TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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George Steiner und der sekundäre Diskurs in der Moderne

Christopher Ebner (Graz) [BIO]

Email: christopherebner@gmx.at

 

Die Moderne ist die Zeit des Sekundären, des Verlusts des Unmittelbaren auf allen Ebenen des menschlichen Daseins. Der englische Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner identifiziert drei wesentliche Strömungen des sekundären Diskurses in der Moderne.

 

1. Der Journalismus

Steiners Worte für die Flut an Sekundärem und Parasitärem, das sich auf die Literatur setzt und den Weg zu einem unmittelbaren Verständnis untergräbt, sind direkt und lassen keinen Zweifel an seiner Einstellung erkennen. „A mandarin madness of secondary discourse infects thought and sensibility.“(1) Einer der Gründe dafür liegt im Journalismus. Der Journalismus ist die herrschende Form, in der die Interessierten sich mit den Werken der Literatur und Kunst auseinander setzen, der Journalismus weist gesellschaftliche und metaphysische Komponenten gleichermaßen auf.

Historisch gesehen war der Journalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts das bevorzugte Medium der bürgerlichen Revolutionen. Es ist kein Zufall, dass Die neue freie Presse gerade 1848 gegründet wurde, jene Zeitung, die ein halbes Jahrhundert danach für Karl Kraus zum Inbegriff der Verderbtheit der Sitten, des Verfalls der Sprache und der korrupten Doppelbödigkeiten wurde. Auch wenn Steiner in diesem Zusammenhang nicht explizit auf Kraus verweist, so kann gerade sein Beispiel verdeutlichen, was Steiner meint. Die bürgerlichen Revolutionen versuchten politische Ausgewogenheit herzustellen, sie verlangten Mitspracherechte und behaupteten Mündigkeit, deren Ausdruck die Pressefreiheit war und ist. Mit dem erreichten Ziel der politischen Partizipation bleibt ein Vakuum zurück, das zuvor mit politischer Betätigung gefüllt war. Die Institutionalisierung der politischen Betätigung im Rahmen von Wahlen oder durch das Bekleiden öffentlicher Ämter in den modernen Demokratien der westlichen Welt, wie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, bedingt ein neues Feld für kultivierte Gespräche, das teilweise mit Kunst und Literatur gefüllt wird.(2)

Als Kraus 1899 die Anti-Zeitung Die Fackel gründet, hat der Geist des Journalismus seine erste Hochblüte erreicht. Schon auf der ersten Seite der ersten Ausgabe der Fackel legt Kraus sein Programm dar: Die Trockenlegung des „weiten Phrasensumpfes“(3). Der Phrasensumpf der Zeitungen legt sich wie ein grauer Schleier über alle Ereignisse und bestimmt zugleich die Beurteilung aller Ereignisse. Es ist unmöglich, sich eine eigene Meinung zu bilden, kommt man doch nie zu den Sachen selbst. Allein im Wort „Phrasensumpf“ manifestiert sich das Wesen des Journalismus. Ein Sumpf weist die gleichen Eigenschaften wie eine Phrase auf, an der Oberfläche ist alles glatt; jeden, der tiefer eindringen will, zieht er in eine todbringende Tiefe, aus der es kein Entrinnen gibt. Wer dem Sumpf beikommen möchte, muss ihn trockenlegen, muss einen festen Grund schaffen, Struktur in die amorphe Masse bringen.

Zwei Elemente machen den Umgang mit dem Journalismus so schwierig. Zunächst tendiert er dazu, alles gleich zu machen. Das entspricht der ursprünglichen Idee, die in der Pressefreiheit zum Ausdruck kommt. Niemand ist berechtigt zu entscheiden, was wichtig und was unwichtig ist, schon gar nicht die Zensur. Alles darf gewusst und geschrieben werden, alles steht täglich nebeneinander. Das hat aber zur Folge, dass auch Dinge, die der Sache nach unwichtig sind, gleichberechtigt neben Dingen stehen, die wirklich wichtig sind – die Kriterien der Bedeutung sind schwer zu fassen, aber es gibt sie. So wird das eine dem anderen gleichgemacht, obwohl es nicht gleich ist. Das Unwichtige wird erhöht und verklärt, das Bedeutende aber zerstört. Die vereinheitlichende Tendenz an der Oberfläche des Journalismus führt notwendig zur Auf- oder Abwertung der verhandelten Sachen.

Damit befinden wir uns schon mitten in der Metaphysik des Journalismus. Die Elemente der Zerstörung und Verklärung resultieren augenscheinlich aus pragmatischen Gründen – die Zeitung muss jeden Tag voll werden, jeden Samstag muss es eine Bücherseite geben –, sie sind aber notwendig dem Wesen des Journalismus zuzurechnen. 1927, 28 Jahre nach Kraus, hat Heidegger in Sein und Zeit zum ersten Mal die Metaphysik des Journalismus erfasst. Der Mensch ist in der Ontologie Heideggers jenes Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Der Mensch – das Dasein – ist immer damit beschäftigt, sich die Welt anzueignen, festzustellen, was sich wie zueinander verhält und welche Rolle es im Dasein einnimmt. Das ist eine ungeheuer große Aufgabe, und so kann sich das Dasein dann und wann in das „Man“ zurückziehen. Damit nimmt es sich selbst aus dem Spiel und überlässt alle Daseinsauslegung dem Man. Auch wenn das Man den unmittelbaren, kurzfristigen Vorteil der Entlastung des Daseins von seiner großen Aufgabe mit sich bringt, so ist es im Grunde doch schlecht und gefährlich. Das Man ist alle und keiner, in der „Unauffälligkeit und Nicht­festellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“(4) Die Beschaffenheit der Diktatur, ihr ganzes Ausmaß wird in folgenden Formulierungen greifbar:

Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen’ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ‚empörend’, was man empörend findet.(5)

