TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 4.2. Different Ways of Thinking: Formation – effects – interactions | Verschiedene Denkweisen: Entstehung – Wirkungen – Zusammenwirken
Sektionsleiter | Section Chair: Arne Haselbach (Wiener Denk-Werkstatt) and David Simo (University of Yaounde)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Rollenspiele. Gesellschaftliche und ästhetische Strategien
im Werk von Christoph Hein

Klaus Hammer [BIO]

Email: Prof.Klaus.Hammer@gmx.de

 

In seinem erst 1981 veröffentlichten Essay „Waldbruder Lenz“, der die Beziehung des Autors zu den großen Stilisten deutscher Sprache von Lenz, Kleist, Hebel, Büchner bis Kafka und Canetti dokumentiert, erzählt Christoph Hein gleich anfangs eine Geschichte, die er in einem comic fand: „Ein Landstreicher erklärt einem ältlichen Priester des Vatikans die biblische Schöpfungsgeschichte, wonach die Erdkugel ein Wollknäuel sei, welches Gott aus dem Schoß gefallen und nun langsam von ihm wieder aufgerollt werde. Unser Leben sei insofern rückläufig, die Vergangenheit unsere Zukunft und das Finale der Welt absehbar, es hängt am Fadenende. Auf die Frage des entsetzten Priesters, wo denn, bei Gott und allen Teufeln, dies in der Bibel stünde, entgegnet der Landstreicher: So direkt steht es natürlich nicht drin. Aber du bekommst es sehr schnell mit, wenn du verstehst, zwischen den Zeilen zu lesen“.(1)

Die künstlerischen Strategien „beim Schreiben der Wahrheit“ (Brecht) waren in der Literatur in der DDR vielfältig. Die Kunst, sowohl mit verstellter Stimme zu sprechen als auch zwischen den Zeilen oder „um die Ecke“ zu lesen, wurde mit der moralischen Verpflichtung verbunden, den geknebelten Journalismus und den unterbundenen öffentlichen Diskurs in und mit der Kunst zu ersetzen. Viele Autoren setzten ihren Ehrgeiz darin, die Sprache der Herrschaft nur in ihrer Oberflächenstruktur benutzt, so die Organe des Machtapparates genarrt und „Kassiber“ unter das Volk gebracht zu haben, wie es Fritz Rudolf Fries beschreibt. Der Autor dissimulierte und verrätselte, konstruierte nach dem Modell von Anagramm oder Palimpsest, Labyrinth oder Rebus, und der eingeweihte Leser tüftelte und entschlüsselte. Das Bedürfnis, „Widersprüche loszuwerden“, motivierte das Schreiben Heiner Müllers. „Wenn man ein Objekt der Geschichte ist, braucht man andere Figuren, um über die Probleme zu reden“. Das eben verlangte eine Form, welche die Äußerung in Rollen und Masken möglich macht: den „dramatischen“ Text und zunehmend den „theatralischen“ Text. „Ich kann das eine sagen und ich kann das Gegenteil sagen“, so Heiner Müller.

Christoph Hein allerdings wies den Versuch einer Funktionalisierung von Literatur zum Zweck einer verschwörerischen Verständigung mittels der „Sklavensprache“ strikt von sich ab. Er bestand darauf, Literatur schreiben zu wollen, und forderte diese Freiheit – uneingeschränkte Öffentlichkeit – für alle. In begrifflicher Schärfe und logischer Eindeutigkeit demontierte er in seinen Reden und Aufsätzen die zu Versatzstücken, Phrasen und Beschwörungsformeln gewordenen „sozialistischen“ Ideale und Leitbilder. Er hat die „versteinerten Verhältnisse“ beschreiben wollen, und die versteinerten Verhältnisse fingen an zu tanzen.(2)

 

I.

