TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 6.4. Internationale Fachkommunikation in Wirtschaft und Recht
Sektionsleiter | Section Chair: Bernd Spillner (Duisburg)

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Interlinguale Kontraste zwischen direktiven Rechtstexten

Bernd Spillner (Duisburg) [BIO]

Email: bernd.spillner@uni-due.de

 

1.  Internationale Rechtssysteme

In den verschiedenen Ländern/Sprachen/Kulturen haben sich durch Rhetorik, Politik und Verwaltungstradition unterschiedliche Rechtssysteme, Rechtskonventionen und juristische Traditionen herausgebildet. Diese Divergenzen finden ihren Niederschlag in den entsprechenden Verwaltungsakten und juristischen Fachtextsorten.

An Hand von direktiven Textsorten (Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen etc.) lassen sich solche Unterschiede an fachsprachlichen Corpora ermittelt. Sie können auf Rechtsprinzipien, verwaltungsrechtliche Vorschriften und juristische Konventionen zurück geführt.

Eine kontrastive Untersuchung solcher interkulturellen fachsprachlichen ist u. a. dann von hoher Wichtigkeit, wenn – wie zum Beispiel in Europa – juristische Texte zu einheitlichem Recht zusammen geführt werden.

 

2.   Sprach- und Rechtsvergleich

Die Kontrastive Linguistik hat mit Bezug auf den Fremdsprachenunterricht eine lange Tradition seit dem 18. Jahrhundert.

Aber erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde mit der wegweisenden Arbeit von Lado (1957) der Grundstein für eine systematische bilaterale Kontrastive Linguistik gelegt. Obwohl hier bereits ein Vergleich auch von kulturellen Elementen konzipiert wurde, blieben die anschließend durchgeführten kontrastiven Analysen weit hinter diesem Anspruch zurück. Vielmehr wurden auf der Grundlage des amerikanischen taxonomischen Strukturalismus formale phonetische und grammatische Elemente zweier Sprachen gegenüber gestellt. Die Arbeiten von Kufner (1962), Moulton (1962), Stockwell/Bowen (1965 und 1965a) und Agard/Di Pietro (1965 und 1965a) sind dafür eindrucksvolle Belege. Lautliche und grammatische Strukturen des Englischen werden mit jenen einer anderen Sprache verglichen. Dabei handelt es sich jeweils um isolierte sprachliche Elemente, wobei über deren Vergleichbarkeit nicht reflektiert wird. Erst später wurde es durch die Konzeption einer 'Kontrastiven Semantik' (Spillner 1971) bzw. einer 'Kontrastiven Pragmatik' (Spillner 1978, 1988) ansatzweise möglich, sprachinhaltliche und konzeptuelle Komponenten zweier Sprachen in einer anwendungsorientierten Kontrastiven Linguistik miteinander zu vergleichen.

Und nachdem eine kommunikativ fundierte Textlinguistik entwickelt worden war, ergaben sich die Möglichkeiten, Textsorten interlingual zu vergleichen und interkulturelle Kontraste zu analysieren.

Es entwickelte sich eine auf strenger Vergleichsmethodik basierende 'Kontrastive Textologie' (vgl. Spillner 1981, Hartmann 1982, Spillner 1983, 1997, 1999).

Als methodische Objektbereiche entwickelten sich insbesondere die vergleichende Phraseologie, die Textsortenkontrastierung und die Paralleltextanalyse.

 

3.   Fachsprachenforschung

Die linguistische Beschäftigung mit Fachsprachen hat eine deutlich kürzere Tradition. Zwar gibt es bereits in der Antike Versuche, Elemente der Fachkommunikation zu systematisieren. Und nach dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften gibt es seit dem 18. Jahrhundert eindrucksvolle Leistungen der fachlichen Dokumentation in den Nomenklaturen der Biologie, später der Medizin und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der technischen Fächer. Aber erstens beschränkt sich diese deskriptive Tätigkeit auf die Terminologie und zweitens geschieht sie fast ausschließlich durch Vertreter der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen – in der Regel ohne sprach- oder kommunikationswissenschaftliche Reflexion.

Erst in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts geschieht mit den Konzepten einer 'Wirtschaftslinguistik' (z. B. Messing 1928, Vančura 1932, 1934, 1936) bzw. einer 'Wirtschaftsgermanistik' (Siebenschein 1936) ein nennenswerter linguistischer Beitrag, der freilich über Jahrzehnte ohne nachhaltige Folgen bleibt.

