Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 |
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Sektion 8.3. | Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
Sektionsleiterin | Section Chair: Zalina Mardanova (Vladikavkaz, Nordossetien-Alanien/Russland) |
Flirrende Bergeinsamkeit und flimmernde Computerwelt
Zum Kontrast der erzählten Welten in Christoph Ransmayrs Roman
Der fliegende Berg (2006)
Stefanie Kreuzer (Leibniz Universität Hannover) [BIO]
Email: Stefanie Kreuzer[at]germanistik.uni-hannover.de
Abstract:
Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg (2006) inszeniert die Konfrontation zweier erzählter Welten und relativiert deren Gegensätzlichkeit gleichzeitig narratorisch. So wird auf der Ebene der histoire eine globalisierte, hochtechnisierte und aufgeklärte westeuropäische Denk- und Lebensweise mit der oral geprägten, mythisch-archaischen Kultur und der ebenso unwirtlichen wie reizvollen Hochgebirgswelt des Himalaya kontrastiert. Zugleich wird dieser Kontrast allerdings konterkariert, indem auf der Ebene des discours eine ausgestellte Poetizität durch auffällige stilistische Brüche eine ironische Brechung erfährt.
Entlegene Welten und einsame Untergangsszenarien
Die erzählten Welten der fiktionalen Texte Christoph Ransmayrs zeichnen sich oftmals durch die Entlegenheit und Unwirtlichkeit der Orte sowie die Einsamkeit ihrer Protagonisten aus. Immer wieder sind Endzeitvisionen, Technik-Pessimismus, der aussichtslose Kampf des Menschen gegen eine übermächtige Natur und sogar eine ›Poetik des Verschwindens‹ thematisiert worden.(1) Diese Rezeptionsaspekte sind naheliegend, da mitunter bereits die Titel auf die apokalyptischen Darstellungen der untergehenden oder letzten Welten verweisen.
So handelt Ransmayrs literarisches Debüt Strahlender Untergang (1982; überarb. Neuaufl. 2000) von einem wissenschaftlichen Experiment im Süden Algeriens, bei dem das organische Leben, das vor Milliarden von Jahren unter dem Einfluss der Sonne entstanden ist, nun unter abstrusen künstlichen Laborbedingungen der »Neuen Wissenschaft«(2) in der sengenden Sonne ausgemerzt wird. Ransmayrs erster Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) verlagert den Schauplatz in die Kälte der Gletscherlandschaften Spitzbergens und in die Eiswüsten um das neu entdeckte Franz-Joseph-Land.(3) In Manier eines historischen Romans wird das Schicksal der österreichisch-ungarischen Payer-Weyprecht-Expedition erzählt, die 1872 zum Nordpol aufgebrochen und im Packeis eingeschlossen worden ist. Diesem Handlungsstrang ist die fiktive Geschichte des italienischen Protagonisten Josef Mazzini parallel montiert, der mehr als hundert Jahre später die Spuren der historischen Nordpolexpedition verfolgt, wobei sich seine eigenen Spuren schließlich im Eis verlieren. Auch in Ransmayrs zweitem Roman Die letzte Welt (1988) wird der Protagonist Cotta auf seiner Suche nach Publius Ovidius Naso, dem verbannten Dichter der »Metamorphoses«, in einen abgelegenen Küstenort am Schwarzen Meer geführt, wo Verfallsprozesse allgegenwärtig zu sein scheinen. Dem Suchenden wird erst spät bewusst, dass er den verehrten Dichter in der Welt Tomis bereits gefunden hat. Denn diese ist nach Nasos Verwandlungserzählungen strukturiert, denen zufolge gilt: »Keinem bleibt seine Gestalt.«(4) Der Romantitel Morbus Kitahara (1995) verweist schließlich nicht allein auf die traumatische Augenerkrankung des Schmiedes Behring,(5) sondern imaginiert darüber hinaus das fiktive Schreckensszenario eines entindustrialisierten Agrarlandes, wie es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durch Inkrafttreten des Morgenthau-Planes anstelle des Marshallplans möglich gewesen wäre.
