TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung
Sektionsleiterin | Section Chair: Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei)

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Das Fremde und das Eigene.
Zu Entwürfen der kulturellen Identität der deutsch schreibenden AutorInnen
tschechischer Herkunft am Beispiel der Romane von Michael Stavaric

Renata Cornejo (J.E.Purkyne-Universität in Ústí nad Labem - Tschechien) [BIO]

Email: renata.cornejo@ujep.cz

 

Abstract:

Der Beitrag geht von der These aus, dass sich die Alterität  und Identität als dichotome Begriffe gegenseitig bedingen. Die Abgrenzung  und Ausgrenzung des Fremden bildet nicht nur die Voraussetzung für die Konstitution der eigenen Identität, sondern das „konstitutive Außen“ ist zugleich immer auch ein Teil des sich  „konstituierenden Ich“. So dient die Andersheit zur In-Fragestellung des angeblich Mit-sich-selbst-Identischen, zu dessen kritischer Überprüfung und zum neuen Überdenken der eigenen Identitätskonzepte. Dies wird am Beispiel der Romane stillborn (2006) und Terminifera (2007) von Michael Stavaric dargelegt und illustriert, dessen Hauptfiguren als selbst entfremdete Wesen durch die Welt ‚herumgeistern’ und in Selbstgesprächen mit ihrem Alter Ego ihr inneres ‚fremdes’ Ich erkunden.

 

1. Die Fremden unter Fremden, wer ist zu Hause? Zum Problem der Grenzziehung

„Wenn Fremde über eine Brücke fahren, und unter der Eisanbahnbrücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind diese durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden.“(1) – veranschaulichte die Problematik des Fremden und des Heimischen mit einem bildhaften Beispiel der Münchner Satiriker Karl Valentin. Der fahrende Zug wird hier zum Symbol des vereinten Europa erhoben. Er fungiert als Symbol eines wunderbaren Bewegungsmittels der literarischen Weltreise und der kulturellen Vielfalt einerseits, andererseits aber auch als Symbol einer Grenze zwischen Nationalem und Internationalem, zwischen Eigenem und Fremdem. In demselben Sketch definiert Karl Valentin auch den Einheimischen: „Dem Einheimischen sind eigentlich die fremdesten Fremden nicht fremd. Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, kennt aber am ersten Blick, dass es sich um einen Fremden handelt.“(2) Da Fremde keine vorfindbare Gegebenheit ist und auch keine objektiv messbare Größe darstellt, gewinnt sie erst als Differenz zum Eigenen Kontur und umgekehrt. Und in diesem Spannungsfeld sehe ich auch die Literatur der sog. „MigrationsautorInnen“ oder AutorInnen der sog. „Interkulturellen Literatur“ angesiedelt, konkretisiert am Beispiel der auf Deutsch schreibenden AutorInnen tschechischer Herkunft, die die damalige Tschechoslowakei nach 1968 aus politischen Gründen verlassen haben oder mussten wie z.B. der in Wien lebende Jiří Gruša, Michael Stavaric, Magdalena Sadlon oder Stanislav Struhar. Diese AutorInnen sahen sich plötzlich mit einer fremden Kultur und Sprache konfrontiert, sie wurden gezwungenermaßen zu „Grenzgängern zwischen den Kulturen“  und ihr Werk somit zu einem interessanten Objekt der literaturwissenschaftlichen Untersuchung, da es uns wichtige Aufschlüsse von Prozessen von Konstitution und Konstruktion, von Identität und Alterität geben kann. Die Fragen nach der unterschiedlichen Qualität von Grenzen, nach den unterschiedlichen Phänomenen von Begrenzung sowie die Frage nach der lokal-topographischen Seite eines Wir-Raumes als Heimat und Zuhause im Spannungsverhältnis gegenüber dem Fremden, Unheimlichen und Bedrohlichen führte zur Fokussierung der Verbindung des Sozialen mit dem Lokalen und fassten die Grenze als ein soziales Phänomen und als kulturelles Konstrukt in den Blick.(3) Die Grenzen im Sinne eines Nebeneinanders können ein Kontinuum bilden, zugleich aber auch eine binäre Opposition bezeichnen, eine strikte Grenzlinie im Sinne der Exklusion des Anderen. Auch Grenzen im Sinne eines Ineinander sind von der Perspektive des Innen und Außen geprägt, von Heimat und Außenwelt, des Zuhause und des Fremden.(4) Laut der Lacanschen Psychoanalyse wird Grenze auf Grund der Persistenz des Fremden im Eigenen als „Grenze zwischen qualitativ Anderem im Innenraum verankert“.(5)  Nach Gehrke lässt sich konstatieren, dass mit der „Konstruktion und dem Ausbau qualitativer Gegensätze die eher graduellen Binnengrenzen nivelliert werden“  und die Außengrenzen sozusagen durch „Bündelung von Unterschieden“ sprachlicher, kultureller und moralischer Natur verdichtet und verstärkt werden. Dabei sind von entscheidender Bedeutung die Formen der Wahrnehmung einer Grenzziehung und vor allem die Bewertung des Differenten, d. h. der ganze in sich komplementäre Komplex der Selbst- und Fremdzuschreibungen, der in einem breiteren soziokulturellen Rahmen die verschiedensten sprachlichen Niveaus und Normierungsvorgänge widerspiegelt. Es ist „eine kulturspezifisch institutionalisierte Fremde“(6), die zur Wahrnehmung und Stereotypisierung von Unterschieden führt. Wenn wir das Eigene und das Fremde als operationale Größen von Interkulturalität verstehen, dann lässt sich deren Konstruktion als Bedeutungszuschreibungen verstehen, die Kulturprozesse initiiert und in Gang hält. Besonders komplex wird das Ganze, wenn sich Selbst- und Fremdzuschreibungen miteinander verschränken und wenn sie als literarische Zuschreibungen bzw. Bilder für Grenzziehung und Identitätsstiftung instrumentalisiert werden. Insofern ist die Literatur als das Imaginäre prädisponiert, gerade diese Identifizierungs- und Abgrenzungsprozesse nachzuzeichnen und im Allgemeinen als ‚Grenzüberschreitung’ verstanden zu werden.

