der gefällt werden sollte, dank Ninos Gebet von selbst, wurde von einem Engel in die richtige Lage für das Gebäude gebracht und sonderte fortan einen wunderkräftigen Balsam ab, der bei Berührung von allen körperlichen Leiden erlöste. Nach dem Bad in den Schwefelquellen fühlte ich mich zwar gesund, ich legte aber trotzdem meine Hand auf den Baumstamm und hoffte auf Erlösung von künftigen Leiden, im Moment tat mir nur der Rücken weh. Eine größere Gruppe, offensichtlich eine Familie, war um einen schwarzgekleideten Priester versammelt, murmelte Gebete und sang. Zum Abschluss traten alle vor den Priester, der einen langstieligen Pinsel in ein Gefäß mit geweihtem Öl tauchte und den Gläubigen damit ein Kreuz auf die Stirn malte. Plötzlich kam eine Frau aus der Gruppe auf uns zu und malte uns mit ihrem Daumen, den sie in das Öl auf ihrer Stirn getaucht hatte, ebenfalls ein Kreuz auf die Stirn. Das Licht fiel vielfach gebündelt aus den sechzehn Kanten der Kuppel auf die Wandmalereien, durch Glasscheiben am Boden sah man auf die beleuchteten Reste der Fundamente der ersten Basilika aus dem 4. Jahrhundert, ich fühlte mich richtig fromm.

Die Kuppel am Eingang, die auch aus dieser Zeit stammte, soll ursprünglich mit Gold überzogen gewesen sein, das von Timur Lenk geraubt worden war. An einer Stelle an der Nordwand der Kirche sah man eine gemeißelte Hand, die bis zum Ellbogen aus dem Stein ragte. Die Inschrift darüber lautete: „Die Hand des Sklaven Gottes Arsakidse. Gedenket seiner.“

„Das ist die Hand des Baumeisters. Angeblich wurde sie ihm abgehauen, damit er kein so prächtiges Gebäude mehr errichten könne. Aber das ist eine Legende.“

Die nächste Station war ein Frauenkloster ganz in der Nähe. Wir fuhren ein paar Minuten durch den Ort, dann hieß es schon wieder aussteigen. Gleich umringten alte Männer und Frauen das Auto. Sie lachten alle freundlich, viele hatten nur mehr wenige Zähne, und hielten uns Blumensträuße entgegen.

„Die muss man hier kaufen und in der Kirche niederlegen“.

Der Kirchhof war von einer Mauer umgeben, drinnen stand eine große Eibe und eine Kapelle, der älteste Sakralbau auf georgischem Boden, bereits aus dem 4. Jahrhundert. Hier hatte die Königin Nana, deren Mann Mirjan schon im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatte, gebetet und meditiert. Ich legte den Blumenstrauß in der Kirche vor einem Marienbild nieder, doch als wir dann draußen auf dem Friedhof umhergingen, kamen wir zu einem Grab, das mit Blumen überhäuft war. Das war die Stelle, wo auch ich meinen Strauß hätte niederlegen sollen, aber das hatte ich nicht gewusst.

Schon die ganze Zeit war mir ein steiler Felsenhügel mit einer Kirche an der Spitze aufgefallen. Es war DSCHWARI, eine der ältesten Kirchen in Georgien. Mzias Tochter saß still im Auto und lächelte  freundlich in sich hinein, ihr Mann sprach zwar Englisch, war aber auch eher schweigsam. Wir konnten nicht ganz bis zum Gipfel hinauffahren. Unten im Tal sah man zwei Flüsse, einer davon war die MTKWARI, die ich schon aus Tbilissi kannte. Wir gingen die letzten Meter zu Fuß. Der Boden war mit kurzem, borstigem Gras bedeckt, an der Kirche wurde gearbeitet, man hörte den Lärm einer Schleifmaschine. Der Blick ging weit in das Tal hinunter, wo sich die graugrüne MTKWARI schlängelte und mit den helleren Wassern eines anderen Flusses mischte, der aus dem Kaukasus kam. Daneben fuhren Spielzeugautos auf der Autostraße, auch SWETI ZCHOWELI lag ganz klein im Blickfeld. Gegenüber erhob sich ein terrassenförmig aufgebauter Berg. Man hörte den Lärm aus dem Tal herauf, trotz der Schleifmaschine. Die Kirche selbst, am Abgrund einer hunderte Meter tiefen Felswand, war im Inneren in Halbdunkel getaucht, das Licht fiel lediglich durch schmale, senkrechte Schlitze herein. Ich fühlte mich geborgen in diesem Bau, man hatte das Gefühl, sich in einem Zentrum zu befinden, was wahrscheinlich am kreuzförmigen Grundriss lag. Als wir die Kirche verließen, jaulte gerade wieder die Schleifmaschine auf.