Alle vier zwischen 1982 und 1995 erschienene fiktionale Texte Ransmayrs schildern Verschwinden, Untergang, Scheitern und Verfall. Sie handeln von extremen Lebensbedingungen, menschlichen Grenzerfahrungen, technisch rückständigen sowie mythischen Welten. Die Protagonisten wie der namenlose Proband des Wüstenexperiments, die Entdecker Payer und Weyprecht sowie Mazzini, Cotta und Bering sind – gemessen an den technischen Errungenschaften und Annehmlichkeiten des postindustriellen Zeitalters – in einem ungewöhnlich hohen Maße den Einflüssen der Natur respektive den Bedingungen ihrer künstlich erzeugten Umgebungen ausgesetzt. Es sind erzählte Welten, die zwar stets deutliche Referenzen auf die extrafiktionale Wirklichkeit aufweisen, aber dennoch hermetisch wirken. Obwohl historische Anspielungen auf das Römische Reich oder auf mögliche politische Sanktionen nach dem Zweiten Weltkrieg aufscheinen und obgleich deutlich markierte intertextuelle Anspielungen auf Ovids Metamorphoses (ca. 1 n. Chr.; dt.: Metamorphosen) und authentische Tagebuchaufzeichnungen der Payer-Weyprecht-Expedition hervortreten, lassen sich die fiktionalen Welten der vier Ransmayr’schen Texte zeitlich und räumlich nur unbestimmt verortet.(6) Die präsentierten Geschehnisse sind den konkreten Kontexten weitgehend entrückt und können – vergleichbar mit Erzählungen Franz Kafkas – eher durch ihren parabolischen Charakter näher bestimmt werden. Exemplarisch soll lediglich auf die Analogie zwischen Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1919) und Ransmayrs Strahlender Untergang, in dem die Parabelhaftigkeit des fatalen Experiments sogar thematisiert wird,(7) hingewiesen werden.
Allerdings kann im Hinblick auf keinen der Romane von einer ›unberührten‹ oder archaischen Welt gesprochen werden. Denn die Wüstenhitze in Strahlender Untergang ist experimentell durch Menschen erzeugt. Die historische Nordmeerexpedition wird mit Mazzinis Erkundung des Eises kontrastiert, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist. In Die letzte Welt herrscht eine seltsam anachronistische Atmosphäre, wenn im altertümlich anmutenden Tomi etwa eine Bushaltestelle sowie ein Episkop auftauchen oder Filmvorführungen stattfinden.(8) Schließlich schimmern jenseits des agrarischen Territoriums der bestraften Kriegsverlierer die postindustriellen Standards der Sieger hindurch.
Kontrast der Welten in Der fliegende Berg
In Christoph Ransmayrs neuem, 2006 erschienenem Roman Der fliegende Berg tritt der Kontrast zwischen zwei gegensätzlichen Diegesen offener hervor, als es in seinen früheren Erzählungen der Fall gewesen ist. Auf der einen Seite steht eine hochtechnisierte, über Satellitenbilder minutiös kartographierte und in Echtzeit weltweit über das Internet am Computer zu beobachtende Welt. Aus dieser Welt stammen die Protagonisten: ein ungleiches irisches Brüderpaar. Auf der anderen Seite steht eine ethnisch fremde, klimatisch und geographisch extreme Hochgebirgslandschaft im Himalaya mit einem dem Anschein nach noch unbekannten Berg. Dieser ist das Ziel der beiden irischen Extrembergsteiger, von dem nur der Ich-Erzähler lebend zurückkehren wird.
In der Presseinformation zu Ransmayrs Roman heißt es:
»Der fliegende Berg« ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaya, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen bislang unentdeckten, namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte.(9)
Mit dieser kurzen Zusammenfassung ist die histoire des Romans knapp skizziert. Doch so wie beim Bergsteigen bekanntlich der Weg das eigentliche Ziel darstellt, so ist durch eine Beschreibung der Handlungsebene noch wenig über Ransmayrs Text gesagt.