Die Ideale sind desavouiert, die Botschaften verschlissen, das Leben scheint ein falsches, leeres, sinnloses und auswegloses – Hein unternimmt die Bestandsaufnahme eines Zustandes, nicht die Schilderung eines Entwicklungsprozesses. Er hat nie in Abrede gestellt, dass die ihn umgebenden Verhältnisse auch sein Schreiben beeinflusst haben. In seiner Rede über die Verdrängung der stalinistischen Hinterlassenschaft der DDR – im September 1989 – bekannte, er dass es ihn psychisch krank mache, in einem Land zu leben, dessen Bürger es verlassen wollen: „Es macht mich krank, weil die Gesellschaft irgendwo krank ist“(3). Die Diagnose der Gesellschaft in seinen Werken ist auch die der Krankheit der Gesellschaft. In der Geschichte der der Ärztin Claudia („Der fremde Freund/Drachenblut“), die da scheinbar fühllos über sich selbst berichtet, die alles unter Kontrolle, „alles im Griff“ hat, versuchte der Autor – so in einem Gespräch 1991 – „etwas von dem zu benennen, was ich gesehen habe, was vorhanden, fast unübersehbar war. Es war für mich eine DDR-Geschichte. Aber sie wurde in 40 Ländern übersetzt, und auch an den Briefen aus sehr unterschiedlichen Ländern merkte ich, dass da offenbar noch etwas war, was auch in anderen Ländern vorhanden ist. In der ‚New York Times’ hieß es dann auch: Die Frau lebe in Ostberlin, aber das Barometer stehe auf der gleichen Stelle wie in New York. Also ist da irgendetwas Übergreifendes, und ich vermute nachträglich, dass es eben etwas mit dem Stand der Zivilisation zu tun hat, die ja doch in den sonst so politisch so unterschiedlichen Ländern vergleichbar ist“.(4)

Zwei unterschiedliche Leseperspektiven und Lesemodelle wirken hier zusammen, ihre Verbindung und Interaktion machen die Irritation und zugleich Faszination von Heins Novelle „Der fremde Freund/Drachenblut“ aus. Der Leser ist aufgefordert, durch die Erzählerin Claudia im doppelten Sinne des Wortes zu sehen: unter ihrem Text den versteckten Untertext und gleichzeitig die Gesellschaft aus ihrer Optik zu betrachten. In dieser Doppelfunktion des Erzählens nimmt das Ich die Doppelposition von Subjekt und Beobachter ein. Subjekt und Untertext stellen das eine Lesemodell dar. Es funktioniert mit Hilfe der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, Gesagtem und Ungesagtem. Indem Claudia sich weigert, sich selbst zu überprüfen, und alles verdrängt – das Wiederfinden der begrabenen Vergangenheit, die heilende Macht der Erinnerung -, nimmt die blanke Oberfläche von Bildern (Abziehbildern), die aufeinander folgen, ohne eine tiefe Spur zu hinterlassen, den Platz des abwesenden Ich ein. Das Ich Claudia wird durch den Beobachter Claudia ersetzt, an die Stelle von Selbsterleben, Selbsterfahren tritt kühle, distanzierte Registration. Und genau die Blockierung der Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schneidet die Zukunft ab.

1986 plädierte Hein für die ihm gemäße Haltung der Aufklärung, “die das Bestehende eindeutig und genau analysiert… Wenn ich meine gegenwärtige Situation mitleidlos und distanziert genug, ohne Hass und Eifer betrachten kann, auch gnadenlos genug, dann, denke ich, ist dies eine Chance, einen künftigen Weg zu finden“.(5) Die Aufklärung der Gegenwart hängt also ab vom Verstehen der Vergangenheit, dem Wissen meiner eigenen Geschichte und der Geschichte der Gesellschaft. Der Kontrast zwischen (abwesendem) Ich und (anwesendem) Beobachter in Claudias Text dürfte also auf mehr hinweisen als auf den Bericht einer blockierten Identität. Ihre soziale Emanzipation ist praktisch mit völliger emotionaler Verarmung erkauft. Heins Aufklärung der äußeren Erscheinungen sind Oberflächenprotokolle der Überlebensstrategien eines perfekt funktionierenden Ich. Die emanzipierte, funktionelle Beziehung zwischen Claudia und Henry, diesen beiden Fremden, wird aufrechterhalten durch das Nichtvorhandensein von Kommunikation, durch Kälte, Langeweile und Entfremdung. Beide versuchen zu leben, zu überleben, indem sie sich von ihrer Vergangenheit wie Zukunft lösen. Ihre Gegenwart aber ist erfüllt von der Leere des Wartens darauf, dass etwas geschieht. Das „Mir geht es gut“ der Claudia ist die schlimmste Bankrotterklärung des Ich und damit einer Gesellschaft, die dem einzelnen Identität, das Leben in sich selbst, verweigert. Es ist aber darüber hinaus die Frage nach dem Preis der Zivilisation in der modernen Gesellschaft, sowohl im Osten als auch im Westen.

Wenn sich Hein als Chronist im Sinne der Chronistenschreiber des 14. und 15. Jahrhunderts betrachtet, dann schließt er hier Genauigkeit des Erzählens, direkte Mitteilung über die Welt genauso ein wie die Distanz, die aber keineswegs Nichtidentität bedeuten muss. „Natürlich gibt es keinen Text, in dem der Autor nicht drin ist. Und natürlich wählt der Chronist auch aus“, strebt also subjektive Objektivität an.(6) .Nicht der Vorgang ist das eigentlich Fürchterliche, sondern sein Benennen. Und immer wieder hat Hein das Marx-Wort (aus dem Vorwort zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie): „Wenn man den versteinerten Verhältnissen die eigene Melodie vorspielt, dann zwingt man sie halt zum Tanzen“. In den letzten 800 Jahren sei es immer ein Verbrechen gewesen, wenn bestehende Verhältnisse genau benannt wurden. Nicht der Achipel Gulag sei das Schlimme, sondern dass Solschenizyn die Untat beging, ihn zu benennen.