Im Folgenden sollen unter diesem Gesichtspunkt die Prosawerke Stillborn (2006) und Terminifera (2007)von Michael Stavaric(7) untersucht werden. Der 1972 in Brno geborene Michael Stavaric emigrierte als Kind mit seinen Eltern nach Österreich, als er sieben Jahre als war. Als Kind musste er eine neue Sprache erlernen und sich an seine neue Umgebung gewöhnen, was ihm anfangs nicht leicht fiel: „Ich war in Österreich immer ein schlechter Schüler, genoss lange Zeit einen Förderunterricht, und selbst als ich schon einigermaßen Deutsch beherrschte, war meine Herkunft durch Akzent und grammatikalische Fehler offensichtlich.“(8) Mit zwölf begann er zu schreiben, mit fünfzehn bereits vorwiegend auf Deutsch, mit fünfundzwanzig wendet er sich wieder der Prosa zu und versucht sich in Kurzgeschichten.

 

2. Die „Totgeburt“ Elisa Frankenstein – Selbstbestimmungskoordinaten einer Außerseiterin

Die intensive Beschäftigung mit beiden Sprachen – der Muttersprache und der zu eigen gewordenen Fremdsprache  –  ist für Michael Stavaric bis heute bezeichnend  und in seinem spielerischen Umgang mit der Sprache erkennbar. Der Sprachwechsel selbst soll für ihn einer der entscheidenden Impulse gewesen sein, sich mit der Sprache und folglich mit der Literatur intensiv zu beschäftigen, was zu seiner Berufswahl mit beigetragen habe:

Ich habe mich oft gefragt: Was wäre gewesen, wenn ich im tschechischen Kontext geblieben wäre? Hätte ich mich dann ebenfalls mit Literatur, mit Sprache beschäftigt? Vermutlich nicht – ich glaube, das ist durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Deutschen angestoßen. Ich musste mich so sehr mit dieser Sprache beschäftigten, und ich hatte zumindest zeitweise auch den Ehrgeiz, sie ebenso gut zu beherrschen wie die anderen – das alles hat wohl auch der Literatur zugearbeitet.(9)