Unten machten wir uns auf den Weg zum Mittagessen, in ein Restaurant, das am Weg lag und das von Georgiern besucht wurde. Im Freien war es zu kühl zum Sitzen, obwohl man von dort einen schönen Blick auf DSCHWARI hatte. Im Inneren hockten die Leute auf abgesägten Baumstümpfen an niederen Tischen. Wir bestellten eine dicke Bohnensuppe, die mit Brot gegessen wurde, rohe Kräuter, Knoblauch- und Basilikumblätter, Schaschlick und süße Teigtaschen, dazu Weißwein und süßen Birnensaft. Wenigstens das Essen war in Georgien noch in Ordnung, nach dem Bürgerkrieg und den Schwierigkeiten nach dem Ende der Sowjetzeit.

„Jetzt kann man wenigstens am Abend wieder auf die Straße gehen, dafür bin ich Schewardnadse dankbar, obwohl ich nicht alles gut finde, was er macht.“ Mzia erzählte, dass es vorher lebensgefährlich gewesen war, nach Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Und wer einen umbrachte, war auch nicht sicher: entweder Militär oder bewaffnete Banden, die einfach die Geschäfte ausplünderten.

Wir fuhren in die Stadt zurück und machten einen Spaziergang über den  Rustaweli-Prospekt, den wichtigsten Boulevard von Tbilissi. Ich kam mir vor, wie in einem etwas heruntergekommenen Pariser Stadtviertel.  Auf der linken Seite sah man das Parlament und davor, auf der Straße, Gruppen von Demonstranten, die ab und zu Parolen riefen und Transparente schwenkten.

„Die demonstrieren immer hier.“

„Wer sind die Leute?“

„Die Opposition. Aber es gibt Gerüchte, dass sie bezahlt werden.“

Das Rustaweli-Theater war geschlossen, am Samstag jedoch, wenn ich abgereist sein würde, gäbe es eine neue Vorstellung des „Kaukasischen Kreidekreises“ von Brecht. Wir setzten uns in ein Selbstbedienungsrestaurant, direkt am Fenster, um etwas zu trinken. Plötzlich kam ein kleiner Junge in das Restaurant, vielleicht fünf Jahre alt, und ging auf einen Tisch zu, um zu betteln. Er hatte ein Gesicht wie ein Greis. Ich zog meine Geldtasche heraus, doch schon war der Geschäftsführer herbeigesprungen und scheuchte den Buben aus dem Raum. Ich sah, wie er draußen auf der Straße zu einem älteren Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, ging, mit dem Fuß aufstampfte und zu weinen begann. Das Mädchen, wahrscheinlich war es die Schwester, zog ihn an der Hand hinter sich her und entfernte sich schnell mit ihm. Mzia sagte bloß:

„Denen geht es nicht so schlecht. Sie haben jedenfalls nicht hungrig ausgesehen.“

Wir schlenderten am Schachpalast vorbei, der jetzt verlassen dalag – früher waren die georgischen Frauen immer Weltmeisterinnen geworden und alle Übungstische und die großen Freiluftschachbretter waren ständig  bespielt worden. Fast an jedem fünften Haus befand sich eine Plakette oder eine Büste, die an einen Dichter, eine Dichterin oder an andere Künstler erinnerte.

„Hier ist jeder stolz in der Familie, wenn man einen Dichter oder Musiker unter den Familienmitgliedern hat. Und es ist wichtig, dass die Frauen studieren und Bildung erwerben, auch wenn sie später nicht berufstätig sind, weil sie es sind, die die Kinder aufziehen.“    

Ich fragte Mzia nach ihrer Meinung zu den Tschetschenen:

„Die Tschetschenen sind ganz anders als wir. Die Georgier hätten schon längst aufgegeben, aber die Tschetschenen waren schon immer so. Die kämpfen, bis sie ausgerottet sind.“

Den Abend verbrachte ich in Chatunas Küche. Claudio war noch nicht zu Hause, Sandro, der vierzehnjährige Sohn, hatte immer noch nicht geruht, sich zu zeigen. Chatuna hatte auf dem Markt einen Kürbis gekauft, und ich half ihr, ihn zu entkernen. Die Kerne wurden getrocknet und geröstet, das Fleisch gekocht und dann mit Zucker verspeist. Ich nahm mir eine Scheibe, aber es schmeckte ziemlich fad.