Das Man, das durch Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit charakterisiert ist, ebnet alles ein, gleicht jede Ausnahme seiner eigenen Durchschnittlichkeit an. „Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft.“(6) Das Man darf alles, weil es niemand ist. Das Man nimmt dem Menschen die Pflicht zum eigenständigen Erfahren und Urteilen ab. Im Abtreten dieser Verantwortlichkeit liegt das entlastende Potential des Man. Es ist immer möglich, sich auf das Man zu berufen und alle Entscheidungen durch den Verweis auf es zu rechtfertigen. Der Preis, den jeder Mensch, der sich immer nur in das Man zurückzieht, zahlen muss, ist der Verlust seines je eigenen Seins. Die Bedeutung des Man beschränkt sich nicht allein auf den Journalismus, obzwar gerade der explizit hervorgehoben wird. In Heideggers verbrämter Zivilisationskritik fallen fast alle modernen Errungenschaften unter die Gleichmacherei:

In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichten­wesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ‚der Anderen’ auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden.(7)

Das bevorzugte Medium des Man ist das „Gerede“. Die Sprache, die in Heideggers Ontologie einen ausgezeichneten Status einnimmt, kann auf der einen Seite das Sein sagen, es auf der anderen Seite, unter der Herrschaft des Man, vollkommen verdunkeln und unzugänglich machen. Im Gerede hat die Rede, wie Heidegger den lÒgoj ¢pofantikÕj, die entdeckende Rede nennt, ihren Mitteilungscharakter eingebüßt. Das Gerede hat entweder seinen direkten Bezug zum Sein verloren oder nie gehabt, aber im Prozess des „Weiter- und Nachredens(8) vermittelt es nach und nach den Eindruck, als wäre das, was es behauptet, wahr. Die Sache ist nicht so, weil sie so und so ist, sondern die Sache ist so, weil man es sagt. Im Weiter- und Nachreden steigert sich das Gerede, dem es zu Beginn schon an „Bodenständigkeit“ fehlt, zur „Bodenlosigkeit“ und die Sätze und Worte des Geredes hängen in der Luft, bilden ein System, das in sich stimmig sein mag und das dennoch nichts über die Wirklichkeit aussagt. Auf der Ebene der Schrift ist das „Geschreibe“ das Pendant zum Gerede, es speist sich nicht aus Gehörtem, sondern aus dem Angelesenen. Das Problem, das Heidegger im Gerede und Geschreibe sieht, besteht darin, dass sich der Mensch der Durchschnittlichkeit niemals aus der Durchschnittlichkeit der Öffentlichkeit erheben muss und nicht zu einem echten Verstehen gelangt, versteht er das Nachgeredete und Nachgeschrieben ohnedies. Das kann darüber hinaus ein stimmiges System bilden, das dennoch bodenlos, also ohne Bezug zur Wirklichkeit, zum Sein, ist.

Heidegger erwähnt Kunst und Literatur nur am Rande, dennoch haben Man und Gerede gerade für diese Bereiche eine eindeutig nachvollziehbare Bedeutung und das höchste Maß an Evidenz. Es darf nicht unberücksichtig bleiben, dass Heidegger, auch wenn er Man und Gerede die Möglichkeit zur Daseinsentlastung zuschreibt, von einer Verkümmerung des Mensch­seins spricht(9). Über die tatsächlichen Auswirkungen auf den einzelnen Menschen sagt er aber nichts, ihm geht es vordergründig nur darum zu beschreiben, nicht zu werten.

 

2. Der akademisch-kritische Diskurs

Anders Steiner. Ihm ist sehr wohl daran gelegen zu werten, er geht in der Beschreibung des Sekundären noch einen Schritt weiter und gibt als zweite Quelle den akademischen, vorrangig den literaturwissenschaftlichen Diskurs an. In der Geschichte der Menschheit gibt es Kommentare fast so lange wie es Werke gibt. Wie in fast allen Bereichen des menschlichen Lebens vollzieht sich auch im Bereich des Kommentierens im 19. Jahrhundert eine quantitative Veränderung, die sich im 20. und im 21. Jahrhundert noch einmal potenziert. In den meisten Bibliotheken der literaturwissenschaftlichen Institute gibt es mehr Bücher über Bücher als es eigentliche Bücher gibt. Die Ursachen hierfür sind wiederum vielgestaltig. Seit dem 19. Jahrhundert wurden unzählige Institute gegründet, die sich hauptberuflich mit dem Ausdeuten von Schriften beschäftigten, die Zahl derer, die dieses Interpretieren erlernen und betreiben wollen, ist seitdem ständig gewachsen. Die in den Curricula festgelegten Arbeiten werden gesammelt und aufbewahrt, nicht selten sogar gedruckt. Mit den quantitativen Veränderungen des Erzeugens und Bewahrens von Kommentaren gehen auch qualitative Veränderungen einher. Auch wenn Steiner es nicht so deutlich formuliert, so wird doch klar, dass der Zuwachs an akademisch verordneten Schriften eine qualitative Verschlechterung mit sich bringt, es steigt nicht nur die Zahl der schlechten Arbeiten, es verändern sich auch die Ansprüche des Auslegens selbst. In diesem Zusammenhang spricht er vom „Expansionismus der akademisch-kritischen Sichtweise“(10). Das meint nicht nur den quantitativen Zuwachs an akademisch-kritischen Kommentaren, sondern auch die Erschließung eines Feldes für das Kommentieren, jenseits des Klassischen und Kanonisierten. Eine mögliche Ursache für diesen recht jungen Trend meint Steiner in der Amerikanisierung der Geisteswissenschaften ausmachen zu können. Der amerikanische Geist ist von Demokratie durchdrungen, mehr noch, er durchdringt alles mit Demokratie. „The American genius would democratize eternity.“(11) Immanenz und Egalitarismus sind die treibenden Kräfte Amerikas, die Vorstel­lung des Klassischen, des Einen, das per se über Anderes erhaben ist, ist dem amerikanischen Geist fremd. Das hat zur Folge, dass man dem Überlieferten nicht jene Bedeutung beimisst, die es in der europäischen Tradition hatte, beginnend mit den Griechen, den Schriften der großen Römer und der Kirchenväter – in Deutschland erhielten die deutschen Epen erst im 19. Jahrhundert ihr Recht – über Shakespeare bis Goethe. Die amerikanische Universität räumt aber der zeitgenössischen Kunst, der Literatur, dem Theater und der Musik ein, dem Alten ebenbürtig zu sein. Zum anderen verlieren mit der Bearbeitung von Werken zeitgenössischer Künstler auch viele Elemente, Ziele und Methoden der Philologie ihre Funktion und ihre Berechtigung. Ein noch nicht abgeschlossenes Werk kann weder angemessen ediert oder mit einem textkritischen Variantenapparat versehen werden, künstlerische Entwicklungen, veränderte Ansichten können nur vorläufig erfasst und erahnt werden. Dennoch werden „[i]dentische Techniken der Kommentierung […] auf die Antike wie auf die Moderne angewandt, auf das Anerkannte wie auf das Vorübergehende.“(12)