 

4.  Juristischer Fachdiskurs

Die juristische Fachkommunikation bietet sich wegen traditionell kultureller Unterschiede, verschiedenartiger nationaler Rechtssysteme und unterschiedlicher Traditionen der juristischen Konventionen und der jeweiligen forensischen Rhetorik besonders für einen kontrastiven und interkulturellen Textvergleich an. Hinzu kommt die interessante Entwicklung, dass sich im Recht der Europäischen Gemeinschaft durch die Verbindung unterschiedlicher Rechtssysteme und –traditionen neue Rechtskonventionen herausbilden und auch sprachlich manifestieren.

Dennoch hat sich das sprach- und kommunikationswissenschaftliche Interesse zunächst zögernd dem juristischen Fachdiskurs zugewandt.

4.1  Einzelsprachliche Untersuchungen

Im einzelsprachigen Bereich fallen neben Bibliographien zur Rechtssprache (Reitemeyer 1985, Nussbaumer 1997) zunächst Wörterbücher und Abhandlungen zur juristischen Terminologie auf (u. a. Favreau-Renault/Vettraino 1981, Laroche 1985, Cornu 1987, Avenarius 1991). Außerdem erscheinen überblicksartige Abhandlungen zur Rechtssprache (z. B. Cornu 1990), zur Typologie juristischer Texte (z. B. Engberg 1993) und allgemein zur  Differenzierung juristischer Textsorten (vgl. u. a. Frilling 1995, Busse 2000, Giannini 2000, de Pace 2000). Seltener sind fachsprachenorientierte Analysen zu sprachlichen Einzelphänomenen, z. B. zum Verb in der Fachsprache des Rechts (Selle 1987). Dagegen sein seit über 20 Jahren bereits einzelsprachige juristische Textsorten untersucht worden, zum Beispiel Gerichtsurteile (Altehenger 1983, Krefeld 1985, Würstle 1988), Gesetze (Busse 1998, Ludger Hoffmann 1998) und Erlasse (Selle 1998).

Erst später rücken kommunikativ fundierte Untersuchungen zu Schiedsverfahren in den Blickpunkt (vgl. u. a. Frommel/Rider 1999, Bhatia/Candlin/Gotti 2003, Heller 2003).

4.2  Übersetzung von Rechtstexten

Einzelsprachenübergreifend konzipiert sind Arbeiten der Übersetzungswissenschaft zur juristischen Fachsprache, die sich sowohl im Hinblick auf die Translationstheorie als auch veranlasst von der Übersetzungspraxis mit juristischen Texten befassen. Hier können exemplarisch zur Übersetzungstheorie Stolze 1992, Sandrini 1999, Kjær 1999, zur mehrsprachigen Terminologie Arntz 1992, zur Übersetzung von Immobilienkaufverträgen Stengel-Hauptvogel 1997, zur Übersetzung von Gesetzbüchern in mehrsprachigen Staaten Soffritti 1999, zur Übersetzung von Gerichtsurteilen Engberg 1999, zur Übersetzung von Vertragstexten Vlachopoulos 1999 und zur Übersetzung von Klageschriften Wiesmann 1999 genannt werden.

Bemerkenswert ist, dass sich das übersetzungswissenschaftliche Interesse naturgemäß auf Terminologie, Phraseologie und Textkonventionen der juristischen Fachsprache richtet.

4.3  Kontrastive Textologie

In der textbezogenen kontrastiven Fachtextologie sind Arbeiten zu mehreren Fachdisziplinen vorgelegt worden, z. B. in der Medizin (Régent 1980, Spillner 1992), in der Meteorologie (Spillner 1983), in der Sportwissenschaft (Trumpp 1998) und in der Technik (Spillner 1995).

Im juristischen Bereich sind explizit kontrastive Analysen außer methodologischen Überlegungen (siehe u. a. Cabasino 1987, Arntz 1999, Spillner 2005) nur zu wenigen Textsorten vorgelegt worden. Zu erwähnen sind u. a. kürzere deutsch-französische Analysen zu Erlassen (Spillner 1981), ein deutsch-französischer Vergleich zur Gesetzessprache (Wüest 1993) und zwei umfangreiche kontrastive Untersuchungen zu dänisch-deutschen bzw. italienisch-deutschen Gerichtsurteilen (Engberg 1997, Peotta 1998). Bei diesen kontrastiven Arbeiten werden neben sprachlichen Kontrasten auch Unterschiede in Rechtskonventionen und interkulturelle Divergenzen herausgearbeitet.