Abb. 1: Gipfellandschaft im Himalaya
Bereits die ersten Zeilen des Romans lassen sich nämlich nur schwerlich mit diesem Inhalt in Verbindung bringen. Der fliegende Berg beginnt im Sinne einer postmortalen Erzählung eines Erzähler-Ichs, das seine Geschichte mythisch aufgeladen präsentiert:
Ich starb
6840 Meter über dem Meeresspiegel
am vierten Mai im Jahr des Pferdes.Der Ort meines Todes
lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel,
in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte.(10)
Indem ein homodiegetischer Ich-Erzähler dem Anschein nach nullfokalisiert seinen Tod schildert, eröffnet der Text mit einem kalkulierten narratorischen Paradoxon. Es könnte kaum auffälliger gegen die erzähllogische Prämisse verstoßen werden, dass der Erzähler erzählend nicht sterben kann. Die gleichermaßen dokumentarisch anmutende wie vage Überschrift »Auferstehung in Kham. Östliches Tibet, 21. Jahrhundert« (FB 9) zu diesen einleitenden Sätzen legt zudem die Vermutung einer spirituellen Geschichte nahe.
Entgegen dieser anfänglich geschürten Lesererwartung und mit Verweis auf die Erzählgegenwart des 21. Jahrhunderts folgt indes zwei Seiten später die Auflösung des Erzählparadoxes:
In einem schmerzlosen Frieden,
von dem ich heute weiß,
daß er tatsächlich das Ende war, mein Tod
und nicht bloß völlige Erschöpfung,
Höhenwahn, Bewußtlosigkeit,
hörte ich eine Stimme, ein Lachen:
Steh auf!
Es war die Stimme meines Bruders.Wir hatten uns im Wettersturz
der vergangenen Nacht verloren.
Ich war gestorben.
Er hatte mich gefunden.Ich öffnete die Augen. Er kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen. Ich lebte.
Mein Puls tobte in der Steinschlagwunde
an meiner Hand; mein Herz. (FB 11)
Es wird deutlich, dass das Geschehen intern fokalisiert aus der Wahrnehmungsperspektive des homodiegetischen Erzählers geschildert ist. Indem dieser – sowohl in seiner Funktion als erzählendes wie als erlebendes Ich – behauptet, gestorben zu sein, sich aber dennoch bewusst ist, weiter zu leben, tritt die Uneigentlichkeit dieser Aussage hervor. Tod und Sterben werden hier offenkundig nicht im wörtlichen Sinne verwendet und sind nicht allein auf die physiologischen Vorgänge bezogen, über die das Leben eines Organismus für gewöhnlich definiert wird. Sterben wird vielmehr als eine extreme, aber durchaus nicht ungewöhnliche Existenzerfahrung auf der Grenze vom Leben zum Tod verstanden. So erfährt das erlebende Ich von seiner späteren Geliebten, einer Nomadin aus Kham:
Niemand, hörte ich Nyema sagen,
niemand stirbt auf seinem Weg nur ein einziges Mal. (FB 12)
Auf diese Weise wird nicht allein die Erzählsituation näher bestimmt, sondern es wird auch eine Erklärung für den vermeintlichen Tod des erlebenden Ichs gegeben und damit der erste Eindruck der mythischen Anlage des Textes revidiert. Die metaphorische Bedeutung der Sprache tritt deutlich hervor.
Wenn allerdings bereits zwei Seiten später von einem schwarzen, verkohlten Schneefall »aus der Wolkenlosigkeit« die Rede ist, der aus »Fühler[n]!« und »Fadenglieder[n] von Insekten« besteht, die in »einem Panzer aus Rauhreif, / der ihre Facettenaugen, Saugrüssel und Flügelschuppen / übertrieb und vergrößerte« (FB 14), so scheint erneut ein postmortales Höllenszenario aufzuleuchten. Dieses wird aber sogleich als eine natürliche Erscheinung von Schmetterlingen aufgelöst, die, durch die Thermik in die Höhe getragen, erfroren sind und als »filigrane[ ] Kadaver« (FB 14) vom Himmel fallen.