Es ist offensichtlich, dass es anderer Kenntnisse und Fertigkeiten bedarf, um die Bedeutungen der homerischen Epen zu erfassen, als man sie braucht, um ein Werk Friederike Mayröckers in seinen Grundzügen zu erschließen. Die Ilias und die Odyssee sind 700 Jahre vor unserer Zeitrechnung aufgezeichnet worden, Mayröckers vorläufig letztes Buch Und ich schüttelte einen Liebling(13) erschien 2700 Jahre nach der vermutlichen Verschriftlichung der Epen. Vieles in der Form und Rhetorik Homers spiegelt noch die jahrhundertelange mündliche Überlieferung, mehr noch als Shakespeare tritt Homer – sofern es ihn überhaupt gegeben hat – hinter sein Werk zurück. Die Verweise auf den Verfasser der jeweiligen Texte sind ganz unterschiedlich, Mayröcker bringt sich mehr oder minder direkt und erkennbar auf nahezu jeder Seite des Buches ein; die Stellen, in denen Homer über Homer spricht, verweisen, bedingt durch das Unwissen über den Autor, je nach Deutung auf ihn selbst, einen Mann gleichen Namens oder den einen oder anderen unbekannten Rapsoden. Keine einzige Figur, kein konkretes Ereignis in den Epen konnte bislang als historisch wahr erwiesen werden. Ein Großteil der Figuren in Mayröckers Und ich schüttelte einen Liebling sind schon auf den ersten Blick, durch ihre Namen, als reale Personen identifizierbar, das Ereignis des Todes Ernst Jandls, ein Thema des Buchs, ist immer wieder greifbar und korrespondiert mit der Wirklichkeit. Obwohl Personal und Geschehen der Ilias keine direkte Übereinstimmung mit der historischen Wirklichkeit aufweisen, sind die topographischen Angaben im Text so exakt, dass Heinrich Schliemann 2600 Jahre nach der Aufzeichnung der Epen anhand dieser Angaben die verschütteten Ruinen Trojas entdecken konnte. Der Verweis auf die Autoritäten – in beiden Fällen zentral – die Götter bei Homer, Derrida und Gertrude Stein bei Mayröcker, führen im Fall der Epen zu einer weiteren Klärung des Textes, im Fall Mayröckers stehen sie – sowohl Derrida als auch Stein sind große Autoren der Referenzlosigkeit – in Opposition zum äußerst konkreten Zentrum des Textes, dem Tod und dem Tod Ernst Jandls. Homer tendiert zur Darstellung einer Ordnung, Mayröcker löst die Ordnung auf.

Der Unterschied in der Betrachtung wird nicht in den Erkenntnissen sichtbar, sondern vielmehr in den Wegen, die zu den Erkenntnissen führen. Der Weg, im Griechischen ÑdÒjhodós – genannt, zu Homer, zur Ilias und zur Odyssee ist lang. Er setzt eine möglichst genaue Kenntnis der griechischen Sprache und Grammatik voraus, er verlangt Wissen um die Zeit, um die Gesellschaft, die Theologie und die Philosophie der Griechen. Um zu einzelnen Elementen etwas in Erfahrung zu bringen, muss man andere Werke aus der Zeit um und nach Homer studieren. De facto ist aber einiges von den Bedeutungen der alten Epen bereits aufgearbeitet und gesammelt. Die Epen selbst sind in zahlreichen Übersetzungen verfügbar.

Der Weg zu den Erkenntnissen zu Friederike Mayröckers Und ich schüttelte einen Liebling ist hingegen ungleich kürzer, vor allem für den, der Deutsch kann. Namen wie Jandl, Bodo Hell, Derrida, Stein und Wendelin Schmidt-Dengler sind den Studierenden der Literaturwissenschaft, vor allem der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft in Fleisch und Blut übergegangen. Zugleich ist Und ich schüttelte einen Liebling als Werk einer namhaften Autorin der deutschen Gegenwartsliteratur schon unter einer Flut von Rezensionen begraben. Bei einem Werk, das so explizit der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit verpflichtet ist, ist eine Kenntnis der Welt der Griechen tendenziell unerheblich. Explikationen zeitgenössischer Texte sind auf der Ebene der Realien, dessen, was im Klassischen immer genau verstanden werden muss, um überhaupt die Grundlagen abzuklären, trivial. Die klassischen Wege zum angemessenen Verständnis versagen bei zeitgenössischen Texten. Die Begeisterung, die in der Literaturwissenschaft den psychoanalytischen Verfahren, von Freud bis Lacan, entgegengebracht wird, ist in dem Umstand zu suchen, dass diese Verfahren ein Geheimnis im und um den Text vermuten, dessen ein ansonsten verständlicher Text entbehrt.

Den Weg zur Erkenntnis nennt man mit einem aus dem Spätlateinischen entlehnten Wort, das wiederum dem Griechischen entnommen ist, Methode. Etymologisch steckt auch darin der Weg. Die Methode zur Annäherung an die alten Epen oder an ein Werk der jüngsten deutschen Gegenwartsliteratur muss der Sache nach vollkommen anders sein und ist es de facto auch. Das ist die meist unberücksichtigte eine Komponente dessen, was man den Methodenstreit nennt.

Auf der anderen Seite verweist die Frage nach der Methode, nach den Wegen zur Erkenntnis auch auf das Problem der Methoden der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften im Verhältnis zu den Methoden der Naturwissenschaften und der Mathematik. „The fantastic success of the mathematical and the natural sciences, their prestige and socio-economic preferment, have mesmerized the humanists and literati.”(14) Für Steiner ist jeder Versuch, eine exakte Literaturwissenschaft betreiben zu wollen, ein bloßes „Nachäffen“ der Natur­wissen­schaften. Weder produziert man in der Literaturwissenschaft verifizierbare Thesen, noch existiert in den Geisteswissenschaften ein Fortschritt, wie ihn die Naturwissen­schaften kennen. Vieles von dem, was später an Kommentaren geschrieben wurde, übertrifft nicht das, was früher schon geschrieben wurde. „So ist auf allen Gebieten, mit Ausnahme des streng philologisch-historischen, die Erfindung geisteswissenschaftlicher ‚Forschung’ eben reine Erfindung.“(15) Die Expansion der akademisch-kritischen Sichtweise bedeutet so auch eine Erweiterung in ein Feld, das nach Steiner eigentlich gar nicht existiert.