 

II.

Wie ging Hein nun in seinem Roman „Horns Ende“ vor? Die Story entwickelte er zunächst chronologisch, vom Frühjahr 1957, als die Zigeuner ihr Lager inmitten der Kleinstadt Guldenberg aufschlugen, bis zum Freitod Horns und schließlich bis zum frühen Herbst 1957, als die Zigeuner die Stadt für immer verlassen. Beide Ereignisse haben kausal scheinbar nichts miteinander zu tun aber in der Erinnerung der Guldenberger bleiben sie eng miteinander verbunden. Der Erzähler erforscht den Jahrzehnte zurückliegenden „Fall“ und beschreibt den Weg Horns in zweifacher Richtung: vom stattgefundenen Tod zurück in die erinnerte Vergangenheit, und von der Vergangenheit bis zum Tod Horns. Aber eigentlich erfahren wir durch die Lebenszeugen weniger über Horn als vielmehr über die Figuren selbst. Die Aussagen des Arztes Dr. Spodeck, des Apothekersohnes Thomas, der Krämersfrau Fischlinger, des Bürgermeisters Kruschkatz und des geistesgestörten Mädchens Marlene Gohl gleichen Erinnerungsprotokollen, die untereinander wieder nach dem Prinzip der Spiegelung und Rückspiegelung arrangiert sind. Das sokratische „Erinnere Dich“, jedem Kapitel vorangestellt, löst mehr ein Erinnern an eigene unbewältigte Lebenswirklichkeit aus. Horn ist auch am Schluss eine fremde Figur; die Motive seines Selbstmordes bleiben letztlich ungeklärt.

Die Story um den „Fall“ Horn trägt ihren Anlass in sich selbst, und sie geschieht auch aus sich selbst heraus. Sie bleibt der Zwischenfall in der Kleinstadtgesellschaft, der „Fall ohne Folgen“. Unbeeindruckt geht das Leben so wie bisher weiter. Diese totale Festschreibung der Welt und Verinselung des Katastrophalen ist ein methodisches Konzept Heins.

In den Zeugenaussagen wird der Leser mit einem mechanisch ablaufenden Uhrwerk von Niederträchtigkeiten und Schäbigkeiten konfrontiert; die Figuren sind Werkzeug eines unaufhaltsam abrollenden Geschehens das nur durch wenige Lichtpunkte von Menschlichkeit durchbrochen wird. Die Zigeuner stellen durch ihre bloße Präsenz in der Stadt die vorgebliche Rechtschaffenheit der Bürger in Frage. Sie bringen „unbegreifliche Ferne“ und „Fremdheit“ in die kleinbürgerliche Enge und Bedrücktheit und stören als ethnische Menschengruppe, die vom Nationalsozialismus verfolgt wurde, den „unveränderbaren, wohlbehüteten Ablauf der Zeit“.

Der Autor zwingt die Zeugen, die selbst als Opfer verstanden werden wollen, sich in den bezeugten Szenen als Akteure zu offenbaren, agierend unter anderen Akteuren (der Kunstmaler Gohl und seine Frau Gudrun, Kruschkatz’ Frau Irene, Kruschkatz’ Stellvertreter Bachofen, Frau Fischlingers Sohn Paul, Spodecks Hausmädchen Christine u.a.), die wieder nur in ihrer Schilderung vorhanden sind. In der Re-Produktion dieser Aussagen, die mit Handlungsfakten abgestützt sind, steht Aussage gegen Aussage, Person gegen Person, Wahrheit gegen Wahrheit, Lüge gegen Lüge. Hein zerstört ständig die Figurenperspektive, kontert die eine durch die andere; jede Figur setzt eine andere Perspektive und verlangt sie zugleich auch für sich. Es ergeben sich Momente, die simultan und nebeneinander gesehen und – quasi als Meta-Begebnisse – um den Tod Horns und seine direkten Folgen bzw. Nicht-Folgen herum gruppiert sind. Der Kunstgriff beseht in der stilistischen Schockierung, im unvermittelten Tonwechsel des Erzählungsprotokolls, das einen Aspekt durchhält, um- und abbricht und an anderer Stelle wieder aufnimmt.