Seit dem Abschluss seines Studiums der Bohemistik und Publizistik an der Universität Wien arbeitet er als Sekretär des Botschafters der Tschechischen Republik in Österreich und widmet sich neben der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit der Übersetzung aus dem Tschechischen ins Deutsche. 2000 erschien sein erster Gedichtband Flügellos, 2006 sein erstes Prosawerk stillborn, für welches er den Buch.Preis 2007 bekommen hat, der darauf folgende Roman Terminifera wurde mit dem Adelbert von Chamisso Förderpreis 2008 ausgezeichnet. Mit dem für das Jahr 2008 geplanten Roman Magma(10) sollen seine zwei Prosawerke eine Art freie Trilogie bilden. Das Hautthema beider Werke ist die Identitätsfrage, dargestellt am Beispiel eines Außenseiters, dessen Ausgrenzung und (Selbst)Entfremdung, die als eine paranoiaähnliche Ich-Spaltung inszeniert wird. Beide Hauptfiguren – Elisa in stillborn und Lois in Terminifera – sind heimatlose, entwurzelte und sich selbst entfremdete Wesen, die durch die Welt der Lebenden wie „Monster“ ‚herumgeistern’ und sich trotz der inneren Leere und Leblosigkeit nach Leben und Menschenwärme sehnen, die ihnen jedoch, bis auf die Zuneigung der Tierfreunde (das Pferd Aaron in stillborn und die Hündin Sammy in Terminifera), verweigert bleibt. Beide sind seltsame Sonderlinge und Außenseiter, ausgewiesene ‚Grenzgänger’ zwischen Normalität und Wahnvorstellungen schwankend, sich zwischen norm und abnorm, gesund und krank bewegend. Elisa betrachtet sich selbst als hässliche, versehentlich auf die Welt gekommene „Totgeburt“: „Ich bin eine Totgeburt, war tot, als ich zur Welt kam, der Tod war der Anfang, der erste.“(11) Sie bleibt ihr Leben lang sowohl körperlich (sie leidet unter ständiger Atemnot) als auch gesellschaftlich benachteiligt (sie ist als uneheliches Kind auf die Welt gekommen). Ihr unaufhörliches Ringen um Luft, leitmotivisch als „atme, atme“ den ganzen Text bestimmend, bedeutet gleichzeitig das Ringen ums (Über)Leben in einer kalten, abweisenden und fremdenfeindlichen (Um)Welt, die nur durch Vulkane- und Lavabilder, die sie malt, für einen Augenblick ‚erwärmt’ werden kann: „Ich [...] malte Vulkane, erloschene Vulkane, Vulkane, die durch die ganze Haut sehen, solche die Feuer speien, die alles fortspülen, in roten, orangen, gelben Lavabächern, ganz heiß war mir da.“ (S:96) Vulkane, heiße Lava und brennendes Feuer, sogar die Asche, der Russ selbst werden zu Metaphern für den Liebesentzug, für die Sehnsucht nach Wärme, Liebe und Zuneigung, nach Akzeptanz. So fühlt sich die Hauptfigur am wohlsten in den entmöblierten, zum Verkauf angebotenen Wohnungen, die ein Abbild ihrer inneren Leere darstellen. Mit Genuss betritt sie die  ausgebrannten Wohnungen, denn der Russ erinnert sie „an etwas Warmes“, das „Weihnachten“ und somit das verlorene Gefühl der Geborgenheit eines Zuhause evoziert (S:20).  