„Das Bild an der Wand, mit den Granatäpfeln, das hat uns ein deutscher Freund geschenkt. Ein Lyriker, der öfter hier war. Er hat einen Gedichtband geschrieben, der heißt‚ Runde Sachen‘. Er hat sich in eine Aserbeidshanerin verliebt. Als sie das erste Mal bei uns übernachteten, natürlich noch in getrennten Zimmern, da war das Mädchen noch ganz schüchtern, eine richtige orientalische Frau. Sie hat mich gefragt: ‚Gibt es keinen Schlüssel für das Schlafzimmer? Was tue ich, wenn Ihr Mann hereinkommt!‘“ Chatuna lachte:

„Als sie das nächste Mal hier waren, da waren sie bereits verheiratet und die Frau war wie ausgewechselt.“

Claudio kam von der Arbeit. Er hatte zwei Büchsen mit Kaviar mitgebracht, den besten, den er finden konnte. Das sollte ich am nächsten Tag zum Frühstück bekommen. Und dann zeigte sich auch noch Sandro, der Sohn, ein schlaksiger Junge mit dunklen Haaren, der sehr gut Deutsch sprach. Seine Eltern machten sich schon jetzt Sorgen um seine Zukunft, er spielte im Moment am liebsten Wasserball in der Mannschaft.

Den Rest des Abends wollten wir noch gemütlich bei einem Gläschen Wein vor dem Fernseher verbringen. Die Familie hatte Satellitenfernsehen, das Gerät stand in Claudios Arbeitszimmer, in dem er sein Georgisch-Italienisches Lexikon schrieb. Ich bekam den besten Sessel zugeschoben, einen sehr bequemen Lehnstuhl, aus dem man gar nicht mehr aufstehen wollte, wenn man einmal drin saß. Chatuna brachte eine Flasche Rotwein aus der Küche, dazu Kristallgläser, und eine Schale mit Obst und Nüssen.

„Machen Sie es sich ruhig bequem bei uns und lassen Sie es sich schmecken!“

Die georgische Gastfreundschaft war wirklich umwerfend. Ich versank in meinem Sessel Auf dem Fernsehschirm erschien ein Mann mit einem Maschinengewehr, dann eine Menschenmenge vor einem Gebäude. Was zuerst aussah wie ein Actionfilm, war eine Geiselnahme tschetschenischer Rebellen in einem  Moskauer Theater, wo das Musical „Ost-West“ aufgeführt wurde. Siebenhundert Geiseln sollten sich in der Hand der Tschetschenen befinden.

Dann ein Blick in den Zuschauerraum, wo die Geiseln Schlange standen, um im Orchestergraben auf die Toilette gehen zu dürfen. Claudio schaltete auf das ZDF um. Hier kam gerade ein Bericht über die Situation der Tschetschenen unter Putin, über den grausamen Krieg und die Zerstörung Grosnys.

„Putin gibt sicher nicht nach.“

Das war der einzige Kommentar von Claudio. An diesem Abend schlief ich trotz des wunderkräftigen Borjomi-Mineralwassers lange nicht ein.

Höchste  Zeit, dass ich endlich den Höhepunkt der Reise schildere: die Fahrt ins Stalin-Museum in Gori. Claudio hatte sich erbötig gemacht, am Freitag, dem Tag vor meiner Abreise, mit mir dorthin zu fahren. Um halb zwei Uhr musste ich wieder zurück sein, an der Universität, für meine zweite Lesung. Wir starteten gegen zehn Uhr morgens, für georgische Verhältnisse nicht allzu spät. Die Georgier sind keine Frühaufsteher. Der Tag war klar und schön. Man sah vom Balkon aus in der Ferne den Kasbegi seinen schneebedeckten Gipfel ins Himmelsblau strecken. Zum Greifen nahe, nämlich gleich am Fuße des Hügels, auf dem wir wohnten, lag die Bierbrauerei, die seinen Namen trug. Er erinnerte mich an den Fudjijama - und später las ich in einem Führer, dass auch die höchsten Gipfel des Kaukasus erloschene Vulkane seien. Wenn man den Blick in die Tiefe senkte, den Hügel hinunter zum „Platz der Helden“, um den herum Tag und Nacht der Verkehr tobte, sah man auch eine Werbung für das Kasbegi-Bier. Ich konnte die Schrift zwar nicht lesen, aber der Berg im Hintergrund und das schaumgekrönte Bierglas im Vordergrund sprachen eine unmissverständliche Sprache.