In diesem Zusammenhang steht auch Steiners Kritik an der Verwendung des Begriffes „Theorie“ für ästhetische Belange. Noch bis ins 16. Jahrhundert behält das Wort jene Bedeutung, die ihm in den griechischen Schriften und denen des neuen Testamentes beigelegt wurde. Der Theoretiker ist zunächst ein Pilger, der ausgesandt wird, das Orakel zu befragen, um hernach mit der Wahrheit im Gepäck zurückzukehren. Der Theoretiker ist auch einfach der Zuschauer bei den rituellen Tragödienaufführungen in Athen, die Theorie ist eine Form des geistigen Anschauens.

Thus theory is inhabited by truth when it contemplates its object unwaveringly and when, in the observant process of such contemplation, it beholds, it takes grasp of the often confused and contingent (‚vulgar’) images, associations, suggestions, possibly erroneous, to which the object gives rise.(16)

Der Theorie wohnt also Wahrheit inne, wenn sie sich unverwandt in den Anblick ihres Gegenstandes versenkt und wenn sie in der Observanz solcher Kontemplation die oft verworrenen, zufallsabhängigen (‚gemeinen’), möglicherweise irrigen Bilder, Assoziationen, Anmutungen betrachtet und erfaßt, zu denen der Gegenstand Anlaß gibt.(17)

Die heutige Verwendung des Begriffes Theorie beginnt im 16. Jahrhundert. Seit damals meint er nicht nur eine Form des abstrakten Betrachtens, sondern auch ein System von Aussagen, die, sofern wissenschaftlich begründet, gewisse Erscheinungen der Wirklichkeit erklären. Das bevorzugte Verwendungsgebiet für die „Theorie“ ist das der Naturwissenschaften, in deren eigener Theorie, der Theorie der Naturwissenschaften, geklärt wird, wie sich spekulative, also noch praktisch unbegründete Aussagen – Theorien – verifizieren lassen. Die Naturwissen­schaft besteht aus der Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, zwischen aufgestellten Aussagen über die Wirklichkeit und ihrer praktischen Verifizierung oder Falsifizierung. Eine falsifizierte Theorie ist ungültig, sie wird von einer neuen, besser bestätigten abgelöst und nicht selten voll und ganz ersetzt – die ptolemäischen Theorien wurden durch die kopernikanischen tatsächlich überwunden. Die Transformation des naturwissenschaftlichen Theoriebegriffes hat in den Bereichen der Sprache und der Literatur für Steiner etwas Künstliches.(18) Es ist, als möchte man an der Autorität der Naturwissenschaft und der Technologie mitschneiden. Dabei unterliegt man aber einem „kategorialen Irrtum“(19), der noch schwerwiegender ist als das pragmatische Problem der Suggestivität von Theorie, vor dem selbst die Naturwissenschaften nicht gefeit sind. (Erst Poppers Postulat des Primates der Falsifikation schuf hier einiges an Abhilfe, denn man kann für nahezu jede Theorie eine Unmenge an Bestätigungen finden, auch wenn sie nicht wahr ist.) Der kategoriale Irrtum besteht aber in dem implizit vorhandenen Glauben, die Tatsachen der Natur hätten denselben ontologischen Status wie die Tatsachen der Sprache und damit der Literatur. Wer eine Theorie der Hermeneutik, eine theoretische Poetik oder eine Theorie der Kritik vertritt, behauptet letztendlich, jede poetische Äußerung ließe sich auf die Elemente zurückführen, aus denen sie besteht. Diese Elemente sind die kleinsten Teile der Sprache, die Phoneme und Lexeme, die Grapheme und die grammatischen Strukturen. Sie sollen den Bausteinen der natürlichen Dinge, den Elektronen und Ionen, den Quarks und Higgs-Teilchen, den Elementen und den chemischen Determinanten, den Verbindungsnotwendigkeiten der Moleküle entsprechen. Steiner führt eine Menge Bestrebungen an, Poesie auch empirisch quantitativ reduktionistisch zu erfassen, von Roman Jakobson und den russischen Formalisten sowie deren Bestrebungen, den Algorithmus des Märchens zu finden, über empirische Studien, die die Wirkung von Poesie auf Probanden untersuchten, bis zur neuen Semiotik des Strukturalismus und Poststrukturalismus. Die meisten dieser Versuche, die Bedeutung von Poesie durch Reduktion nachvollziehbar zu machen, scheitern, daher geht die aktuellste Theorie der Sprache einen Schritt weiter, indem sie Sprache als selbstreferenzielles System zu begreifen versucht. Für Steiner ist diese Auffassung radikal inadäquat. Er setzt ihr – worauf später in der Arbeit eingegangen wird – die Behauptung entgegen, dass poetische Werke, überhaupt alle künstlerischen Äußerungen Singularitäten seien, deren Bedeutung genau darin besteht, nicht reduzierbar zu sein.

Ein weiteres Problem, das mit der akademischen Komponente des sekundären Diskurses einhergeht, betrifft die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem Bereich des Akademischen und der Literatur selbst. Die Passage sei hier ausführlich zitiert.