Diese narrative Bildlichkeit, die auf den ersten Seiten des Romans deutlich wird und zwischen wunderbarer Wörtlichkeit und poetischer Metaphorik schwankt, ist typisch für die Gesamtkonzeption des Romans. Bereits der sprechende Name des titelgebenden Gipfels »Phur-Rhi« – übersetzt »Der Fliegende Berg« (FB 11) – bezeichnet mehr als nur das Ziel der Brüder im Cha-Ri-Massiv des Himalaya (vgl. FB 41). Der Name ist metaphorisch verstanden poetisch, impliziert wörtlich genommen aber eine magische, wunderbare Weltsicht. Diese sprachliche Ambivalenz eröffnet – zumindest zeitweilig – immer wieder verschiedene Lesarten. Es wird kalkuliert mit Rezeptionserwartungen gespielt, es wird auf Erzähl- und Glaubenstraditionen aus fernöstlichen Kulturkreisen rekurriert, und mythologische Assoziationen werden geschürt, um diese scheinbar wunderbaren Geschehnisse nachfolgend als allein sprachlich imaginiert wieder zu dekonstruieren und die mythische Aufladung als erzählerisches Experiment zu entdecken.
Im zweiten Kapitel wird die abgelegene, dem Mitteleuropäer kulturell tendenziell fremde und klimatisch mitunter todesbedrohliche Hochgebirgsgegend mit einer technischen Gegenwelt kontrastiert. Es ist eine Welt, die dem westlichen Kulturkreis zuzuordnen ist und damit einem europäischen Leserkreis wohl wesentlich vertrauter sein dürfte als fernöstliche Traditionen und die Unwirtlichkeit des Hochgebirges in Kham. So lebt Liam, der ältere Bruder des Ich-Erzählers, der »Jahre zuvor / aus den Programmierabteilungen / der Computerindustrie« (FB 31) gekommen ist, als Landwirt auf der »nahezu unbewohnte[n] / und in Sturmtagen unerreichbare[n]« (FB 25) irischen Insel »Horse Island« (FB 21, 28, 31) und ist über
[…] zwei schnelle Rechner,
vor deren Bildschirmen er ganze Tage
und manchmal auch die Nächte verbrachte (FB 24)
über das Word Wide Web global vernetzt. Auf den »Flüssigkristallschirmen« lässt er seine Welt – beinahe omnipotent – nach Belieben »erscheinen / und wieder verschwinden« (FB 24), betrachtet
digitalisierte Gletscherpanoramen
aus dem Himalaya und Karakorum
nautische, topgraphische und astronomische Karten,
Wertpapierkonten, Heiratsannoncen,
Briefe aus Neuseeland und Pakistan
und auch die rätselhaften Flugrouten
von Papageientauchern (FB 24).