Dennoch ergeben die Recherchen, die Erinnerungsbefragung letztendlich nichts. Die Genauigkeit der beabsichtigten Nachfrage erzielt eigentlich nur Ungenauigkeit. Der Zeugenbericht als methodisches Verfahren scheitert an der versuchten Aufklärung des Motivs. Die authentische, „wahrheitsgemäße“ Beschreibung, die sich scheinbar jeder Manipulation und Täuschung versagt, stellt sich gerade als eine Methode des Verhüllens und Verschweigens dar. Hein referiert den „Fall“ in den subjektiven Spiegelungen, Brechungen und Verzerrungen der Zeugenaussagen, er referiert auch und vor allem die „Leerstellen“, das Unaufgeklärte und scheinbar Unaufklärbare und reißt damit immanente Widersprüche auf. Wenn die non-fiction-Schreibweise auch das anvisierte singuläre Tatmotiv nicht einbringen kann oder gar nicht will, so soll sie im Sinne der Negation der Negation eine mögliche Aufhebung oder Verallgemeinerung des Einzelfalls im Bewusstsein des Lesers leisten, indem sie seine Kritik herausfordert.

Die noch an ein festes Erzähler-Ich gebundene Erzählperspektive im „Fremden Freund“ ist von Hein hier preisgegeben worden. An ihre Stelle ist der reduzierte Erzähler getreten, dessen Position und Erzählperspektive in einer Vielzahl von gegensätzlichen Zeugenprotokollen aufgelöst bzw. montiert ist. Innerhalb der Einzelaussage und –situation prägt der Verzicht auf schlüssige, kontinuierliche Geschehensdarstellung zugunsten punktueller, nicht einer Entwicklung folgenden, sondern Bruchstücke reihenden Erzählweise die Erzählstruktur.

Vom gebrochenen Spiegel – einer Erfindung der Filmtechnik – erzählt Dr. Spodeck Horn in einer Sprechstunde. Mit Hilfe des gebrochenen Spiegeln können aus Filmdokumenten Teile eines Bildes entfernt oder aber neue, nicht dazu gehörige Bilder eingespiegelt werden. Diese Erfindung zur Manipulation von Filmdokumenten und damit auch von Geschichtsschreibung vergleicht Spodeck mit dem menschlichen Erinnerungsvermögen: „Wir speichern nicht ein Geschehen, sondern unser Bewusstsein, unser Denken über ein Ereignis. Es sind persönliche Erinnerungen, was nicht weniger sagen will, als dass all unser Erinnern kein Bild der Welt liefert, sondern ein durch das Spiegelkabinett unseres Kopfes entworfenes Puzzle jenes Bildes mit unseren individuellen Verspiegelungen, Auslassungen und Einfügungen“.(7) Folglich kann es kein eindeutiges Bild der Realität geben; alle Aussagen über Geschichte sind notwendigerweise subjektiv und verändern sich in Abhängigkeit vom Blickwinkel des Beobachters.

Der in zahlreiche Splitter gebrochene Spiegel erzeugt ein Kaleidoskop; immer neue Bilder können durch das unterschiedliche Zusammenlegen der Teile entstehen. Jedes Teil ist Fragment und spiegelt nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder. So wie der Leser die von den Erzählern zur Verfügung gestellten Erinnerungsfragmente selbst zusammensetzen, interpretieren und nach Widersprüchen befragen muss, so bleibt auch jede Geschichtsschreibung fragmentarisch, abhängig von der subjektiven Sich des einzelnen und den Bedingungen der Gegenwart.

Eine ähnliche Erfahrung macht der 12jährige Thomas, der vor dem dreiteiligen Frisierspiegel der Mutter sitzt und sieht, wie er durch die Bewegung der Seitenteile sein Gesicht verändern kann. Wie Spodeck im Gespräch mit Horn beschreibt, so entdeckt Thomas, dass es möglich ist, das Gesicht mit wenigen Handgriffen zu vervielfachen, es zu einer Fratze zu verziehen, es in unerreichbare Ferne zu rücken oder Teile verschwinden zu lassen. Es ist möglich, Teile des Gesichts „herauszureißen“, ohne Zeichen einer Verletzung zurückzulassen. „Keine Wunde, keine Narbe deuteten auf verlorene Gesichtsteile“.(8) Thomas entdeckt auch, wie schwierig es ist, sein „wirkliches“ Gesicht zu sehen.

Entscheidend für das gegebene Bild ist der Blickwinkel des Betrachters, die Richtung, aus der dieser sich dem Spiegel annähert. Thomas’ Spiel mit dem Spiegel lässt sein vertrautes Spiegelbild zu etwas Fremden werden. Sein Blick in den Spiegel dient nicht länger der Selbstvergewisserung, sondern ist vielmehr Ausdruck seiner tiefsten Verunsicherung. So viele verschiedene Spiegelbilder entstehen können, so viele Darstellungs- und Interpretationsmöglichkeiten gibt es für Geschichte.