Obwohl die Brandstiftungen der leeren Wohnungen, die sie als Maklerin zu vermitteln versucht, geklärt werden und der Chef der Maklerfirma der Brandstiftung überführt wird, bleibt unterschwellig im Text angedeutet., dass sie ebenfalls Brandstifterin ist (sie steckt ihre ehemalige Wohnung nach ihrem Auszug an, um sich der Spuren der „Vergangenheit“, sozusagen des „Restmülls“ zu entledigen. Auch der Brand eines Hauses vor ihrer Abfahrt aus der Stadt bleibt ungeklärt und hindert ganz zufällig ihren, mit der Aufklärung der Brandstiftungen beauftragten Freund von der Polizei daran, mit ihr in die Berge mitzufahren). Als mutmaßliche Brandstifterin würde sie die „gesetzliche Grenze“ bewusst überschreiten und zur Verbrecherin werden, wie auch ihre eigene Mutter, die allem Anschein nach aus Liebe zu ihrer kleinen Elisa fünf ihrer Mitschülerinnen erwürgt  hat, von denen ihre Tochter immer wieder gehänselt, gekränkt und ausgelacht wurde – was als ein Annäherungsversuch an die immer gefühlsmäßig „fremd“ gebliebene, unnahbare Mutter gedeutet werden könnte. Nicht nur die Mädchen, das ganze Dorf, hat auf Elisa mit dem Finger gezeigt, deren (ihre) körperliche Unzulänglichkeit (Atemnot, Hässlichkeit) noch durch die soziale ‚Untauglichkeit’ als uneheliches Kind zusätzlich verstärkt wurde. Das uneheliche Kind, das „angehängte Balg“ (S:126), wurde zum Gespött des ganzen Dorfes und es ist gerade der Zeigefinger, der den fünf aufgefundenen Mädchenleichen abgetrennt wurde. Dieses Geheimnis stellt eine Last aber auch zugleich ‚heimliches Bündnis’ mit der eigenen Mutter dar. Immer, wenn die Leere um sie herum und in ihr unerträglich wird, zieht Elisa in eine neue Wohnung um, entledigt sich des ‚Unbrauchbaren’, reduziert das ‚Redundante’ in ihrem Leben, verlässt oder vernichtet alles, was den Anschein des Persönlichen haben oder ihr Identität verleihen könnte. Dieser Entindividualisierungsvorgang ähnelt einem Ritual, der immer wieder vollzogen werden muss, um das innere Gleichgewicht herzustellen, um dem selbst entfremdeten Körper, der sich wie ein ‚Fremd-Körper’, als eine „Leihware“, anfühlt, eine entsprechende äußerliche „Leerhülse“ zu ‚verpassen’: „Ich bin tot, tot, tot, tot wie Frankenstein, auch so hässlich. [...] ich bin seine Schwester, es fühlt sich jedenfalls danach,  meine Arme, Beine, als gehörten sie mir nicht wirklich, Leihware. [...] meine Hände sind kalt, wie die von Frankenstein“. (S:54)