 

5.   Kontraste in Rechtsverordnungen  –  deutsch - französisch

'Rechtsverordnungen' sind 'Normtexte' (Busse 1999, 659), normative, direktive Textsorten, durch die in schriftlicher Form für die Allgemeinheit verbindliche rechtliche oder verwaltungsbezogene Regelungen ('Anordnungen', 'Regeln') getroffen werden. In Staaten mit Gewaltenteilung wird deutlich zwischen 'Gesetz' und 'Rechtsverordnung' unterschieden.

'Gesetze' regeln grundlegende ethische, soziale, wirtschaftliche Gegebenheiten und werden von der Legislative aufgrund von Gesetzesanträgen diskutiert und mehrheitlich beschlossen. 'Rechtsverordnungen' werden von gesetzlich dazu legitimierten Institutionen der Exekutive erlassen und – wie die 'Gesetze' in schriftlicher Form veröffentlicht und in Kraft gesetzt.

So wird in Italien im Bereich der Legislative die Textsorte 'legge' unterschieden von den Textsorten 'decreto legge' 'decreto legislativo/legge delegata' und 'regolamento' im Bereich der Exekutive (cf. Giannini 2000, 56-60). Das deutsche Recht unterscheidet zwischen 'Gesetz' und 'Rechtsverordnung/Verordnung', wobei die Rechtsverordnung juristisch am ehesten dem italienischen 'regolamento' entspricht. In Frankreich unterscheidet man zwischen 'loi' auf der einen Seite und 'décret', 'arrêté' und 'ordonnance' auf der anderen Seite. Schon diese knappe Gegenüberstellung weist darauf hin, dass rechtsvergleichend keine exakten Äquivalenzen bestehen und daher kontrastive Analysen kompliziert sind.

5.1   Terminologische Abgrenzungen

Im Gegensatz zur Textsorte 'Gesetz', wo im kontinentaleuropäischen Kulturbereich durch ähnliche Rechtstraditionen viele (wenngleich keineswegs vollständige) Übereinstimmungen bestehen, zeigen sich bei den Rechtsverordnungen aufgrund gewachsener Traditionen des Verwaltungsrechtes und der Verwaltungspraxis interessante sprachliche und kulturelle Unterschiede. Sie sind  daher attraktiv für kontrastive Analysen.

Die genannten Textsorten werden in rein fachsprachlichen Analysen mitunter approximativ gleichgesetzt (z. B. 'Erlass', 'Verordnung' und 'Dekret' bei Selle 1999, 529), obwohl sie juristisch deutlich unterschieden sind. Auch bei Busse (1999, 670) wird die juristische Unterscheidung zwischen den Textsorten Verordnung: 'Rechtsverordnung, Verwaltungsverordnung' und 'Erlass, Verwaltungsvorschrift' nicht ganz klar. Ihr Verhältnis muss also zunächst terminologisch geklärt werden.

Im Französischen existieren drei Textsorten und Termini für direktive Rechtsverordnungen: 'décret', 'arrêté' und 'ordonnance'. Auch juristische Handbücher und Wörterbücher führen oft keine distinktiven Merkmale an. De Pace (2000, 31) führt lediglich gemeinsame typographische Charakteristika an:

"Lois, décrets et ordonnance sont désignés tout d'abord par l'indication de l'année (en abrégé) et du numéro progressif de l'acte, suivie par la désignation de l'objet et de la date."

Auch Laroche (1985, 30 und 100) kann keinerlei Unterschied angeben. Dagegen werden bei Cornu immerhin 'décret' und 'arrête' klar nach den normgebenden Institutionen differenziert:

"Décret
Terme générique désignant une catégorie d'*actes administratifs unilatéraux pris par les deux plus hautes autorités exécutives de l'Etat: le Président de la République et le Premier ministre. Quant à leur contenu, le décrets se répartissent en réglementaires lorsque leurs dispositions sont générales et impersonnelles, et non réglementaires lorsqu'ils concernent une ou plusieurs situations juridiques individuelles. Quant à leur procédure d'édiction, on distingue les décrets en Conseil des ministres, des décrets en Conseil d'Etat et les décrets simples." (Cornu 1987, 237)