Sowohl Spodecks Ausführungen als auch die Erfahrungen Thomas’ veranschaulichen, dass Bilder manipuliert werden können. Um das unter der Oberfläche Verborgene sehen zu können, müssen die Teile neu und anders zusammengesetzt werden. Erst der gebrochene Spiegel ermöglicht, bisher Bekanntes zu verfremden, Verborgenes an die Oberfläche zu bringen und sichtbar zu machen.

 

III.

Die besondere, unfassbare Tragik von Heins Figuren ist, dass ihrem Schicksal nichtige, scheinbar leicht behebbare Ursachen zugrunde liegen. Gesellschaftliche Tabus können sich über Nacht in Nichts auflösen. Unrecht von gestern kann heute schon anerkanntes Verhalten sein.

Von Bitterkeit und Komik zugleich ist die Geschichte des 36jährigen Hans-Peter Dallow geprägt, der, nachdem ihn ein „dummer Zufall“ für 21 Monate ins Gefängnis gebracht hatte, nun wieder in Freiheit mit zweifelhaftem Erfolg nach einer freien Entscheidung sucht. Ebenso aber auch die Geschichte seines Konkurrenten Roessler, der wiederum eines „dummen Zufalls“ wegen, auf der Karriereleiter des Wissenschaftsbetriebes ausrutscht, dem abgestürzten Dallow nun die „glückliche“ Gelegenheit bietend, dieselbe hinaufzufallen.

Was sind das für „dumme Zufälle“, die Dallow wie Roessler stolpern ließen? Gerade sie werfen ein ironisch-satirisches Schlaglicht auf Paradoxes in der Stellung der beiden Historiker im und zum zeitgenössischen historischen Geschehen. Dallow war damals nur eingesprungen als Klavierspieler beim Kabarettprogramm der Studenten, ohne Kenntnis des politisch brisant umgeschriebenen Tangotextes, der eine so drakonische Strafe (Gefängnishaft) nach sich zog. Sein Beitrag zum Geschichtsbewusstsein hatte sich nach eigener Aussage auf das Zusammentragen revolutionär-romantischer „Anekdoten“ aus den Anfängen der Arbeiterbewegung beschränkt. Den beunruhigenden Prager Ereignissen des Jahres 1968 gegenüber verhält er sich gänzlich desinteressiert. Gerade diese Haltung aber „schützt“ ihn im heiklen Monat August, „Fehler“ zu begehen, sie wird gleichsam „belohnt“. Denn Roessler, der, während Dallow im Gefängnis saß, an dessen Stelle zum Dozenten avancierte, übersieht im Eifer, nichts „falsch“ zu machen, die Grube (er behauptet öffentlich, dass die Truppen der DDR niemals in die Prager Ereignisse eingreifen würden) und fällt hinein. Dallow kehrt nun ins „Gleis“ des Historischen Institutes zurück, jetzt wiederum Nutzen ziehend aus Roesslers groteskem Missgeschick, und kann sich den Gag leisten: „Eine Bedingung… Keine Vorlesungen früh um sieben“.(9) Erst will er die Nachrichten gehört haben.

Hein legt Wert auf die banale Durchschnittlichkeit seiner Figur: Dallow wird weder zum Moralisten hinaufstilisiert noch als Beispiel einer Wandlung hin zum systemkritischen Opponenten vorgeführt. Er steht in jeder Hinsicht unter Druck, er ist unfähig zur Freiheit, und es fehlen ihm sozusagen die Räume für die Freiheit. Mehrfach wird auf die diffuse Strafdrohung verwiesen, die jedermann fühlt. Einmal heißt es sarkastisch: „Offenbar steht das ganze Land mit einem Bein im Zuchthaus. Bis auf die Strafgefangenen und die Vollzugsbeamten“.(10) Aber es stellt sich eben heraus, dass der aus der Haft Entlassene in einem anderen Sinne mit einem Bein in der Zelle stecken geblieben ist. Er kann nämlich noch weniger als vorher Entscheidungen treffen, er sehnt sich nach einer Situation, in der wieder für ihn Vorsorge getroffen wird.