Er hat sich mit moderner »auf Erdsatelliten und Lastertechnik / gestützten Landvermessung beschäftigt«, schreibt »geodätische Computerprogramme« (FB 40) und verkauft dreidimensionale digitale Simulationen von »Bewegungen der Erdkruste« (FB 41). Doch obwohl er »Gerüchte aus der Vermessungsgeschichte, / Träumereien von vermeintlich unentdeckten / Geheimnissen der Erdkruste« (FB 40) kennt und obwohl er weiß, dass diese sich »immer wieder als Irrtum, Fehlmessung, Scherz / oder bloße Lüge erwiesen« (FB 41) haben, glaubt er aufgrund der Meldung eines im Zweiten Weltkrieg über dem Transhimalaya verschollenen Bomberpiloten »eine Entdeckung gemacht zu haben: // […] ein Berg höher als der Mount Everest!« (FB 39)
Abb. 2: Horse Island vom Meer aus betrachtet
Wenn Liam im Anschluss seinen Bruder dafür gewinnt, mit ihm »nach jenem makellos weißen Fleck« (FB 43) zu suchen, so geschieht dies, ohne dass er – wie er es sonst zu tun pflegt – »widersprüchliche Höhenangaben« (FB 42) abgeklärt hat. Dieses Verhalten muss wegen seines technischen Wissens überraschen. Doch auf der Suche nach »den Fluchtlinien eines Traums«, getrieben von dem Bedürfnis, der Gier »nach dem Unbekannten, Unbetretenen, / von Spuren und Namen noch Unversehrten« (FB 43), ist es nur konsequent, wenn technische »Präzisionsinstrumente« nicht in Anspruch genommen werden. Denn diese taugen nicht dazu, »Projektionen der Phantasie« zu entdecken oder imaginierte Welten, »die vielleicht nirgendwo anders zu finden waren / als in unserem Kopf« (FB 43), wie der Ich-Erzähler zu berichten weiß. Das Unternehmen der Brüder beruht somit auf einer offenkundigen Selbsttäuschung. In Anbetracht der lückenlos kartographierten und scheinbar vollständig erkundeten Erdoberfläche wirkt die Welt enträtselt. Doch wird das Undurchsichtige, Geheimnisvolle gesucht, so kann dieses auch in eine solchermaßen aufgeklärte und erforschte Welt projiziert werden.
Indem es heißt, der fliegende Berg sei die »Spur«, die das Brüderpaar »aus Liams matt leuchtenden virtuellen Welten / in die Wirklichkeit führte« (FB 291), wird schließlich deutlich, dass es stets nur um die Konstruktion von Welt und Wirklichkeitskonzeptionen gehen kann, und die Gegensätzlichkeit der Diegesen wird relativiert. Wenn nämlich – den Erkenntnissen der technisierten Welt zum Trotz – Wunschvorstellungen auf die Hochgebirgswelt des Himalaya übertragen werden, erscheint die fremde, oral geprägte Kultur der Nomaden im Transhimalaya lediglich als eine Projektionsfläche für internalisierte Bedürfnisse. Es sind Bedürfnisse, die eben auch in der scheinbar rational determinierten und wissenschaftlich enträtselten Welt – vielleicht als eine anthropologische Konstante – existieren. Es ist eine emotional aufgeladene, beinahe auratische Gegenwelt zu der von Marc Augé geprägten – und auch von Paul Virilio und Jean Baudrillard genutzten – Vorstellung sogenannter »Nicht-Orte«(11). Augé zählt zu den identitäts-, relations- und geschichtslosen Nicht-Orten sowohl »die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen)« als auch »die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert«(12). Im Gegensatz zu diesen Nicht-Orten zeichnet sich die entlegene Bergwelt des Ransmayrs’schen Romans gerade nicht durch einen austauschbaren transitorischen Charakter, durch Hektik, Menschenmassen und Beliebigkeit aus. Phur-Rhi, das Ziel der Brüder, ist vielmehr ein einzigartiger Ort, mit einer besonderen Geschichte, dessen Erscheinung durch die Jahreszeiten stark variiert und dessen Besteigung von guten Wetterverhältnissen abhängig ist.
Ironie und Poetik der sprachlichen Verklärung oder Das Prinzip des Episkops
Nachdem der Kontrast der zwei so gegensätzlichen erzählten Welten in Der fliegende Berg durch die vorangegangenen Ausführungen auf der Ebene der histoire, der erzählten Geschichte, relativiert worden ist, soll nun eine Analyse des discours, der Darstellungsebene, folgen. In dieser Hinsicht ist zweierlei festzustellen: (a) Einerseits ist eine starke poetische Überformung des Erzählten zu konstatieren, die im Zeichen einer sprachlichen Verklärung steht und eine zeitliche und räumliche Entrückung ins Lyrische oder ›Eposhafte‹ bewirkt. (b) Andererseits sind stilistische Brüche auffällig, die mitunter eine ironische Brechung des Erzählten erzeugen.