"Arrêté
Dénomination générique des actes généraux, collectifs ou individuels, pris par les ministres (arrêté ministériel ou interministériel), les préfets (arrêté préfectoral), les maires (arrêté municipal) et différentes autorités administratives (ex. les *recteurs: arrêté rectoral); décision d'une autorité exécutive non suprême, comportant en la forme des visas, quelquefois des considérants et un dispositif rédigé en articles."
(Cornu 1987, 66)

Ein 'décret' wird also entweder vom Staatspräsidenten oder vom Premierminister erlassen (wobei Ministerrat oder Staatsrat beteiligt werden können), ein arrêté von einer nachgeordneten Verfassungsinstitution (Minister, Präfekt, Bürgermeister etc.).

Beiden Textsorten gemeinsam ist, dass die verordnenden Institutionen zwar parlamentarisch legitimiert sind, aber ohne Beteiligung der Legislative handeln. Beiden Rechtsakten ist gemeinsam, dass sie verwaltungsgerichtlich überprüft werden können (vgl. Favreau-Renault/Vettraino 1981, 54).

Der französische Terminus 'ordonnance' ist sehr viel komplizierter.

Zunächst ist anzumerken, dass er im 'Ancien Régime' – also vor Einführung der Gewaltenteilung – jede Anordnung des Königs/Kaisers bezeichnen konnte, sozusagen ohne die heutige Unterscheidung von Gesetz und Verordnung.

Auch wenn man diesen historischen Sprachgebrauch beiseite lässt, ergeben sich weitere unterschiedliche Verwendungen des Terminus 'ordonnance' im heutigen französischen  Verwaltungsrecht.

Vereinfacht zusammengefasst:

'Ordonnance' ist also ein sehr mehrdeutiger Terminus, der im Sprachgebrauch der Verwaltung üblicherweise näher bestimmt wird.

Wenn man von den rechtlich handelnden Institutionen absieht, ist die Struktur der drei Textsorten sehr ähnlich. Allerdings ändert sich natürlich das Verb zum Ausdruck des jeweiligen Rechtsaktes:

Décret:
    Le Président de la République …..
    d écrète: …..

Arrêté:
    Le Préfet de la Lozère …..
    arrête: …..

Ordonnance:
    Le Président de la 2ème Chambre du Tribunal de Grande Instance de Paris …..
    ordonne: …..

Außerdem gibt es geringe prozedurale Unterschiede. Trotzdem lässt sich feststellen, dass die drei Textsorten vom Aufbau her mehr Gemeinsamkeiten untereinander haben als gegenüber anderen direktiven juristischen Textsorten wie 'loi', 'règlement' oder 'circulaire'.

Nach deutschem Recht gelten im Prinzip für die 'Rechtsverordnung' die gleichen Vorgaben im Hinblick auf Legislative und Exekutive wie in Frankreich:

"Rechtsverordnung ist eine hoheitliche Anordnung für eine unbestimmte Vielzahl von Personen zur Regelung einer unbestimmten Vielzahl von Fällen, die nicht im förmlichen →Gesetzgebungsverfahren ergeht, sondern von den dazu ermächtigten Organen der vollziehenden Gewalt (insbes. Regierung, Minister) erlassen wird. Die R. ist demnach als →Rechtsnorm zwar Gesetz im materiellen, nicht aber im formellen Sinn (→Gesetz); sie ist von den →Verwaltungsvorschriften, die nur verwaltungsintern wirken, zu unterscheiden. Nach Art. 80 I GG können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden, R. zu erlassen. Dabei sind Inhalt, Zweck u. Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz zu bestimmen. Demnach muß schon aus der Ermächtigung für den Bürger erkennbar u. vorhersehbar sein, was von ihm gefordert werden kann. Der Gesetzgeber muss also die wesentlichen Vorschriften selbst treffen; er darf der vollziehenden Gewalt keine Globalermächtigung erteilen, sondern ihr nur die ausführenden, konkretisierenden Regelungen überlassen." (Avenarius 1991, 399)

Eine der französischen Unterscheidung 'décret' und 'arrêté' entsprechende Differenzierung der Textsorte 'Rechtsverordnung'  gibt es in Deutschland nicht. Dagegen  ist allen drei Termini und den drei Textsorten gemeinsam, dass sich die präskriptive Rechtsnorm an die Allgemeinheit wendet. Mit diesem Kriterium lässt sich die deutsche Textsorte 'Erlass' abgrenzen:

"Erlaß. Im Verwaltungsrecht ist E. eine Regelung, durch die eine übergeordnete Behörde einer oder mehreren nachgeordneten Behörden allgemeine Anweisungen für den internen Dienstbetrieb erteilt. E. sind Verwaltungsvorschriften." (Avenarius 1991, 144)

 Die deutsche Textsorte 'Erlass' entspricht also der französischen Textsorte 'Ordonnance' im Sinne einer verwaltungsinternen Anordnung (Verwaltungsvorschrift).