Wir verließen die Stadt auf dem Weg, den ich von der Fahrt nach Kutaissi schon kannte, zuerst Richtung Westen, auf der alten georgischen Heerstraße. Vor den schäbigen kleinen Schuppen, an denen Mineralwasser, Cola und andere Getränke angeboten wurden, saßen die gleichen dickvermummten Frauen oder Männer, oft konnte man das gar nicht unterscheiden. Die meisten Tankstellen waren geschlossen oder verfallen. Links, am Abhang eines Hügels, weidete eine Herde magerer staubfarbener Kühe. Man musste immer darauf gefasst sein, dass eine von ihnen die Straße überquerte, denn Zäune oder Absperrungen gab es nicht. Ein neues Gebäude am rechten Straßenrand war ein Restaurant, das laut Claudio sehr beliebt war und gut besucht wurde. Claudio hatte einen Blick für das Positive in Georgien, für den Aufbau, das Entstehen von Neuem.

"Sie bauen hier mehrere Restaurants am Stadtrand, das lohnt sich. Die Leute gehen gerne zum Essen."

Mit der Zeit ähnelte die Landschaft immer mehr Umbrien: flache, langgezogene Hügel, die mit einer Art Macchia überzogen waren, in der Talebene, durch die die Straße verlief - manchmal mit, meist aber ohne Mittelstreifen und ohne Pflöcke am Rand - , in der Ebene jetzt braungraue Felder, kahle Bäume, ab und zu Vieh, ab und zu ein fettes Schwein, das die Straße überquerte. Dann, am Straßenrand, pyramidenartig aufgehäufte Melonen. Einmal ein primitives Gestell, an dem eine Schweinehälfte und kleinere Fleischteile hingen.

"Frisch geschlachtet. Man kann gleich hier einkaufen."

Claudio drückte aufs Gas, weil wir nicht viel Zeit für unseren Ausflug hatten. Schließlich, nach einem Kreisverkehr, erreichten wir das Ortsschild von Gori und fuhren in das Städtchen ein. Links und rechts niedrige, einstöckige Häuser, Gruppen von schwarzgekleideten Männern, die herumstanden, schwatzten und rauchten. Claudio blieb stehen und fragte einen älteren Mann nach dem Museum. Wir waren schon ganz in der Nähe, fuhren aber einmal um das Gebäude und den Park herum, bevor wir eine Abstellmöglichkeit für das Auto fanden, auf einem geschotterten Platz voller Schlaglöcher neben einem Kiosk. Claudio wechselte ein paar Worte mit der Frau dort und drückte ihr einen Geldschein in die Hand. Es war nicht ratsam, ein teuer aussehendes Auto unbewacht stehen zu lassen.

Wir machten uns auf den Weg ins  Museum, ein großes Gebäude in einem vernachlässigten Park. Die Sonne schien strahlend vom Himmel. Durch eine Säulenveranda betrat man die Eingangshalle. Claudio verhandelte mit einer gepflegten älteren Dame am Schalter, die auf Deutsch "Guten Tag" zu mir sagte und mich anlächelte. Wir bekamen die Eintrittskarten und dazu eine kleine, rundliche alte Frau mit Strickjacke zugeteilt, die uns führen sollte. Sie sprach nur Georgisch, und zwar in einem so rasanten Tempo, dass sogar Claudio Mühe hatte, alles zu übersetzen.

Stalin, der Schusterssohn Joseph Wissarionowitsch Dschugaschwili, war in ärmlichen Verhältnissen in Gori geboren worden. Wir stiegen eine Freitreppe hinauf, dann begann der Rundgang mit Stalins Jugend und seiner Zeit im Priesterseminar. Die georgische Führerin sprach mit solchem Stolz in Stimme und Gesten über ihn, als ob Joseph Wissarionowitsch ihr eigener Sohn gewesen wäre, auf den sie noch immer große Stücke hielte. Die Gefängnisaufenthalte und Ausbrüche Stalins waren auf einer Landkarte eingezeichnet. Besonders eindrucksvoll fand ich die Darstellung einer Geheimdruckerei in Tbilissi, die er betrieben hatte, im Querschnitt auf einer Karte aufgezeichnet. Es ging durch einen Brunnenschacht in die Tiefe, dann in einen Seitengang, und dort befand sich die Druckerpresse. Das Ganze wurde durch Zufall von einem Soldaten entdeckt und Stalin, der damals noch Dschugaschwili hieß, wieder einmal eingesperrt.