Ad (a): Eine formal auffällige Eigenart von Der fliegende Berg wird auf den ersten Blick offenbar. So ist der Roman – ebenso wie bereits das Untergangsszenario Strahlender Untergang – im linksbündigen Flattersatz gesetzt und erweckt dadurch bereits aufgrund des graphischen Erscheinungsbildes lyrische Assoziationen, erinnert an die narrative Großform des antiken Versepos. Peter Mohr hat in diesem Zusammenhang kritisch von einem »prosaische[n] Endlosgedicht oder ein[em] Roman in gebrochener Versform« sowie von »reichlich verbalem Gepolter in die Leere des Abenteuerkitsches«(13) gesprochen. Und in der Tat ist die Sprache – ebenso wie in anderen fiktionalen Texten Ransmayrs – im Sinne der ›Dreistillehre‹ als »genus grande« zu bestimmen und zeichnet sich, neben den Tropen, durch einen häufigen Gebrauch rhetorischer Figuren aus. Es liegt überwiegend eine ausgeprägte Hypotaxe(14) vor. Die Affinität zum Lyrischen sowie der assoziative Eindruck des Textes werden durch asyndetische Reihungen und eine Fülle an rhetorischen Epitheta(15) verstärkt. Das häufige Vorkommen von Parallelismen(16) – auch im Zusammenhang mit einer einfachen Parataxe – betont dahingegen eher die Grundsätzlichkeit und Klarheit elementarer Aussagen. Ausgestellte Ellipsen(17) fungieren als rhetorische Mittel der betonten Verknappung und Zuspitzung der Aussagen.
Schließlich ist auffällig, dass der Text – obwohl er keine auffälligen Archaismen aufweist – sprachlich dennoch nicht eindeutig in der Gegenwart zu verorten ist, sondern eher eine vage und entlegenere zeitliche Zuordnung nahe legt. Obschon deutlich auf die globalisierte Welt rekurriert wird, bleibt diese begrifflich in vielen Fällen verschleiert. So ist etwa nicht die Rede vom Internet, sondern von »einem globalen Datennetz«. Es wird nicht von TFT-Monitoren gesprochen, sondern von »Flüssigkristallschirmen« (FB 24). Auf diese Weise eröffnet sich eine Parallele zu Ransmayrs Roman Die letzte Welt, in dem ein Episkop in Famas Krämerladen auf einer metareflexiven Ebene als Sinnbild für das poetische Prinzip des Textes angesehen werden kann, das in der sprachlichen Verklärung des Gewöhnlichen und Alltäglichen besteht. So heißt es in Die letzte Welt:
Ein Episkop nannte Fama dieses Wunderwerk, dessen Bilder sich zwar nicht bewegten wie jene des Filmvorführers, das dafür aber noch die wertlosesten Dinge des Lebens heraushob und zu einer solchen Schönheit verklärte, daß sie kostbar und einzigartig wurden. Betrachtete man die Spiegelungen an der Wand nur lange genug, glaubte man das innere Leben der Dinge wahrzunehmen, ein Flackern, ein Pulsieren und Flirren, gegen das die Bewegtheit der äußeren Welt plump und nichtssagend erschien.(18)
Die Opulenz des sprachlichen Ausdrucks erweist sich unter dieser Perspektive als ein bewusstes sprachliches Mittel. Die Sprache ist im Sinne einer ›Poetik der Verklärung‹ eingesetzt, um die erzählten Welten – und zwar sowohl die postindustrielle wie die archaisch anmutende Hochgebirgswelt – in ihrer jeweiligen Rätselhaftigkeit und Allgemeingültigkeit darzustellen. Das Bekannte und die anscheinend gewöhnlichen, alltäglichen Dinge werden dabei ebenso wie das eher Fremde und Außergewöhnliche sprachlich gleichberechtigt behandelt und damit auch homogen nebeneinander präsentiert. Auf diese Weise wird die Gegensätzlichkeit dieser fiktionalen Welten auch auf der Darstellungsebene relativiert.