5.2  Vergleichbarkeit: 'tertium comparationis'

Die wichtigste methodische Voraussetzung für einen wissenschaftlichen Vergleich ist die Aufstellung eines von beiden Vergleichsgegenständen unabhängigen, metasprachlich formulierten 'tertium comparationis'. Bei kommunikativ orientierten sprachwissenschaftlichen Vergleichen und besonders in der Kontrastiven Textologie kann das 'tertium comparationis' nur eine semantisch-kommunikative Handlung sein, wobei nach der jeweiligen Realisierung in L1 und L2 bzw. Kultur 1 und Kultur 2 gefragt wird. Im Fall der juristischen Kommunikation sollten zudem die normativ Handelnden, die Rechtshandlung und die Adressaten möglichst übereinstimmen. Eine heuristische Frage zur Ermittlung des 'tertium comparationis' könnte etwa lauten:

In welcher Textsorte und mit welchen sprachlichen Mitteln formulieren und erlassen parlamentarisch legitimierte Institutionen der Exekutive in Frankreich und in Deutschland normative Anweisung für die gesamte Öffentlichkeit?

Aufgrund der terminologischen und juristischen Differenzierungen ergibt sich, dass eine hundertprozentige Vergleichbarkeit von Fachtextsorten und Rechtsinstitutionen nicht gegeben ist. Im deutschen Recht ist der Umfang der zu einer Rechtsverordnung befugten Institution begrenzter als in Frankreich. Aber die Fragestellung erlaubt es doch, die französische Textsorte 'arrêté' (ggf. unter Berücksichtigung von Varianten der Textsorte 'décret') mit der deutschen Textsorte 'Verordnung' zu vergleichen.

5.3  Textbeispiele 'Arrêté' und 'Verordnung'

Kontrastive Textvergleiche müssen sich wegen des Umfangs der Vergleichsobjekte bei ihrer Präsentation immer auf sehr wenige Beispiele beschränken. Außerdem gibt es in der Kontrastiven Textologie naturgemäß mehr Varianten als bei phonetischen oder grammatischen Vergleichen, und diese Varianten sind nicht immer an wenigen Beispielen belegbar.

Die zu belegenden Textsorten sind durch Veröffentlichung (Journal Officiel, Bundesgesetzblatt, Amtliche Mitteilungen in Tageszeitungen und in Internet-Archiven von Ministerien) zugänglich. Sie sind zum Teil sehr umfangreich und werden hier nur als Strukturübersicht wiedergegeben:

Textbeispiel französisch 1:

PRÉFECTURE DU VAL D’OISE

 

ARRETE PREFECTORAL Nº 06 – 0113
RELATIF A L’INFORMATION DES ACQEREURS ET DES LOCATAIRES
DE BIENS IMMOBILIERS
SUR LES RISQUES NATURELS ET TECHNOLOGIQUES MAJEURES
DANS LA COMMUNE DE
VETHEUIL

LE PREFET
Officier de la Légion d’Honneur,
Officier de l’Ordre National du Mérite,

Vu le code général des collectivités territoriales ;

Vu le code de l’environnement, notamment les articles L 125-5 et R 125-23 à R 125-27 ;
Vu le décret nº 91-461 du n14 mai 1991 modifié relatif à la prévention du risque sismique ;

Vu l’arrêt préfectoral nº 06-0001 du 5 janvier 2006 relatif à la liste des communes où s’applique l’article L 125-5 du code de l’environnement

Sur proposition de Monsieur le sous-préfet, directeur du cabinet ;

                                       ARRETE

Article 1
Ola commune de Vétheuil est exposée aux risques naturels d’inondation et de mouvement de terrain (carrières souterraines).