Consciously or not, numerous poets […] begin to write the type of poem that will reward the structural analyses of college and university classes. The novelist patterns for ambiguities, for polysemic densities of the kind prized and ‘taught’ by the explicator. Housing the vestigial claims of the psychoanalytic, art and literature departments in the university look to the Freudian or Jungian yield from painting and poem. Consciously or not, the creator labours to oblige. Distorting courtesies of reception obtain between artist and explainer. To a degree which is difficult to determine, the esoteric impulse in twentieth-century music, literature and the arts reflects calculation. It looks to the flattery of academic and hermeneutic notice. Reciprocally, the academy turns towards that which appears to require its exegetic, cryptographie skills. The text solicits ‘adoption’ by the university syllabus and reading list. The term is revealing; for the paternity thus obtained is, indeed, a false one.(20)

Bewußt oder unbewußt machen sich zahlreiche Dichter daran […] einen Typus von Gedicht zu schreiben, der für die Strukturanalysen der College-Klassen und Universitätsseminare ergiebig ist. Der Romanschriftsteller legt es auf Mehrdeutigkeit, auf polysemantische Verdichtung einer Art an, wie sie von akademischen Interpreten gewürdigt und ‚gelehrt’ wird. Als Hüter der restlichen Ansprüche psychoanalytischen Denkens achten die Universitätsfakultäten für Kunst und Literatur auf freudianische oder jungianische Ergiebigkeit von Malerei und Dichtung. Bewußt oder unbewußt geben sich die Kunstschaffenden entgegenkommend. Verzerrende Höflichkeiten der Gastfreundschaft herrschen zwischen Künstler und Explikator. In schwer bestimmbarem Umfang spiegelt der esoterische Impuls in der Musik, der Literatur und der Kunst Berechnung wider. Er legt es auf die Schmeichelei akademischer und hermeneutischer Beachtung an. Dementsprechend wendet sich akademische Bemühung ihrerseits dem zu, was ihre exegetischen kryptographischen Fähigkeiten zu erfordern scheinen. Der Text will vom Syllabus, von der Leseliste der Universität ‚adoptiert’ werden. Der Ausdruck ist bezeichnend: die Vaterschaft, die so zustande kommt, ist in der Tat eine falsche.(21)

Die Unterstellung ist von großer Tragweite und betrifft die zweite Komponente der Machen­schaften des sekundären Diskurses: Die Macht der Verklärung. Steiners Argument ist ein tendenzielles, dessen Grundlange die Behauptung ist, dass sich die Literatur oder die Autoren am Publikum orientieren. Institutionen wie Bestsellerlisten machen das offen­sichtlich. Der populäre Kriminalroman, der Liebesroman, der etwas anspruchsvollere Thriller – sie alle wollen dem Publikum gefallen. Warum sollte es bei der anspruchsvollen Literatur anders sein? Die Masse des Publikums ist an Romanen mit einer klaren, fesselnden Handlung interessiert, in dem Maß, in dem die Bildung der Leser zunimmt, spielt auch die Reife der Sprache eine Rolle, die Zeichnung der Figuren, Menschen mit Fehlern statt eindimensionaler Super­helden. Auch Literatur, die nicht mit der Masse rechnet, sucht ihr Publikum. Wo die Verkaufs­zahlen das Verlegen eines Buches nicht rechtfertigen, soll zumindest die akademische Welt davon Notiz nehmen, die Verlage halten sich Autoren als Vorzeigeobjekte. Steiner unterstellt nicht, dass allein Berechnung zu Formen akademischer Literatur führt, vielmehr werden viele Schriftsteller schon so sozialisiert, zu schreiben, wie sie schreiben. Es lassen sich eine Menge Indizien für die behauptete Verquickung von Akademie und Literatur finden.

In der Vorkriegs- und Kriegsgeneration der deutschen Literatur, so wie in der Generation, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sozialisiert wurde, gibt es viele Autoren, die ein einschlägiges geisteswissenschaftliches Studium begonnen oder absolviert haben. Die 1946 geborene Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek studierte drei Jahre lang Theater­wissenschaften und Kunstgeschichte, die 1924 geborene Friederike Mayröcker beginnt nach der Externistenmatura Kunstgeschichte und Germanistik zu studieren, die ebenfalls 1924 geborene Christa Wolf studierte von 1949-1953 Germanistik in Jena, auch der 1917 geborene Nobel­preisträger Heinrich Böll begann 1946 mit dem Studium der Germanistik, Ingeborg Bach­mann studierte Philosophie. Auch Uwe Johnson, Ernst Jandl, Gert Jonke, Botho Strauß, Robert Menasse, Alfred Kolleritsch und Franzobel studierten Germanistik oder begannen zumindest damit. Thomas Bernhard studierte Musik, Peter Handke begann mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Graz, Reinhard P. Gruber studierte Theologie, Werner Schwab war an der Akademie für angewandte Kunst in Wien. Die Nachwuchsgeneration der Schriftsteller aus Österreich hat aber fast zur Gänze Germanistik oder Literaturwissenschaft studiert. Hier eine gewisse Beeinflussung von Produktion literarischer Texte und dem akade­mischen Kommentieren zu attestieren, ist nahe liegend. Die Feststellung dieser Tendenz sagt nichts über Güte und Qualität einzelner Werke aus, es geht allein darum zu zeigen, dass ein bestimmtes Verständnis von dem, was Literatur ist und was gute Literatur ausmacht, über Generationen hinweg institutionell gelehrt und vermittelt wird. Langfristig kann so eine wechselseitige Beeinflussung zwischen akademischem Diskurs und literarischem Schaffen durchaus stattfinden.

Die Vorwürfe gegen den sekundären Diskurs lassen erkennen, dass der sekundäre Diskurs den Menschen von der Möglichkeit unmittelbarer Erfahrung ausschließt. Das geht soweit, dass die Literatur unter Umständen selbst bereits auf Sekundärem fußt. Ein Text kann geschrieben sein, wie er geschrieben ist, weil man Texte eben so schreibt und nicht, weil es eine – wie auch immer geartete – Notwendigkeit gibt, so zu schreiben. Es ist fast unmöglich zu unterscheiden, was echt und was bloß nachgemacht ist. Aus diesem Dilemma, aus dem Umstand, dass Ursprüngliches und Sekundäres nur intuitiv und wertend erahnt werden können, speisen sich die institutionalisierten Formen des sekundären Diskurses, wie sie Strukturalismus und Poststrukturalismus – der Dekonstruktivismus – darstellen.