In seiner Jugend hatte er auch Gedichte geschrieben, die sogar in Zeitungen veröffentlicht wurden. Beim Eingang hatte ich eine Broschüre mit dem Titel "Die Gedichte von Joseph Stalin - Soselo" gekauft, dreisprachig, auf Georgisch, Englisch und Deutsch, und ein wenig darin herumgeblättert. "Soselo" wurde mit einer Fußnote erläutert. Wörtlich hieß es da, in einem abenteuerlichen Deutsch mit noch abenteuerlicheren Druckfehlern:

"Soseli ist eine Abreilung von Soseli, der georgischen Koseform für Josib". Die Einleitung begann so:

"Es gibt Leute die von Gott und Natur mit besonderen Fähigkeiten und Energie belohnt werden. Manchmal kommt es vor, daß es unter diesen Menschen auch die hervorragendsten gibt, die dank derselben Kraft erstaunlich zur Welt gekommen sind. Diese Auserwählten sind charismatisch. Stalin war auch eine charismatische Person. Es ist schon nachgewiesen: wenn er das kirchliche Leben gewählt hätte, wie es der Wunsch seiner  Mutter war, hätte er die Spitze der kirchlichen Hierarchie erreicht. Dank seines einzigartigen musikalischen Gehörs und seiner Stimme hätte er auch in dieser Richtung große Erfolge erreicht. Wenn er Möglichkeiten gehabt hätte, seine jugendliche Begeisterung fürs Dichten zu vervollkommen, dann wäre er ein guter Dichter geworden. Das zu dieser Zeit geschaffene wunderschöne Gedicht ‚Die geblühte Rose' ist die beste Bestätigung dafür.“

Das erste in dem Heftchen abgedruckte Gedicht trug zwar keinen Titel, begann aber mit einer Rose:

„Erblüht ist die Knospe der Rose
legte sanft ihren Arm um das Veilchen
erweckte zugleich auch die Lilie
und neigte den Kopf in die Brise.

Hoch in den Wolken sang die Lerche
Melodien mit heller Weise
und die Nachtigall voll der Freude
stimmt ein mit zarten Lauten:

„Blühe auf Du mein schönes Land
gedeihe wohl iberische Erde
und Du, Georgier, lerne mit Eifer,
Deinem Vaterlande zur Freude.“
I. Dsch-schwili

(Ztg. Iberia, 14 juni 1895)

Vielleicht handelte es sich dabei um das Gedicht "Der Morgen", das von der Zeitung "Iberia" am 14. Juni 1895 auf der Titelseite abgedruckt worden war. 1895 war Stalin, Jahrgang 1879, sechzehn Jahre alt. Das "Soselo", mit dem er unterzeichnete, wäre bei uns wohl ein "Seppl" oder ein "Pepi" gewesen. Die Einführung wurde nicht müde zu betonen, wie groß die dichterische Begabung Stalins gewesen sei:

"Der Redakteur von dieser Zeitung war Ilia Tschawtschawadse. Das zeugt davon, daß die dichterische Begabung des Jungen dem großen Dichter sehr gefiel.

Soselos Gedichte werden in dem Werk 'Theorie der Literatur mit literarischen Beispielen' von Meliton Kelendscheridse neben die Werke der georgischen Klassiker Rusthaveli, Tsachawtschawadse, Akaki Zereteli und Nikolas Barataschwili gestellt. Aber da war Soselo schon Stalin...“

Auch an dem georgischen Nationalepos 'Der Recke im Tigerfell' von Shota Rusthaveli aus dem 13. Jahrhundert hat sich Stalin versucht:

„Bei der Redaktierung der russischen Übersetzung des Werkes von Schota Rushaweli 'Der Recke im Tigerfell', die von Schalwa Nuzubidse ausgeführt wurde, hat sich die dichterische Begabung von Stalin wieder aufgemacht.

Schalwa Nuzubidse erinnerte sich daran, wie exakt Stalin die Harmonie und Wortkland des Verses von Rusthaweli fühlte. Diese These wurde durch die Übersetzung von Stalin der 1416. Strophe des Poems bestätigt."

Und dann der Satz:

"Sowohl über das Phänomen von Stalin als auch über sein Leben und verschiedene Aspekte seiner Tätigkeit gibt es unterschiedliche Meinungen."

Ich sah vorne nach: das Büchlein war 1999 erschienen, herausgegeben vom "Internaizionalen Wissenschaftlichen Centrum für studium des fenomens for Joseph Stalin."