                                          […]

Fait à Cergy, le 5 janvier 2006

Pour le Préfet,
Le Sous-Préfet, Directeur de Cabinet

Gérard GAVORY

 

Textbeispiel französisch 2:

PRÉFECTURE DES ALPES-MARITIMES
SERVICE DE LA COORDINATION ET DE L'ACTION ÉCONOMIQUE
                                                         Tél. 55.91 00 – 06037 NICE CEDEX
                                               SECTION : D
SECTION DE L'ENVIRONNEMENT
DES SITES ET DU TOURISME

DTG/CC – Dossier no 9 181 273/77

Le préfet des Alpes-Maritimes, officier de Légion d'honneur, officier de l'ordre national du Mérite,
- Vu la loi du 19 juillet 1976 relative aux installations classées pour la protection de l'environnement;
- Vu le décret du 1er avril 1964;
(…)
Vu l'arrêté en date du 12 septembre 1976 ordonnant l'ouverture de l'enquête de commodo et incommodo ensemble le certificat de publication et d'affichage dans la commune de Contes;

(…)
- Vu l'avis de classement de M. le directeur départemental du Travail et de l'Emploi, inspecteur des établissements classés;
- Vu les avis de MM. le directeur départemental de l'Equipement, le directeur départemental de l'Action sanitaire et sociale, l'inspecteur du Travail;
- Vu l'avis de M. le Maire de Contes;
- Vu l'arrêté du commissaire-enquêteur;
- Vu l'arrêté de sursis à statuer en date du 7 mars 1977;
- Vu l'avis émis par le conseil départemental d'hygiène en sa séance du 31. janvier 1977;
- Considérant:
            - que tous les avis recueillis sont favorables,
            - que le Conseil départemental d'hygiène s'est prononcé favorablement;
- Sur la proposition de M. le secrétaire général de la préfecture;

ARRETE:
ARTICLE PREMIER – (…)
 (Nice Matin 7/4/77,16)

 

Textbeispiel deutsch 1:

Dritte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle
von Kriegswaffen

vom 11. Juli 1969

Auf Grund des § 23 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 20. April 1961 (Bundesgesetzbl. I S. 444), geändert durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. Mai 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 503), in Verbindung mit § 36 Abs. 3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten vom 24. Mai 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 481) wird verordnet:

                  § 1

  • Die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen wird dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) übertragen.
  • Die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Finanzen zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen wird den örtlich zuständigen Hauptzollämtern übertragen.

                  § 2

Diese Verordnung tritt am Tage nach ihrer Verkündung in Kraft.

Der Bundesminister für Wirtschaft
Der Bundesminister für Finanzen

(Bundesgesetzblatt I, 1969, 841)

 

Textbeispiel deutsch 2:

Verordnung über die gymnasiale Oberstufe

(VO-GO)
Vom 18. April 2007 (GVBl. S. 156),

geändert durch Artikel III der Verordnung vom 11. Dezember 2007 (GVBl. S. 677)

Auf Grund des § 28 Abs. 8 in Verbindung mit § 14 Abs. 5, § 15 Abs. 4, § 58 Abs. 8, § 59 Abs. 8, § 60 Abs. 4 und § 129 Abs. 5 Satz 2 des Schulgesetzes vom 26. Januar 2004 (GVBl. S. 26), zuletzt geändert durch Artikel V des Gesetzes vom 11. Juli 2006 (GVBl. S. 812) wird verordnet:

[…]

§ 1 Geltungsbereich:

(1) Diese Verordnung regelt das Nähere zur Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe der Gymnasien, Gesamtschulen und beruflichen Gymnasien.

(2) Für die gymnasiale Oberstufe von Schulen besonderer Prägung gelten die folgenden Bestimmungen, soweit nicht in einer gesonderten Rechtsverordnung abweichende Regelungen getroffen werden.

[…]

                           (www.berlin.de/impera/md/content/sen-bildung/rechtsvorschriften/)

5.3.1. Syntaktische Kontraste

Die Textanfänge in beiden Sprachen verwenden sehr komplexe Satzstrukturen mit Rahmenkonstruktionen, beruhen aber beide auf einem einfachen syntaktischen Grundmuster:

Frz.
Dt.
Le préfet arrête:… Aufgrund von….
wird verordnet:

Die französischen Textsorten formulieren den Eingangssatz grammatisch aktiv, die deutschen Textsorten traditionell grammatisch im Passiv. Die französische Syntax wird durch juristische Vorgaben determiniert.