An den Wendepunkten der Handlung setzt bei Hein die Realität als Groteske ein. Der Verfasser jener Tangoparodie arbeitet inzwischen für ein Leipziger Berufskabarett, und was einst in den Knast führte, wird jetzt von dem Richter beklatscht, der einst den Prozess gegen ihn führte. Er freut sich, dass „wir ein ganzes Stück weitergekommen sind“. In einer langen Suada erklärt er dem einstigen Angeklagten, dass das Recht sich eben lebendig weiterentwickle, aber aus dem früheren Unrecht niemals Recht werde, so dass die Strafe durchaus gerecht sei.(11)

 Erst auf Seite 68 erfährt der Leser, warum Dallow damals verurteilt wurde, und da weiß er schon: Es gibt Beunruhigenderes an Dallow als seine Haft und die Gründe für sie. Gelangweilt und desinteressiert ist er vor allem. Unrecht ist ihm geschehen, aber selbst das erscheint eher gleichgültig, langweilig als aufregend. Es ist ein Buch über Banalität, aber es ist kein banales Buch. Die männliche und politisierte Ausführung der Kälte, die im „Fremden Freund“ so erschreckte. Normalität und Banalität haben Dallow eingeholt, sie sind stärker als die unerhörte Begebenheit seiner Haft. Aber die Normalität hat ihren gefährdeten und gefährlichen Untergrund. Dallow wie die Frau Doktor im „Fremden Freund“ halten sich heraus. Und beide haben eine Erfahrung gemeinsam, sie gehört zu dem beunruhigenden Untergrund der Normalität. Es ist die Erfahrung mit der bestürzenden Aggressivität von Jugendlichen. Der fremde Freund Henry wurde von einem Siebzehnjährigen erschlagen. Dallow beobachtet Jugendliche in der Straßenbahn: „Plötzlich wurde sein Kopf gegen die Fensterscheibe gestoßen… Es sind Kinder, sagte er sich, ich kann mich nicht von Kindern zusammenschlagen lassen“.(12) Unter der Oberfläche der Normalität sitzen Aggression, Brutalität, Verunsicherung.

Stärker noch als die Frau Doktor ist der Mann Dallow von der Normalität bestimmt. Er hatte gemeint, ihr entkommen zu können, und nicht gewusst: Sie saß in ihm.

 

IV.

„Das Napoleonspiel“ ist recht eigentlich ein langer Brief des Angeklagten Wörle, eines Juristen von Hause aus, an seinen Verteidiger, Herrn Fiarthes. Dieser soll dem des Mordes angeklagten Zunftkollegen noch vor der Hauptverhandlung zu einer Entlassung aus der Haft verhelfen.  Was war geschehen? Wörle hat am 12. Mai 1988 einen Mord in einer Westberliner U-Bahn ausgeführt. Mit einem Billardstock wurde der Kaufhausangestellte Bernhard Bagnall umgebracht, der dem Mörder nahezu unbekannt war. Das Opfer ist „…das perfekte Neutrum. Die Tötung erfolgte zwar in aller Öffentlichkeit, dennoch war ich erstaunt, dass sein plötzliches Verschwinden so rasch bemerkt wurde“.(13) Der Roman ist eine Lebensbeichte als Sprachkunstwerk in einer stupenden Mischung aus zynischen Apercus, Selbstdarstellung und einer egozentrischen Lebensphilosophie, des Spiels, die ihre Vorbilder nicht verleugnet. Er ist eine Art westdeutscher Erfolgsgeschichte: Wörle als kindlicher Verführer der väterlichen Arbeiterinnen, als Organisator eines florierenden Briefmarkenhandels in der Schule, als junger Anwalt in der Kleinstadt, als Graue Eminenz der Westberliner Politik, als begnadet-perfekter Billardspieler. Je erfolgreicher er ist, umso groteskere Herausforderungen sucht er. Alle Spielzüge plant er im Billardzimmer seines Sylter Ferienhauses.

Heins Grundeinfall: Das Leben als pures Spiel mit immer höherem Einsatz. Die Sucht nach dem immer Neuen, die durch Erfüllung nicht befriedigt, sondern nur auf neue Objekte gelenkt wird, taugt zur Metapher für den Alltag einer durch alternative Ideologien nicht länger gebändigten Industriegesellschaft. Die Wörlesche Lebenschronik gerät passagenweise zur modellhaften Chronik der letzten 50 Jahre. Der Ich-Erzähler ist mit kaum noch identifizierbaren Bruchstücken seiner eigenen Biographie ausgestattet. Er hat die Technik der Rollenprosa perfektioniert. Wo bei Claudia im „Fremden Freund“ und Spodeck in „Horns Ende“ noch zwischen den irritierend-kompromisslosen Figuren-Standpunkten die Moral des Autors hervorblitzte, passt hier das Zyniker-Kostüm wie maßgeschneidert. Erinnerungen und Ausblicke reduzieren sich auf den Überdruss am Bekannten und die Angst vor der Wiederholung. Hoffnung oder gar Utopie kommen nicht mehr vor; die Dimension der Geschichte ist weggebrochen.