Und über das dichterische Werk hieß es in der Einleitung abschließend:

"Ebenso widersprüchlich sind Äußerungen über seine dichterische Begabung. Wir haben keine Absicht, diese Aspekte zu behandeln und zu schätzen, weil es sündig wäre nach der Einschätzung seiner Dichtens von M. Kelendscheridse, R. Eristhawi, I. Tschawtschawadse, I. Gogeabschwili die Beratung weiterzuführen. Die vorliegenden Gedichte von dem jungen Soselo sind die beste Bestätigung des oben erwähnten für die vorurteilsfreien Leser."

Im  Museum war es eiskalt. Die Ausstellung folgte anfangs den Karriereetappen Stalins bis zum Generalsekretär 1922, mit Zeitungsausschnitten und Fotos. Aus der Zeit der Verfolgungen ein einfacher, strohgeflochtener Koffer, mit dem er aus Sibirien entkommen war. Dann Fotos und Dokumente über den Aufbau der Sowjetunion, z. B. eine Rekordbaumwollpflückerin in einer Kolchose, die von ihm ausgezeichnet wurde  und ihn glückselig anstrahlte oder die Inspektion eines neuen Traktormodells 1936. Der Große Vaterländische Krieg ebenfalls intensiv dokumentiert, als Prachtstück eine ca. 1,5 m breite und 1 m hohe reich vergoldete schwarze Tischlampe mit handgenähtem weißem, mit Stickereien verziertem Fransenschirm und auf dem Lampenfuß das Modell des wichtigsten sowjetischen Kampfpanzers, der nach links über eine Ablage fürs Schreibzeug fuhr. Stalin hat dieses Prachtexemplar dem General Wlassow geschenkt.

Da die Elektrizität ausgefallen war, herrschte in dem Mausoleum, in dem die Totenmaske in der Mitte einer Rotunde prangte, solche Finsternis, dass man die Gesichtszüge des Diktators nicht erkennen konnte. Stalin starb am 5. März 1953, er und ich waren gerade einen Monat lang Zeitgenossen. Vor seinem Tod soll man die berühmte Pianistin Maria Judina geholt haben, damit sie im Vorraum zu seinem Sterbezimmer Klavier spiele.  

Dann ein Raum mit Familienfotos: Stalins Eltern, der Vater, der Schuster Wissarion Dschugaschwili, spielte kaum eine Rolle, er war auch immer schon, auch bei Josefs Geburt, krank gewesen und früh gestorben. Ganz im Gegensatz zur Mutter, die sich gewünscht hatte, dass er Priester werde, und die von ihrem Sohn sehr verehrt wurde. Deshalb gab es auch das Gerücht, Stalin sei in Wirklichkeit der Sohn eines georgischen Adeligen gewesen, bei dem seine Mutter als Dienstmädchen gearbeitet habe, erzählte Claudio. Später habe er seinen Halbbruder, den anderen Sohn des Adeligen, in den Kreml geholt. Stalins erste Frau, eine Georgierin, die sich umgebracht hat, und seine zweite, N. Alilujeva, sowie die Kinder und ein Ziehsohn lachten dem Besucher von Fotos entgegen. Stalin, der Familienmensch, leutselig in seiner Datscha. Das  Schicksal seines Sohnes Jakob Dschugaschwili aus erster Ehe, der im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee kämpfte, von den Deutschen gefangengenommen und ins KZ Sachsenhausen gesteckt wurde. Die Deutschen machten Stalin den Vorschlag, ihn nach der Schlacht von Stalingrad gegen Feldmarschall Paulus auszutauschen, doch Stalin soll mit den Worten abgelehnt haben, er tausche nicht einen General gegen einen einfachen Soldaten. Die Führerin, die ihr Sprechtempo noch mehr gesteigert hatte, sodass Claudio mit Übersetzen kaum nachkam, erzählte, dass die Deutschen Jakob dazu bringen wollten, einen Bittbrief an seinen Vater zu schreiben, Jakob jedoch zog es vor, im elektrischen Stacheldraht den Tod zu suchen. In einer Pause im Redeschwall der Führerin erzählte mir Claudio, dass in Tbilissi heute wieder Nachkommen von Stalin lebten, als ganz normale Privatpersonen, soweit man das mit einem solchen Ahnherrn sein kann.