 

3. Lois kontra Superman – Androgynität als Ausdruck der Grenzüberschreitung und -verwischung

Ein auffallender und für die Ästhetisierung der Selbst- und Fremdbegegnung typischer Topos wird in der Literatur häufig der Topos der Reise als Inszenierung von Eigenem und Fremdem entworfen, so auch in diesem Buch. Die Kategorie des Raumes und der Bewegung markieren eine Kommunikationssituation, in der die Einen als Zuhause und die Anderen als die Fremden ausgewiesen werden. Elisa liebt das schnelle Rasen mit ihrem rotfarbigen Auto (die rote Farbe evoziert das Feuer) bis an die Grenzen des Möglichen: „Mit dem Auto (niemals mit der Bahn), immer in Bewegung, auf der Überholspur, am Pannenstreifen [...].“ (S:163) Elisas Wunsch, „alle Vulkane dieser Welt zu bereisen“ (S:95), die Vorliebe für das unkontrollierte Autorasen sowie der ständige Wohnungswechsel drücken das Gefühl der Unbehaustheit und Entwurzelung aus, das seine Entsprechung und zugleich auch eine Art Weiterführung im darauf folgenden Roman Terminifera erfährt. „Chortoicetes terminifera ist die zoologische Bezeichnung für eine australische Wanderheuschreckenart“(12) und wie diese wird auch die Hauptfigur Lois mit dem Wind in die Fremde ‚verweht’, wie Münchhausen auf einer Kanonenkugel in die fremde und fremdenfeindliche Welt auf Reisen geschickt: „Ich glaube schon daran, dass alles in meinem Leben nur dazu dient, mich dorthin zu bringen, wo ich gerade bin. Eine Odyssee.“(13) Eine Odyssee, die eine permanente Herausforderung bedeutet und dem Protagonisten das bedingungslose Sich-Anpassen an die neue Situation und an die gutbürgerlichen Regeln abverlangt, die ihm, dem Fremdling, im Heim mittels ‚gut gemeinten’ Redewendungen und Sprichwörter eingehämmert werden, um im ‚Heim heimisch’ zu werden: „Bald wirst du dich eingewöhnen, Junge. Für gewöhnlich dauert das angeblich eine Woche. Wer es dann noch nicht kapiert, dem ist nicht zu helfen.“ (T:8) Die Heuschrecken, die Lois als Kind fängt und in einem Glas einsperrt, werden zum Sinnbild des eigenen Gefängnisses im Kinderheim, die Heuschrecken zum Symbol der ersehnten Freiheit, des Sich-frei-Bewegen-Könnens: „Im Heim, ich erinnere mich, auf der Wiese gleich hinter dem alten Schuppen sah ich die ersten Heuschrecken in der Sonne. Sie machten das Gras lebendig, sprangen über meinen Bauch, wenn ich im Gras lag. Rasch in die Freiheit.“ (T:19)  Heuschrecken, Spinnen, Insekte, in der Regel angst- oder furchterregende Lebewesen, gut bekannt und vermarktet in Horrorfilmen, sind Lois’ beste Freunde so wie seine Hirngespinste, seine ihn Tag und Nacht heimsuchenden ‚Monster’. Lois’ Nichtzugehörigkeit, Nichtangekommen- und das ewige Dazwischendasein werden durch seine angedeutete Androgynität, durch die permanente Schwankung zwischen einer Mann- und Fraufigur, unterstrichen. Statt nach dem bewunderten Supermann, mit dem der Ich-Erzähler Selbstgespräche führt, wird die Hauptfigur wegen ihrer mädchenhaft schmächtigen Figur nach Lois, der Freundin von Supermann, benannt. Die paranoiaartige Identifizierung mit dem weiblichen Pendant geht so weit, dass Lois von sich selbst häufig in der weiblichen Form spricht, oder von seiner „ersten Periode“ und „Entjungferung“ aus der Rückblickperspektive berichtet (T:9,13). Dementsprechend ist auch durchgehend von dem Hund Sammy, dem einzigen Zuhörer und Freund Lois’, die Rede und erst auf der letzten Seite des Romans wird ‚preisgegeben’, dass es sich in Wirklichkeit um eine Hündin handelte, die bereits seit längerer Zeit tot sein dürfte: „Sammy war mir eine gute Frau. Eigentlich Samantha.“ (T:146)

 

4. Leere Menschenhülsen, hölzerne Marionetten und Kunstmensch Frankenstein. Zur Projektion der (Selbst)Entfremdungsbilder