Wichtig ist, dass nach französischem Verwaltungsrecht in jedem „acte administratif de droit public“ der amtlich Handelnde als Person genannt werden muss:

„L’autorité chargée de prendre une décision doit agir personnellement. On exprime la même idée en disant que la compétence est personnelle » (Auby 31972, 10).

Damit der Erlass Rechtskraft erlangt, muss also obligatorisch die Person – in den zitierten Beispieltexten 'Le préfet des Alpes-Maritimes' bzw. 'Le Préfet du Val d’Oise’ - genannt werden. Die Syntax ist also partiell durch eine juristische Vorgabe bestimmt.

In den im Passiv formulierten deutschen Fassungen wird die handelnde Institution erst am Textschluss in der Unterschrift genannt. Es ist allerdings anzumerken, dass in deutschen Rechtsverordnungen auch aktiv formuliert werden kann, wobei dann natürlich die verordnende Institution als Subjekt genannt wird, z. B. :

Verordnung über die Erstattung von Aufwendungen nach dem Gesetz zur Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets durch den Bund.

Auf Grund des § 16 Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBL. I S. 1606, 1677) verordnet der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen:
(…)
 (Bundesgesetzblatt I, 1992, 999)

Auffällig sind die unterschiedlichen Satzrahmen in den beiden Sprachen. Im Französischen besteht eine extrem ausgedehnte Rahmenkonstruktion durch die Einschübe zwischen Subjekt und Prädikat.

Im Gegensatz zu landläufigen Annahmen über die deutsche Syntax besteht in den im Passiv formulierten deutschen Texteingängen keine oder nur eine kurze Satzklammer zwischen finitem Verb und Partizip Perfekt. Einschübe geschehen vielmehr zwischen 'Aufgrund' und finitem Verb.

Ein weiterer wichtiger interlingualer Unterschied kommt dadurch zu Stande, dass in den französischen Texten gleichrangige Informationen (z. B. die berücksichtigten Dokumente) durch Parallelkonstruktionen mit Anapher syntaktisch gelistet werden (oft durch Spiegelstriche oder mittig gesetzte Punkte typographisch hervorgehoben). Diese Art der syntaktisch klaren Gliederung ist charakteristisch nicht nur für die französische Rechtssprache sondern für viele schriftliche Fachtexte im Französischen. In den syntaktischen Klammern geben die deutschen Texte die gesetzlichen Grundlagen mit genauer Stellenbezeichnung, auf die Bezug genommen wird, und den Ort der Veröffentlichung an, enthalten aber keinen Hinweis auf den Inhalt der zitierten Vorschriften. In französischen Texten wird die gesetzliche Grundlage in der Regel nur global mit Angabe des Datums genannt, dafür aber häufig in Kurzfassung ihr Inhalt wiedergegeben. In den französischen Satzklammern geschieht eine parallele Auflistung aller Dokumente, die zum Rechtsentscheid herangezogen wurden; sprachlich jeweils eingeleitet mit 'vu'.

Die angeführten Texte sind also in den beiden Sprachen/Kulturen keineswegs identisch. In Deutschland werden die zugrunde liegenden bzw. von der Verordnung betroffenen Gesetze angeführt, in Frankreich alle beim 'Arrêté' berücksichtigten schriftlichen Texte (also auch Anträge, Stellungnahmen, Gutachten etc.). Zusätzliche Textelemente können in Frankreich beim 'Décret' erscheinen. Während das 'Décret simple' in der Form dem 'Arrêté' entspricht, kann beim 'Décret en Conseil des ministres' und beim 'Décret en Conseil d'Etat' auf die mündlichen Texte (Beratungen) in den Gremien Bezug genommen werden, z. B.:

" (…)
Vu la loi no 2004-1343 du 9 décembre 2004 de simplification du droit, notamment son article 31;
Le Conseil d'Etat entendu;
Le Conseil des ministres entendu,
                             (…)."

(Journal Officiel 151 du 30 juin 2005)

Syntaktisch fällt auf, dass die sprachliche Realisierung der Anhörung immer nachsteht ('…entendu'), diejenige der Kenntnisnahme eines schriftlichen Dokuments immer voran ('Vu…').

5.3.2. Unterschiede im Textaufbau

Die syntaktischen Unterschiede ergeben sich teilweise durch den Textaufbau.