Der nächste Raum war angefüllt mit Geschenken, die Stalin erhalten hatte: Stiefel, Blumen, Vasen, auf die seine Gedichte aufgemalt waren, eine Ziehharmonika – er war ja so musikalisch gewesen und hatte eine schöne Singstimme besessen, betonte die Führerin – und als Höhepunkt in einer Glasvitrine eine weiße, handgenähte ausgestopfte Stofftaube, die auf einem Sowjetstern saß und im Schnabel ein mit einem grün-weiß-roten Zopf umrandetes Schild trug, auf dem die Inschrift eingestickt war: "Le donne italiane di Mantova a Giuseppe Stalin, Campione della Pace." (Die italienischen Frauen von Mantua für Josef Stalin, den Friedenshelden).

Draußen vor dem mit georgischen Ornamenten verzierten Museumsgebäude mit der Säulenhalle dann das Geburtshäuschen Stalins, das in eine Art Tempel transferiert worden war. Die Familie hatte ein einziges Zimmer bewohnt, mit einem Herd in der Ecke, einem sauberen, weißgedeckten Tisch mit einer Vase und einem Bett, in dem die ganze Familie geschlafen habe. Im Keller sei die Werkstatt des Schustervaters gewesen. Neben dem Museumshauptgebäude dann eine weitere Attraktion: der persönliche Eisenbahnwaggon Stalins. Claudio und ich kletterten hinein: Zuerst kam die Toilette, dann das Zimmer des Dieners, dann die Küche, Stalins Schlafzimmer mit Bad und der Salon. Die Scheiben alle aus Panzerglas. Umwehte einen hier der Hauch der Weltgeschichte? Beim Aussteigen machten wir Fotos, Claudio von mir und ich von Claudio. Lebendig aus dem Waggon Stalins auszusteigen, war vermutlich nicht immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. 1937/38 hatte er immerhin innerhalb von fünfzehn Monaten eineinhalb Millionen Menschen verhaften und knapp die Hälfte davon ermorden lassen. Das ganze Museum zeigte jedoch keine Spur von Stalins Verbrechen, es war noch immer auf dem Stand vor dem 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, als Chruschtschow Stalins „Säuberungen“ publik machte.  

Das Auto war noch da, auf der Rückfahrt mussten wir uns beeilen. Es blieb nicht einmal Zeit, die Felsenklöster hinter Gori zu besichtigen.

"Erst stockte der Schritt. Dann standen die Füße wie angewurzelt auf dem Straßenpflaster, während der emporgerichtete Blick nicht loskam von den zwei Wörtern: STALIN GESTORBEN. Es war ein weißes Spruchband mit dunkler Schrift, ausgespannt über der noch kriegsversehrten Fassade des Kölner Rathauses am Abend des 5. März. 'Wir hatten längst vergessen, dass Stalin ein Mensch war. Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt. Und nun war der Gott an einer Gehirnblutung gestorben.' So protokollierte der Schriftsteller Ilja Ehrenburg den Schock seiner Landsleute über die Nachricht. Eine Nachricht allerersten Ranges, natürlich auch für den Westen. Wohl deshalb hing das Spruchband in Köln, einer Stadt, die zwar schon längst wieder an Leuchtreklamen gewöhnt war, nicht aber an politische Meldungen im Straßenbild., " las ich zwei Monate später in der FAZ in einem Artikel über das Jahr 1953.

Und über die Tschetschenen in der gleichen Zeitung:

"Die Tschetschenen wollten weder von den Zaren noch von Stalin erlöst werden. 1944 ließ Stalin sie, zusammen mit zehn anderen Völkern, aus der kaukasischen Nachbarschaft, wegen 'Kollaboration' mit den Deutschen nach Mittelasien deportieren. Dabei ging etwa ein Drittel der Verschleppten zugrunde."

 Wieder bei Claudio und Chatuna zuhause legte ich mich ein wenig hin. Aus dem Moskauer Musicaltheater gab es noch keine neuen Nachrichten, die Geiseln waren noch immer in der Hand der tschetschenischen Rebellen, Putin lehnte Verhandlungen ab. Am Abend, nach dem Nationalfeiertagsempfang im Sheraton Metechi Palace, brachten wir Nelli A. nach Hause, eine jugendlich wirkende alte Dame im selbstgestrickten Pullover. Nelli war die hochgeachtete Doyenne des Germanistischen Institutes, die aussah wie siebzig, aber schon neunzig war und die noch immer Vorlesungen hielt.