Die innere Leere und ‚Ausgebranntheit’ der Figuren, ihre Unfähigkeit überhaupt etwas zu empfinden, wird als Folge von physischen und psychischen Schädigungen begründet (bei Lois ist es der körperliche Missbrauch im Kinderheim, bei Elisa die harten, von der eigenen Mutter angewendeten Erziehungsmethoden und ‚Überlebensstrategien’) – weder Gefühle noch Schmerz noch Angst noch jegliche andere sinnliche Wahrnehmung existieren für sie, sie sind in der Lage, die (Um)Welt um sich nur als statisches Bild durch automatisierte Handlungen wahrzunehmen und zu erschließen: „Farben sehen, Vögel, Wasser schmecken, durch einen Wald laufen, Sonne spüren, sich spüren, die Hände, Beine, den Bauch, etwas Süßes [...]“ (S:41). Die Aufzählung evoziert eine automatisierte, entfremdete Handlungsweise, der der Inhalt und Sinn längst entschwunden sind, so wie der Sinn der alltäglichen Tätigkeiten in der Alltagsroutine längst begraben und zu sinnentleerten Bewegungen wurde. Sie ähnelt eher einer mühsam zu erfüllenden Hausaufgabenliste, die durch eine ‚leere Menschenhülse’, einer hölzernen ‚Marionette’ gleich, ohne Wimperzucken oder innerliche Regung abarbeitet werden muss: „Müll raustragen, Katze füttern, Regenschirm kaufen, Katze streicheln [...], Schließfach ausräumen, in der Hölle schmoren.“ (S:153) Der Gefühlsausdruck der Zuwendung – die Katze streicheln – ist ebenfalls nichts anderes als eine gefühlsleere automatisierte Handlung einer ‚frankensteinähnlichen’ künstlichen Menschenkreatur ohne jegliche wahre Empfindung, die ‚nebenbei’ mit Müll raustragen oder Einkaufen gehen ‚miterledigt’ wird. So wie diesen entfremdeten ‚Erdbewohnern’ jegliche Liebesfähigkeit fehlt, ist ihnen auch jegliches Angstgefühl abhanden gekommen. Lois kennt keine ‚Gottesfurcht’ oder Abscheu vor Insekten, Elisa keine Angst vor der Fremde: „[…] mir fehlt die Angst vor Fremden, gänzlich. Einmal habe ich mir eine Liste gemacht, mit Fremden, mir überlegt, was die wohl alles tun könnten, mit einem anderen Menschen, mit einer Frau, was sie mir antun, in einem Keller.“ (S:40) Im Gegenteil, sie ist diejenige, die die Angst vor der Fremde in anderen weckt, deren furcht einflößende Fremdartigkeit sie in den Augen der anderen wie aus einer anderen Welt erscheinen lässt: „Meine Augen beginnen zu glänzen, sie werden wachsam, sie sind aus Glas, aus Lava. Diesen Anblick, den erträgt man nicht, man will plötzlich gehen, schnell bezahlen, bekommt es mit der Angst, ich, die Fremde, das Ungeheuer von einem anderen Stern.“ (S:40). Das Gefühl, von einem anderen Planeten oder Stern zu sein als Betonung der Unmöglichkeit sich integrieren zu können oder in der ‚Eigenartigkeit’ als ‚eigen’ angenommen zu werden, wird in Terminifera noch weiter ausgebaut und als Motiv vertieft. Lois’ ständiger Begleiter, imaginärer Freund und Berater, ist Mister Spock vom Raumschiff Enterprice – ein alter Ego, eine innere Stimme aus dem ‚fremden’ und entfernten Stern, ein (Halb)Vulkanier.(14) In diesem Sinne ist auch Elisa aus stillborn eine ‚Vulkanierin’, eine Fremde unter Menschen, die Vulkane zeichnet und insgeheim Feuer legt, um der inneren Kälte abzuhelfen, denn sie habe gar „kein Herz“: „Elisa hat kein Herz, Herz, Herzen waren schon aus, vielleicht tut es auch ein rosa Kaugummi, irgendwo unter dem Tisch geklebt“ (S:126). Dasselbe trifft auf Lois zu, der sich ein Herz aus Holz wünscht: „Wenn ich doch ein Herz aus Holz hätte, ich könnte wenigstens Feuer fangen.“ (T:88) Beide Figuren wirken wie ein fremdes Szenario, das in eine makellose idyllische Dorflandschaft irrtümlich hineinversetzt wurde, wie eine Dissonanz im harmonischen Akkord, wie ein schwarzer Fleck auf der einwandfrei weißen Sonntagsweste der gutbürgerlichen und gottesfürchtigen Kirchengänger. Um der Realität zu entkommen, wird in Terminifera eine imaginierte Welt zum Zwecke der Identitätskonstruktion entworfen. Die Phantasiewelt der Comics-Figuren sowie die omnipräsente „Monster-Welt“ in Lois’ Kopf wird verdinglicht und zur Überlebensstrategie instrumentalisiert, um einer „monströsen“ Wirklichkeit zu entkommen bzw. diese bewohnbar zu machen. Bereits in stillborn klingt die Monstrosität einer Welt an, die die Anderen aus der Perspektive der Einheimischen als ‚Bedrohung’ erscheinen lässt. Elisa Frankenstein heißt der vollständige Name der Hauptfigur und betont somit die „Totgeburt“ der Hauptfigur, die am Leben vorbei lebt, die nur als automatisierte Marionette und einprogrammiertes ‚Kunstmensch’ nach vorher abgespeicherten Daten gut zu funktionieren scheint: „Ich habe die Gabe, nirgendwo anzukommen, anzustoßen, anzuecken, es geht wie von selbst, vielleicht hab ich ein Sonar mitbekommen, war das Experiment eines verrückten Wissenschaftlers [...].“ (S:39) Das Wesen Frankenstein – ein lebloses, künstliches Monster, das zum Leben erweckt wird – bezieht sich also einerseits auf die Beschaffenheit der Innenwelt der Hauptfigur, nimmt aber zugleich schon auch das Bild des ‚Monsters’ vorweg, das zum tragenden Motiv des zweiten Buches wird.