Nach einer komplexen Überschrift (Thema der Verordnung), einer syntaktisch sehr komplizierten Eingangsformel und der Verbalisierung des Rechtsaktes ('….wird verordnet:' oder '….verordnet:) folgen in Deutschland die Paragraphen der Verordnung. Im französischen 'Arrêté' werden mehr Informationen mitgeteilt als in der deutschen 'Verordnung'. Hierfür gibt es zwar keine juristisch verbindliche Textstruktur, wohl aber eine durch lange Verwaltungstradition etablierte Textkonvention aus vier Teiltexten:

„Les visas, c’est-à-dire la référence aux textes applicables et aux pièces du dossier.
Les motifs, c’est-à-dire les raisons de fait ou de droit qui justifient la décision.
Le dispositif, divisé en articles.
La date et la signature" (Auby 31972, 16).

Für die „visas“ besteht die Sprachkonvention der syntaktischen Einleitung und textstrukturierenden Parallelanordnung durch Vu; die „motifs“ werden sprachlich durch Considérant que … oder Attendu als solche markiert.

Mit den 'motifs' erweist sich die französische Textsorte – im Kontrast zum deutschen Äquivalent – als argumentativ und den Rechtsakt rechtfertigend: es können die Beweggründe für die Entscheidung dargelegt werden.

So zum Beispiel im Textbeispiel französisch  2:

"- Considerant:
            - que tous les avis recueillis sont favorables,
            - que le Conseil départemental d’hygiène s’est prononcé favorablement ;…. "

Schließlich wird im französischen ‘Arrêté’ häufig mitgeteilt, wer den Antrag für die Entscheidung gestellt hat ('sur la proposition de…’).

Die Teiltexte des 'Arrêté’ sind durch Parallelanordnung und Verwendung typographischer Mittel (z. B. Gliederungsstriche und unterschiedliche Drucktypen) klarer und übersichtlicher angeordnet als diejenigen einer 'Rechtsverordnung’.

5.3.3. Stilistische und interkulturelle Kontraste

In den Anmerkungen zu Syntax und Textaufbau sind bereits stilistische Kontraste deutlich geworden: syntaktische Komplexion, typographische Differenzierung, legalistische Hervorhebung der gesetzlichen Grundlagen, rhetorisch-argumentative Elemente, Klarheit durch syntaktischen, textuellen und typographischen Parallelismus usw. In solchen Merkmalen äußern sich unerschiedliche Rechtstraditionen und administrative Kulturen.

Ein weiterer Kontrast des französischen Textmusters zu den deutschen Realisierungen lässt sich weder durch Rechtsvorschrift noch durch Verwaltungstradition erklären, sondern lediglich interkulturell durch eine gesellschaftliche Konvention in Frankreich: die Nennung der Auszeichnungen des Präfekten (Officier de la Légion d’Honneur, Officier de l’Ordre National du Mérite). Für diese Angaben gibt es keinen sachlichen Grund; sie sind gleichwohl Textmerkmal der französischen Textsorte und entsprechen der französischen Tradition, die Orden und ehrenvollen Titeln zusätzlich zur Berufsbezeichnung einen hohen Stellenwert reserviert. In deutschen 'Verordnungen’ ist die Erwähnung von Orden und Auszeichnungen nicht belegt.

 

6. Sprachliche vs. kulturelle Kontraste

Auch wenn zwei Textsorten in zwei Sprachen – nach einer sorgfältigen Festlegung des 'tertium comparationis' als vergleichbar eingestuft werden, ergeben sich sprachliche, stilistische, textuelle und fachorientierte Kontraste. Dabei ist in jeder Sprache das Verhältnis zu verwandten bzw. konkurrierenden Textsorten zu untersuchen. Auch innerhalb einer Sprache ist zu beachten, dass in unterschiedlichen Ländern/Kulturen Varietäten möglich sind.

Juristische Fachtexte können stark von der jeweiligen Kultur geprägt sein: Rechtssysteme, Fachtraditionen, Verwaltungskonventionen, gesellschaftliche und rhetorische Entwicklungen können eine Rolle spielen. Sie sind bei der Rechtsvergleichung zu berücksichtigen. Bei der Herausbildung eines nationenübergreifenden Rechssystems – wie u.a. im gegenwärtigen Europa - ist unbedingt auf interlingual differente terminologische Besonderheiten und die Interkulturalität von Textsorten zu achten.

 

Literaturverzeichnis


6.4. Internationale Fachkommunikation in Wirtschaft und Recht

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Bernd Spillner: Interlinguale Kontraste zwischen direktiven Rechtstexten - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-4/6-4_spillner17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-31