Abb. 3: Ästhetisch stilisiertes Computerbild aus dem
Film MATRIX (USA 1999; Regie: Andy u. Larry Wachowskis)
Ad (b): Die auffällige Poetizität der Sprache von Der fliegende Berg bleibt indes nicht ungebrochen. Als besonders markante Passage, an der ein Stilbruch – nämlich der größtmögliche Kontrast zum »genus humile« – festzustellen ist, soll exemplarisch auf den Moment der Gipfelbesteigung verwiesen werden. So tritt zuerst der Gedanke an den mythischen (Aber)Glauben hervor, wenn es intern fokalisiert aus der Perspektive des Ich-Erzählers heißt:
Seltsam, die Vorstellung
daß dieses spurenlose Weiß,
die Leerstelle, unser Ziel …
vielleicht doch schon besetzt war –
von thronenden Göttern, Eisgeistern, Dämonen – (FB 344)
Im Anschluss wird der aufscheinende Götterglaube jedoch durch ein säkulares Fluchen relativiert:
Und selbst wenn dieser gütige Himmel
und dieser Scheißgipfel,
der jetzt wieder mit einem Satz zurückschnellte
und uns mit diesem Rückzug verhöhnte,
selbst wenn dieser Scheißhimmelsgipfel
vor unseren Augen auf und ab tanzte,
einmal wie die Heilige Jungfrau erschien
und gleich wieder verschwand:Er würde uns nicht mehr entkommen,
Liam und ich, wir würden ihn einholen, |
dieser Himmelsscheißgipfel entkam uns nicht!, mir nicht! (FB 345 f.)
Die spirituell aufgeladene Atmosphäre sowie der mit christlichen Heilsvorstellungen versetzte mythische Götterglaube werden durch das leitmotivisch in Variation wiederkehrende Schimpfen auf den Gipfel – »Scheißgipfel«, »Scheißhimmelsgipfel«, »Himmelsscheißgipfel« – demontiert und ironisch gebrochen.
Fazit: Von fliegenden Worten und fliegenden Bergen
Obgleich in Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg die zwei erzählten Welten der ›flirrenden Bergeinsamkeit‹ und der ›flimmernden Computerwelt‹ miteinander konfrontiert werden, relativiert sich der Kontrast beider Diegesen bei differenzierter Analyse sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours. Wenngleich die zentralen Figuren an beiden Welten teilhaben und diese Welten in der Gegenwart zur Entstehungszeit des Romans angesiedelt sind – was in früheren fiktionalen Texten Ransmayrs nicht der Fall gewesen ist –, so sind die erzählten Welten dennoch ins zeitlich Unbestimmte entrückt: (a) einerseits durch das Eindringen des Mythischen, des erzählten Mythos, und (b) andererseits durch das sprachliche Changieren zwischen Wörtlichkeit und parabolischer Bildlichkeit. Diese Analogie zwischen der schwierigen ›Verortbarkeit‹ der Diegese wie der Mehrdeutigkeit der Sprache wird auch an einer Bemerkung Liams deutlich, die auf einer Metaebene autoreflexiv zu verstehen ist. So hat nämlich gerade Liam, der von seinem Bruder als »Master Kaltherz« (FB 319), als »der Kartenzeichner, / der Landvermesser« (FB 203) bezeichnet wird, über Nyemas Worte in sein Routenbuch notiert, dass sie so »federleicht wie jener Berg, der flog« (FB 201) seien. Der Glaube an fliegende Berge in der binnenfiktionalen Realität spiegelt sich in der metaphorischen Verfasstheit der Sprache wider. Die gattungstypologische Hybridform zwischen dem Lyrischen und Epischen vermag eine betonte Subjektivität und Emotionalität zu transportieren. Im Sinne von Pierre Bourdieus Zuweisung symbolischer Sichtbarmachung von Weltsicht(19) durch literarische Texte mag dies – in unserer globalisierten und industriell geprägten Welt – der Hinweis auf ein Bedürfnis nach individuellen Erlebnis- und Rückzugsräumen sein, seien es tatsächlich räumliche, zwischenmenschliche oder sprachliche(20).
Literaturverzeichnis
Anmerkungen:
8.3. Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-02-17