 

5. Die Ich-Spaltung als Ausdruck des Fremden im Eigenen

Die Heimat bzw. Nicht-Heimat fungiert als ein emotional besetzter und magisch abgegrenzter Raum, in dem sich aber die Tendenz kenntlich macht, das Vertraute als fremd und bedrohlich zu empfinden, das Fremde dagegen als ‚heimisch’, eigen wahrzunehmen. Damit hängen eng die Prozesse der Ausgrenzung und Marginalisierung zusammen, die in beiden Texten suggestiv dargestellt und entfaltet werden. Das Andere kann als fascinosum (exotism) erlebt werden, was zur Bemühung um die Integration von Getrenntem führen und die Grenzen verschieben kann – was hier nicht der Fall ist. Es kann aber auch als Chance wahrgenommen werden, die Freiräume für das Andere offen zu lassen und die Integration des Fremden in sich selbst zu vollziehen, was im Prinzip im Endeffekt das Zusammenbrechen eines solchen ‚Grenzkonstrukts’ bedeuten würde. Beide Hauptfiguren realisieren ihre Fremdheit nach außen und auch nach innen hin, im Sinne von Kristevas Postulat „Fremde sind wir uns selbst“. Von beiden Hauptfiguren wird eine Ich-Spaltung vollzogen, um den Blick von außen nach innen richten und das Fremde in sich selbst als das ‚Eigene’ identifizieren zu können. Dazu dient auch der häufig wechselnde Perspektivenwechsel. Zwar werden beide ‚Geschichten’ von einem Ich-Erzähler bzw. Ich-Erzählerin dargeboten, doch spricht Elisa von sich häufig auch distanziert in der dritten Person als von einem „Mädchen“: „Mädchen, wach auf [...]“ (S:162). Ihre Inszenierung scheint permanent zwischen einem Ich, Du und Sie zu oszillieren: „War das ich, du, sie, mein Kopf prallt an die Tür […].“ (S:10), „[...] was soll ich noch wählen, es macht keinen Unterschied, entscheide du, er, sie, mir ist das egal.“ (S:52) Ebenfalls die eindeutige geschlechtliche Zuordnung bei Lois stellt sich problematisch dar und deutet auf eine Spaltung der Persönlichkeit hin, so dass sich beide Texte als eine bewusste Projektion eines gespaltenen Ich lesen lassen, das sich zwischen dem Fremden und dem Eigenen zu positionieren und als eine Einheit zu erschließen versucht. Beide schweben während der Suche nach sich selbst in einem imaginären Zwischenraum und befinden sich in einem paranoiaähnlichen Zustand, indem sich sowohl die Vernunftstimme von Mr. Spock als auch die Figur des Psychiaters in stillborn als bloße Projektionen des eigenen, des anderen Ich entpuppen: „Mit meinen Knie ist es so, Doktor Frankenstein, ich brauche unbedingt ein neues...“ – heißt es überraschenderweise auf der Seite 168, also de facto am Ende des Romans. Damit wird das Spiel, das das Ich mit dem „Doktor“ treibt (es liefert ihm Erklärungen, die aus seiner Sicht von dem Arzt erwartet werden), um eine neue Dimension erweitert  – um das Spiel mit dem Leser, der bis dahin den Arzt für eine ‚reale’ Figur gehalten hat (in Anlehnung an Malina bei Bachmann). Das Ich siedelt sich nicht auf der einen Seite jener Polaritäten von Eigen und Fremd, sondert die Demarkationslinie verläuft quer durch das Ich selbst, das Ich wird in Widerspruch mit sich selbst gebracht, wird  zerfallen und zerrissen dargestellt. Insgesamt kann gesagt werden, dass die kulturelle Wahrnehmung und Bewertung, die dem ‚Eigenen’ Überlegenheit und dem ‚Anderen’ bzw. Fremden Inferiorität zuschreibt, die ganze Konstruktion und Figur des Grenzgängers in seiner Position einer „Vulkantänzerin“ (S: 95) fragwürdig macht. Zwar lässt das Ende beider Werke wenig Hoffnung zu (in stillborn verunglückt die Hauptfigur in ihrem Auto, in Terminifera wird der baldige Tod der Hauptfigur durch den gewaltsamen Tod des Hundes, der einzigen ‚Bezugsperson’, vorweggenommen), doch erlaubt der subversive ‚Doppel-Blick’ zugleich, die eingefahrenen Klischees in Frage zu stellen und die subjektiv empfundene Bedrohung von Identität und Abgrenzung zu relativieren und die Ich-Spaltung zu überwinden, indem die bewusste Doppelposition und der Konstrukt des ‚anderen Ich’ aufgegeben wird: Die Selbstgespräche mit dem ‚starken’ und ‚heldenhaften’ Alter Ego werden obsolet, Mr. Spock verabschiedet sich von dem Protagonisten und verschwindet endgültig. In stillborn wird dagegen die Ich-Spaltung als solche erst am Ende des Romans transparent, indem Elisa den ‚Seelen-Doktor’ als ihr ‚Hirngespinst’, eine fiktionale, ‚selbsttherapeutische Projektion’ und ein Teil von sich selbst erkennen lässt  – zwei gegensätzliche Ich-Konzepte, wenn man beide Werke miteinander vergleicht, die durch die literarische Darstellung des Selbstverständnisses eines zwischen Ich und Du oszillierenden Ich die Ambivalenz der hier erörterten Problematik und der Grenzüberschreitung zwischen Eigen und Fremd um so überzeugender vermitteln.