 

3. Der Dekonstruktivismus als Institutionalisierung des sekundären Diskurses

Der Dekonstruktivismus ist in mehrfacher Hinsicht als Institution zu bezeichnen. Zum einen wird er gegenwärtig in Institutionen gelehrt, zum anderen hebt der Dekonstruktivismus all jene Elemente des sekundären Diskurses, die problematisch erscheinen, auf eine andere Ebene. Das, was aus der inneren Verfasstheit des Journalismus und des akademischen Kommentierens als zweifelhaftes Nebenprodukt hervorgeht, wird im Dekonstruktivismus – widersprüchlich aber dennoch – zum Prinzip der Literatur- und Weltdeutung erhoben. Hier wird, um ein Wort Franz Schuhs zu gebrauchen, der „Mangel zur Substanz erhoben“(22). Der Dekonstruktivismus ist eines der erstaunlichsten Phänomene der Literaturwissenschaft und der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite ist er rasend populär, es entstehen Unmengen an Traktaten zur Dekonstruktion und Analysen, die auf der Dekonstruktion aufbauen, auf der anderen Seite macht die Widersprüchlichkeit der dekonstruktivistischen Aussagen eine differenzierte Auseinandersetzung nahezu unmöglich. Ein Artikel in einem Buch über literaturwissenschaftliche Strömungen für Studienanfänger mit dem Titel „Dekonstruktion“ beginnt mit den Sätzen:

Dies ist kein Artikel über die Dekonstruktion. Sein Titel scheint das Gegenteil zu versprechen: Besonders in dem Kontext eines „Grundkurses Literaturwissenschaft“ wird erwartet, dass ein Text mit dieser Überschrift erklärt, was es mit der Dekonstruktion auf sich hat. Indessen ist keineswegs sicher, dass ein solches Schreiben über die Dekonstruktion überhaupt möglich ist.(23)

Generell wird die Dekonstruktion nicht als Methode, sondern als Praxis gefasst.

Obwohl der Dekonstruktivismus primär der Philosophie zuzurechnen ist, wurde er außerhalb Frankreichs, vor allem in Amerika, zuerst in den Literaturwissenschaften rezipiert. Peter Engelmann, der vieles der französischen Gegenwartsphilosophie im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat, führt dies auf den Umstand zurück, dass die analytische Tradition der angelsächsischen Philosophie das Fußfassen beispielsweise Derridas an ihren Instituten nicht zuließ. Derrida lehrte deshalb an den literaturwissenschaftlichen Instituten.(24) Die Einflüsse postmoderner Theorien, zu denen der Dekonstruktivismus auch zählt, finden sich in der angelsächsischen Literaturwissenschaft unter dem Begriff „New Criticism“ zusammengefasst.

Für Iris Murdoch ist die Dekonstruktion eine Technik der Lektüre, bei der das literarische Werk intensiv studiert und minutiös gelesen wird, um auch jene Bedeutungen zu entdecken, deren selbst der Autor nicht gewahr war. Darin sieht sie noch kein Problem. Seit Freud wurde das Verständnis von Literatur schon grundlegend umgewandelt, es ist durchaus möglich, im Werk auf Vorurteile und andere Elemente zu stoßen, die dem Werk Bedeutung geben, obwohl sie der Autor nicht bewusst eingearbeitet hat. Allerdings erschöpft sich darin die Dekonstruktion nicht. Sie ist bestrebt, in die Tiefe des Textes einzudringen, das zu finden, was nicht da ist. Das, was das Werk zum Werk macht, ist das real Abwesende, so wie die Fußspur nicht die gegenwärtige Fußspur ist, sondern Verweis auf den abwesenden Fuß.

[T]he ideal deconstructionist is more like a scientist who shows that things are absolutely not what they seem (the really are made of atoms). He will tell us that the literary object, as we have hitherto understood it, is pure phenomenon, below which lies something quite different from what its naïve creator believed and intended, or what the naïve reader imagines he perceives. In fact the real work of literature is what the critic produces. The deconstructed work is the real work.(25)

Implizit erhebt jede Explikation eines literarischen oder künstlerischen Werkes den Anspruch, wahr zu sein, also in gewisser Weise eindeutiger als das Werk selbst zu sein. Aber allein die Dekonstruktion behauptet, dass jedes literarische Werk etwas gänzlich anderes bedeutet, als der Autor gedacht hat, ja letztendlich gerade das nicht bedeutet, was es dadurch, dass es geschrieben ist, wie es geschrieben ist, zu bedeuten vorgibt. Erst wenn das Werk „gegen den Strich“ gelesen wurde, der Text in Metatext aufgegangen ist und sich so gezeigt hat, was wirklich darinnen oder darunter steckt, erst dann ist das wahre Werk da. In dem so entstandenen wahren Werk ist wieder nur wahr, was nicht da ist, das Wirkliche ist immer das Abwesende. Die Schriften Derridas über Rousseau müssen wieder gegen den Strich gelesen werden, um preiszugeben, was sie wirklich sind. In den Nebenerscheinungen des Journalismus und des akademischen Kommentierens ist der Artikel, der auf den Artikel, der Aufsatz, der auf den Aufsatz folgt, ein mehr oder weniger verzichtbares Nebenprodukt. Die wissenschaftliche Redlichkeit verlangt aber vom Verfasser einer Schrift über eine andere Schrift, immer den Primärtext zu befragen und seine Argumentation an ihm auszuführen. Alles andere ist problematisch. Die Dekonstruktion institutionalisiert nun alle Schwächen des Kommentierens, da sich zeigen lässt, dass Probleme notwendig entstehen und sich auf einer prinzipiellen Ebene einstellen. Wenn etwas fehleranfällig ist, wenn sich nicht zu hundert Prozent Eindeutigkeit herstellen lässt, dann gibt es streng genommen überhaupt keine Eindeutigkeit und der Text kann mit der gleichen Berechtigung dekonstruiert oder einem klassischen Verständnis gemäß angemessen interpretiert werden. Daneben bildet die Iteration die Institutionalisierung des Verlustes des Ursprunges und des Ursprünglichen. Wie nirgendwo sonst manifestiert sich in der Dekonstruktion die Metaphysik des Man und des Geredes, wie Heidegger sie beschrieben hat. Weiter- und Nachgeredetes oder Geschriebenes, ohne Grund und Boden. Der Satz: „Es ist interessanter, Derridas Schriften über Rousseau als Rousseau selbst zu lesen“(26) grenzt für Steiner hart am Untragbaren. Aber: „Lassen Sie mich sofort hinzufügen“, schreibt Steiner, „daß ich keine adäquaten logischen oder epistemologischen Argumente zu finden vermag, mit denen sich die dekonstruktivistische Semiotik verwerfen ließe.“(27) Für diese resignative Aussage gibt es gute Gründe, die vorrangig im Verständnis der Dekonstruktivisten von Literatur zu finden sind. „Our whole concept of what literature is is here in question“(28) hält Murdoch fest und meint mit Literatur das, was hier in einem allgemeinen Vorverständnis als Literatur bezeichnet wurde. In der Welt der Dekonstruktion gibt es nur Texte, keine Literatur, keinen kritischen Kommentar zur Literatur, keine Wirklichkeit. Eine Passage aus einem Gespräch, das Peter Engelmann mit Jacques Derrida geführt hat, kann verdeutlichen, was das heißt:

Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine Anwesenheit noch eine Abwesenheit. Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes, der ohne Grenzen ist – ich habe deshalb gesagt, auch als scherzhafte Bemerkung, es gäbe kein Außerhalb des Textes –, folglich setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisung fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre, etwas, das nicht es selbst wäre, markiert durch die textuelle différance, durch den Text als différance mit einem „a“. Ich habe geglaubt, daß es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese strategische Verallgemeinerung des Begriffs des Textes durchzuführen, um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben, der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne. Es handelt sich also nicht darum, einen Graphozentris­mus gegen einen Logozentrismus oder gegen einen Phonozentrismus wiederherzu­stellen, und auch keinen Textzentrismus. Der Text ist kein Zentrum, der Text ist eine Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung.“(29)

Für Derrida ist alles ein Text, nicht nur das Geschriebene, sondern auch das Geredete und das nur Gedeutete. Mehr noch, auch die Realität ist ein Text. Ein Text verweist durch Spuren – ähnlich der oben erwähnten Fußspur – auf andere Texte, die irgendwie einen Ein- oder Abdruck hinterlassen haben. „Der Text ist kein Zentrum“, es gibt keinen Urtext, wenn überhaupt, dann gibt es nur noch Spuren des Urtextes in anderen Texten. Der Text ist stattdessen eine Offenheit, er hat folglich auch kein Zentrum, nur Spuren der Verweisung, die auf Vergangenes, Gleichzeitiges und selbst Zukünftiges verweisen. Die Wirklichkeit ist nicht die Gegenwart und noch nicht einmal das Gegenwärtige. Jonathan Cullers Beispiel hierfür ist – in Anlehnung an das Paradoxon des Zenon – der Flug eines Pfeils. „If reality is what is present at any given instant, the arrow produces a paradoxon.”(30) Zu jedem Zeitpunkt der Bewegung befindet sich der Pfeil an einem exakt ermittelbaren Punkt im Raum und nicht in Bewegung. Auch wenn der Pfeil in Bewegung ist, so ist die Bewegung im Moment niemals gegenwärtig. „The presence of motion is conceivable, it turns out, only insofar as every instant is already marked with the traces of the past and future.“(31) Daraus soll ersichtlich werden, dass das Konzept der Anwesenheit, der realen Gegenwart, im Grunde unbrauchbar ist. Die Gegenwart des Pfeils an einem Punkt im Raum ist nicht die Wirklichkeit seiner Bewegung, die Vertiefung im feuchten Feldweg ist in Wirklichkeit der Abdruck des Bauernschuhs, den der Bauer auf dem Heimweg hinterlassen hat, und die Bedeutung eines Wortes schließlich ist nicht das, was sein Sprecher gegenwärtig meint, sondern auch das, was er nicht meint.(32) „Grunzt“ man eine bestimmte Lautfolge, zum Beispiel „Essen“, ist der Umstand, dass „Essen“ gegenwärtig etwas bedeuten kann, zunächst darin zu suchen, dass die Lautfolge von anderen Lautfolgen wie „Fressen“, „Hessen“ „messen“ oder „stressen“ unterschieden ist. Die Bedeutung ist also auch das, was gegenwärtig abwesend ist, die zusätzlichen Laute wie „h“ oder „m“ oder „fr“ oder „str“. Erst die reale Abwesenheit erlaubt es, die Lautfolge „Essen“ zu verstehen. In der Diktion der Dekonstruktion: Das gegenwärtige Geräusch „Essen“ ist mit den Spuren dessen, was nicht artikuliert wird, versehen, und es kann nur durch den Umstand, dass es aus diesen Spuren besteht, funktionieren. Die Spuren sind aber weder anwesend noch abwesend. Die Bedeutung ent- oder besteht aus der Differenz. Auf die Ebene der Semantik übertragen, zeigt sich, dass Akte der Signifikation immer auf Differenzen beruhen, „Essen“ verweist gleichzeitig auf die mögliche Kategorie „Nicht-Essen“. Der derridasche Kernbegriff der „différance“, den er auch in der zitierten Passage über den dekonstruktivistischen Textbegriff erwähnt, ist ein Neologismus, in dem die Unmöglichkeit der exakten Erfassung einer Bedeutung aufgrund der Differenzen zum Ausdruck gebracht werden soll. Metaphorisch gesprochen klafft zwischen langue und parole, zwischen Struktur und Ereignis ein Abgrund, der nach dem Dafürhalten der Dekonstruktion nicht zu überwinden ist. Die realisierte Laut- oder Buchstabenfolge, gemeinhin „Wort“ genannt, verweist nach de Saussure auf das Systemganze der Sprache.(33) Ist ein Wort unverständlich, schlage ich es im Wörterbuch nach und komme so zu seiner Bedeutung. Im Wörterbuch aber wird ein Wort durch andere Wörter erklärt, die wiederum nachgeschlagen werden müssen, um die Wörter, die das Ausgangswort erklären, zu klären. Das führt zu einem infiniten Regress, der noch dazu praktisch exponentiell anwächst. Will ich ein Wort einer Sprache ganz genau verstehen, muss ich jedes Wort und jede mögliche Verwendungsweise des Wortes in der Grammatik verstehen. Damit nicht genug, lande ich wohl über kurz oder lang in den Verweisungszusammenhängen auf andere oder ältere Sprachen. Um ein Wort einer Sprache zu verstehen, muss ich alle Wörter aller Sprachen in allen Zusammenhängen verstehen. Die Derridasche différance ist auf der Ebene der Sprache(34) etwas, das nicht auf dem alten Oppositionspaar der Anwesenheit und Abwesenheit verstanden werden kann, es ist das systematische Spiel der Differenzen und Spuren der Differenzen, der „Räumlichkeit“ [englisch: spacing, französisch: espacement], durch die die Elemente der Sprache zueinander in Verbindung gebracht werden.(35) So sind die Begriffe „Text“, „Spur“ und „différance“ mit der Dekonstruktion unmittelbar und eng verbunden.