Mit der immer wiederholten These, seine Figuren seien Warn- oder Provokationsfiguren, will Hein nichts zu tun haben. Im „Napoleonspiel“ könnte es um einen Vergleich zwischen „offener“ und „geschlossener“ Gesellschaft gehen und was das für den einzelnen bedeuten könnte. Man muss in einer „offenen Gesellschaft“ mit ihren Freiheiten nicht unbedingt glücklicher sein als in einer „geschlossenen“ (und hier stimme ich mit Hein nicht überein). Die DDR als „geschlossene“ Gesellschaft mit den vielen einzuhaltenden Spielregeln war so etwas wie ein großer Abenteuerspielplatz. Die gegebenen Verhältnisse provozierten ständig zum Überschreiten der Grenze oder zum Überschreiten von Ritualen. Das verschaffte dem einzelnen Erfolg, selbst im Misserfolg. In einer „offenen“ Gesellschaft ist das ganz anders, das macht Wörle deutlich: Er wirft ihr in seinen philosophischen Denk-Monologen vor, dass sie in dem Augenblick, da sie ihr Knecht-Dasein verlieren, nicht glücklicher sind.

Bewusstwerdung – sagt Hein – ist eine Voraussetzung für Veränderung. Ist es bei Wörle nicht so: Je bewusster desto schlimmer wird es für den einzelnen?

Kruschkatz äußerte über Horn, dass der für seinen Tod bestimmt war „wie ein Ochse für den Schlachthof“. Für ihn war Horn nicht „lebenstüchtig“, denn er war „für ein Leben unter Menschen nicht geeignet“. Für Wörle ist es gerade Kennzeichen „des Menschen“, nicht allzu selbstlos zu sein. Darum ist für ihn nicht der Selbstsüchtige das Monstrum, sondern eher der mildtätige Urwald-Doktor. Denn der bleibt die Ausnahe. Wörle: „Die kleine Schäbigkeit, die uns einen Vorteil bringt, kennzeichnet sie nicht genauer das Menschliche?“(14)

Kruschkatz betonte, dass es mehrere, einander widersprechende Wahrheiten gibt. Spodeck vergleicht das Bewusstsein mit 1000 Spiegeln, von denen jeder tausendfach gebrochen ist. Das kommt der Struktur des Puzzle gleich.

„Das Napoleonspiel“ endet damit, dass ein neues Spiel ansetzt. Wörle verlangt das Manuskript zurück und will es einem vermeintlichen Schriftsteller geben, der es dann unter seinem Namen veröffentlichen wird. Kunst ist in diesem Sinne vollendetes Spiel. Kunst verarbeitet Wirklichkeit aber auch mit Verkehrungen und Spiegelungen und nicht in purer Form wie bei einer Rede oder einem Essay. Die ersten Notizen zum „Napoleonspiel“ gibt es schon im November 1982. Den Typus Wörle habe er auch schon früher in der DDR getroffen, sagt Hein. Wörle ist das glücklichere Pendant zu Claudia, die auf Grund des Überdrusses im gesellschaftlichen circulus vitiosus dem Selbstmord nahe schien. Wörle kann zwar der Überdruss umbringen, aber für Selbstmord ist er nicht  der Mann: Er hat noch genügend Spiele auf Lager. Wörles Sorge ist, als banaler Mörder verurteilt zu werden. Denn durch den Bezug auf Napoleon (nicht auf Hitler!) ist er mehr als Wörle. „Wenn wir einen Verlust erleiden, hilft es zu sagen: Wir haben nicht verloren, sondern wir sind Opfer. Ein Opfer ist etwas Heroisches“.(15) Es ist sehr hilfreich, wenn Wörle so ein Wort wie „Solidarität“, „Barmherzigkeit“ oder Gemeinschaftssinn gänzlich fehlt. „Gnade dem, der Mitleid hat!“ Wörle akzeptiert nicht die Grenzen der Freiheit, das menschliche Leben als Wert. Ich bin so frei, jemanden auch zu erschlagen. Asozialität und Freiheit haben miteinander zu tun. Der Gebrauch von Freiheit schließt den Missbrauch immer mit ein. Wörle handelt aus Langeweile, zu erklären aus dem deformierten Zustand der Zivilisation.

„Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut“,(16) war Claudias Devise. „Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“. Wem es gelingt, sich damit abzufinden, dem geht es gut in dieser Zivilisation. Aber der dafür in Gestalt emotionaler Selbstverstümmelung zu zahlende individuelle Preis ist ungeheuer hoch.