„Wissen Sie“, sagte Nelli, „wir bekommen hier ja praktisch keine Pensionen. Und solange der Kopf noch geht, arbeite ich.“

Als Nelli gefragt wurde, was sie über die Geiselnahme denke, sagte sie zu Claudio:

„Du weißt ja, was ich von den Tschetschenen halte, und wie sie sich aufgeführt haben, in Abchasien, aber was die Russen mit ihnen machen, das geht wirklich zu weit.“

Beim Krieg in Abchasien hatten die Russen moslemische tschetschenische Truppen gegen die christliche georgische Bevölkerung eingesetzt.       

Am nächsten Morgen weckte mich Claudio um vier Uhr früh. Chatuna hatte schon das Frühstück hergerichtet, selbst Sandro war aufgestanden, um sich von mir zu verabschieden. Am Vorabend hatten wir nach dem Empfang noch bis Mitternacht Sekt getrunken und Erinnerungsfotos gemacht. Ich kam mir vor wie beim Abschied von meiner eigenen Familie, nur dass meine eigene Familie viel steifer war. Mit Claudio fuhr ich wieder durch die nun schon vertrauten und um diese Zeit noch leeren Straßen. Doch die Kioske mit den vor sich hindämmernden Verkäufern oder Verkäuferinnen waren auch um diese Zeit besetzt. Am Flughafen ging dann alles sehr schnell, so schnell, dass ich ganz überrascht war, als ich mich von Claudio verabschieden musste. Der Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse, in Istanbul wurde ich in die Business Class Lounge gewiesen, weil das letzte Stück des Fluges erster Klasse war. Der Angestellte in dem Reisebüro, wo ich das Ticket bestellt hatte, hatte mir das ohne Aufpreis zukommen lassen. Und dann, nach dem Einsteigen in einer drängelnden Menschenmasse und endlich auf meinem bequemen First-Class-Sitz, begegnete ich der Botschafterin wieder. Sie saß neben mir, inzwischen war sie in Aserbeidshan gewesen.

„Ich habe eigentlich erwartet, dass die Russen in Georgien einmarschieren würden. Wegen der Rebellen im Pankisi-Tal. Sie haben Glück gehabt.“

„Was hätte ich denn dann gemacht? Hätte Österreich mich dann ausgeflogen?“

„Ach, Österreich kann da gar nichts machen. Da hätte die EU einschreiten müssen.“

Ich schluckte trocken.

„Übrigens, erinnern Sie sich an den Sturm bei unserem Anflug auf Tbilissi? In dieser Nacht ist auf dem Kaspischen Meer eine Fähre untergegangen. Ich war inzwischen in Baku.“

In Wien trennten sich unsere Wege, da die Botschafterin gleich in ihr Landhaus fuhr. Endlich in meinem Hotelzimmer angelangt, schaltete ich den Fernseher ein. Nichts Neues von den Geiseln. Am späten Nachmittag dann die Nachricht, dass das Musicaltheater gestürmt worden sei, unter Einsatz eines Kampfgases, auf das die Spitäler nicht eingerichtet waren, sodass zahlreiche Geiseln starben oder noch in Lebensgefahr schwebten.

Am Abend traf ich zwei Jugendfreunde wieder, einer war im diplomatischen Dienst in Algier gewesen und wartete jetzt auf einen neuen Posten, entweder in Hanoi oder in Bangkok. Hanoi würde ihn mehr interessieren. Der andere lebte derzeit in Kirgisien. Die Mutter einer Freundin der Kinder des Diplomaten war unter den Besuchern des Musicaltheaters, die Familie wusste noch nichts über ihr Schicksal. Nach dem Essen bei einem Griechen gingen wir in einen Film von Otar Josseliani, dem berühmten georgischen Regisseur, der schon lange in Frankreich im Exil lebte, „Montag morgen“. Ein melancholischer Film, in dem ein Arbeiter aus dem Alltag seiner Familie und der Fabrik ausbricht und kurz nach Venedig reist, bevor er wieder zurückkehrt. 

Als wir die Mäntel an der Garderobe abholten, erzählte mir der kirgisische Jugendfreund einen Witz:

„Ein Russe, ein Armenier und ein Georgier kommen an die Garderobe, um die Mäntel abzuholen. Der Russe gibt 50 Rubel. Als der Armenier drankommt, will er das übertrumpfen und gibt 100 Rubel, ohne Wechselgeld. Dann kommt der Georgier an die Reihe. Er gibt ebenfalls 100 Rubel und sagt: ‚Und den Mantel können Sie auch behalten.‘“


1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe

Sektionsgruppen | Section Groups| Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Ulrike Längle: Ein Mantel aus Kutaissi Georgien, 21. bis 26. Oktober 2002 - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-2/1-2_laengle17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-10