 


Anmerkungen:

1 Zit. n. Doron Rabinovici. Fremde unter Fremden.  Mit vereinten Kräften. Der Machtanspruch der Literatur. Hg. v. Jiří Gruša und Wolfgang Lederhaas. Wien: Diplomatische Akademie, 2006, S. 93-95, S. 93.
2 Ebenda, S. 93.
3 Vgl. Hans-Joachim Gehrke. Einleitung: Grenzgänger im Spannungsfeld von Identität und Alterität.  Grenzgänger zwischen den Kulturen. Hg. v. Monika Fludernik und Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon-Vlg., 1999, S. 15- 24, S. 15.
4 Vgl. ebenda, S. 16
5 Ebenda, S. 16.
6 Ebenda, S. 16
7 Der Familienname „Stavarič“ ist kroatischen Ursprungs. Vor ca. 200 Jahren haben sich in Mähren,  in der Nähe von Brno (Brünn), Kroaten angesiedelt, zu dessen Nachfahren auch Stavarič’ Familie zählt. Heutzutage benutzt Stavarič seinen Namen ohne das diakritische Zeichen in Form „Stavaric“. 
8 Šárka Pastvová. Michael Stavarič – ein in Brünn geborener, in Wien schreibender Autor. Dipl.-Arb., Univ. J.E.Purkyně, Ústí nad Labem, 2007, S. 5 (zitiert aus einem Interview der Vf. mit dem Autor).
9 Ebenda, S. 9.
10 Es soll sich um eine Geschichte über den Fortschritt der Welt am Beispiel einer vier Jahrhunderte lebenden Figur handeln, die mit ihrem Leben den Lauf der Geschichte  beeinflusst. (vgl. ebenda, S. 17)
11 Michael Stavaric. stillborn. Salzburg: Residenz, 2006, S. 30. Weitere Zitate aus derselben Quelle werden unter der Abkürzung  “S” hinter dem Zitat in runden Klammern im Text angeführt.
12 Wilfried Stanzick. Michael Stavarič: „Terminifera.”
URL: http://www.sandammeer.at/rezensionen/Stavarič-terminifera.htm [Stand: 20.5.2007]
13 Michael Stavaric. Terminifera. Salzburg: Residenz, 2007, S. 19. Weitere Zitate aus derselben Quelle werden unter der Abkürzung  “T” hinter dem Zitat in runden Klammern im Text angeführt.
14 Vulkanier sind eine vom Planeten Vulkan stammende Gemeinschaft, ähnlich  den Menschen, aber fortschriftlicher, derer Aufgabe es war,  das menschliche Verhalten zu hinterfragen. (vgl. Wikipedie: „Personen im Star-Trek-Universum. URL: http://de.wikipedie.org/wiki/Mr._Spock#Comander?Spock [Stand: 20.09.2007])

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