Ein vorzügliches Lebensarrangement hat sich auch der Ingenieur Willenbrock in dem gleichnamigen Nachwenderoman zurechtgelegt. In der Gegenwart hat er es geschafft, die Vergangenheit geht ihn nichts mehr an. Und doch gibt es etwas, was den ausgeglichenen Techniker Willenbrock aus dem Gleichgewicht bringt (die Diebstähle auf seinem Autohof, die Einbrüche in sein Haus). Nicht die Angriffe auf sein Eigentum erschüttern ihn. Was ihm aus den Fugen gerät, ist das Vertrauen in eine Grundübereinkunft, die zu den historischen Errungenschaften der Zivilisation gehört: dass der einzelne, der ein Unrecht erlitten hat, die Garantie erhält, dass der Staat den Rechtsbruch ahndet, dadurch die Interessen der Geschädigten vertritt und die verletzte Ordnung wiederherstellt. In der Modellierung seiner Figur Willenbrock macht Hein einen gesellschaftlich schwer greifbaren Prozess sichtbar, der über viele Zwischenschritte zur Aufkündigung dieser zivilisatorischen Grundübereinkunft führt. Nichts hat Willenbrock prädestiniert, eines Tages zum Anhänger gewalttätiger Vergeltung zuwerden. Er legt sich eine fabrikneue Smith & Wesson (300 DM) zu, und die entwickelt ein merkwürdiges Eigenleben, je länger er sie herumträgt. Hein zeichnet das Bild eines Erosionsprozesses, der die zivilisatorische Errungenschaft Rechtsordnung im Zeichen allseits geschürter Kriminalitätshysterie zu erfassen beginnt. Es geht nicht immer um Deutschland mit seinen Ost-West-Verwerfungen, es geht um Verwerfungen innerhalb der gesamten westlichen Zivilisation. Ein innerer Umbau geschieht in der Figur Willenbrock, den er eher über sich ergehen lässt, als dass er ihn bewusst in die Wege leitet. Am Ende macht es ihm Spaß, „eine richtige Waffe zu besitzen“

Eine Erfolgsgeschichte: der Autohändler Willenbrock hat es geschafft, er ist ganz in der westlichen Gesellschaft angekommen. Seine Smith & Wesson schützt ihn besser als die Verfassung des Rechtsstaates. Die „einzigartige“ Erfahrung des Umbruchs, des Entschwindens einer Welt und des Neu-Einrichtens ist in ihrer Alltäglichkeit bisher kaum beschrieben worden. Diesem Vorgang nimmt Hein das Aufregende, Einzigartige, Unerhörte, beschreibt ihn als etwas durchaus Normales und reißt doch die Hintergründe auf, die psychische Beunruhigung, die fehlenden Sicherheiten, die Willenbrock zur Selbsthilfe greifen, ihn zum Täter werden lassen.

Ob mit Literatur Realität verändert oder lediglich reflektiert werden kann – der Streit scheint vorerst zugunsten derer entschieden, die eher skeptisch sind und der Wirkkraft von Literatur nur sehr kurzzeitige Impulse zubilligen. Steter Tropfen, heißt es, höhlt den Stein. Und wie philosophiert Shakespeares Narr in „Was ihr wollt?“ Denn der Regen, sagt er, der regnet jeglichen Tag. Und er fällt von oben nach unten, wusste Brecht.

 


Anmerkungen:

1 Hein, Christoph: Öffentlich arbeiten. Berlin, Weimar 1987. S. 70
2 Christoph Hein im Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau, in: Christoph Hein. text + kritik, H. 111. München 1991. S. 89
3 Hein, Christoph: Als Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin, Weimar 1990. S. 155
4 Hammer, Klaus (Hg.): Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992. S. 29
5 Jachimczak, Krystof: Gespräch mit Christoph Hein, in: Sinn und Form, Jg. 40. Berlin 1988, S. 347
6 Vgl.Anm. 2
7 Hein, Christoph: Horns Ende. Roman. Berlin, Weimar 1985. S. 280
8 Ebenda, S. 133
9 Hein, Christoph: Der Tangospieler. Erzählung. Berlin, Weimar 1989. S. 204
10 Ebenda, S. 59
11 Ebenda, S. 133
12 Ebenda, S. 95
13 Hein, Christoph: Das Napoleonspiel. Ein Roman. Berlin, Weimar 1993. S. 134
14 Ebenda, S. 143
15 Ebenda, S. 159
16 Hein, Christoph: Der fremde Freund. Novelle. Berlin, Weimar 1982. S. 212

4.2. Sektionstitel

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Klaus Hammer: Rollenspiele. Gesellschaftliche und ästhetische Strategien im Werk von Christoph Hein - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/4-2/4-2_hammer17.htm

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