Auf der Basis des Gesagten lassen sich nun einige Aussagen zum Verhältnis des Dekonstruktivismus zur Sprache und zur Literatur machen. Der Dekonstruktivismus postuliert die Unmöglichkeit der eindeutigen Bedeutung, es gibt keine absoluten Instanzen, die über das Gemeinte entscheiden könnten. Obwohl sich die reale Gegenwart als existent erwiesen hat, ist sie als Urgrund der Bedeutung nicht brauchbar. Die Anwesenheit ist nur ein Verweis auf das real Abwesende. Alles verweist auf alles, auf die Gesamtheit. Diese Gesamtheit ist ein Text, vielleicht auch viele Texte. Es gibt in einem literarischen Text nichts Spezifisches, was ihn von einem kommentierenden Text unterscheidbar machen könnte. „Der Poststrukturalist, der Dekonstruktivist erinnert uns (zu Recht) daran“, schreibt George Steiner, „daß es keinen substantiellen Unterschied zwischen dem Primärtext und seiner Kommentierung, zwischen dem Gedicht und seiner Deutung oder kritischen Beurteilung gibt.“(36) Die einzig zulässige Unterscheidung ist die kontingent-temporäre, die frühere oder spätere Abfassung eines Textes, die den Text, der zur Erzeugung eines anderen Anlass gegeben hat, zu einem Prä-Text macht. Die Schriften Rousseaus sind in gleichem Maße Prä-Text für die Schriften Derridas über Rousseau wie diese Schriften wieder Prä-Text für andere Schriften sind. Substantiell lässt sich kein Unterschied festmachen. Gegen solche Behauptungen lehnt sich die Ästhetik des Absoluten auf, sie vertritt die einfache These, es gebe Sinn und dieser Sinn sei auch angemessen erfahrbar.

 

4. Im Zentrum des Sekundären

Ein Beispiel aus der jüngsten Literatur kann verdeutlichen, wie man sich die Bezüge zwischen Kunst und sekundärem Diskurs konkret vorstellen muss.

2006 ist Die Möglichkeit einer Insel, der jüngste Roman des internationalen Bestsellerautors Michel Houellebecq erschienen, in dem die Herrschaft des Sekundären ein bestimmendes Thema ist und der sich über weite Stellen als Paraphrase auf das Problem des sekundären Diskurses lesen lässt, wenngleich er sich darin nicht erschöpft. Der Roman erzählt von einem Mann, einem traurigen Clown, der sich freudlos und berechnend dem sekundären Diskurs ausliefert. Erfolglose Jahre nach der Schauspielschule lassen Daniel immer bissiger und zynischer werden. „[U]nter diesen Umständen ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten und nahm Ausmaße an, die mich selbst überraschten.“(37) Daniel beginnt seine Karriere mit kleinen Sketchen über Patchwork-Familien, über Journalisten und die Armseligkeit der Mittelschicht im Allgemeinen, er mimt den alternden Intellektuellen, der seine Lust an jungen Frauen entdeckt, besonders überzeugend. Die Kritik rühmt ihn als scharfen Beobachter. Obwohl er zynisch und ziemlich primitiv ist, wird er als Humanist bezeichnet, zwar als einer wider Willen, aber dennoch.(38) Ein paar lockere Bemerkungen über den bedrohten Berufsstand der Tabakhändler, eine Anspielung auf an der spanischen Küste angeschwemmte Leichen illegal einwandernder afrikanischer Flüchtlinge tragen ihm dem Ruf eines Linken und Verteidigers der Menschenrechte ein. Dabei ist er weit davon entfernt, links zu sein, und Menschenrechte sind ihm vollkommen gleichgültig.(39) Schnell wird er zum Millionär und die Show Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen ist der Höhepunkt seiner Karriere – vom Standpunkt der Medienwirkung aus betrachtet, wie er schnell hinzufügt. Tatsächlich ist die ganze Show ein Ausbund an Geschmacklosigkeiten, an Grenzüberschreitungen der übelsten Sorte, politisch unkorrekt und menschenverachtend. Daniel erhält Bomben­drohungen, islamische Vereine stellen Strafanträge, die Berichterstattung über sein Schaffen verlässt kurzzeitig das Feuilleton und taucht in der Rubrik „Justiz und Gesellschaft“ wieder auf. Tatsächlich ist er mit der Show ein Risiko eingegangen, aber das Risiko war wohlkalkuliert.(40) Der Hinweis darauf ist entscheidend: Er beginnt die inneren Mechanismen der Gesellschaft und des Kulturbetriebes zu durchschauen und richtet dementsprechend sein Schaffen danach aus. Der springende Punkt ist der: Daniel ist einer, dem außerhalb seines Sexuallebens alles vollkommen egal ist. Er hat kein Interesse an nichts, alles, was ihn verblüffen kann, ist gelegentlich sein eigener Erfolg und besondere sexuelle Zuwendung. Was er tut, tut er nur, weil ihm nichts Besseres einfällt. Darüber hinaus ist seine Diffamierung des Islam berechnet, auch der Zyniker Daniel hat erkannt, dass die westliche Welt konkurrenzlos geworden ist, die islamische Welt hat dem Westen nichts entgegenzusetzen. Obwohl Daniel immer eine Abneigung gegen die Freiheit hatte, wird er durch sein Programm von der Presse kurzzeitig zum Kämpfer für die Meinungsfreiheit.

Seine zweite Frau Isabelle, selbst Chefredakteurin einer eigenartigen Zeitschrift für junge Mädchen namens Lolita, rät ihm zur Anschaffung eines repräsentativen Wagens und so kauft er einen protzigen Bentley, der ihm auch in der Hip Hop Community Respekt verschafft.(41) Zugleich beginnt er seine kurze, aber lukrative Karriere als Filmemacher. Sein erster Film – Gras mir den Gazastreifen ab (mein dicker jüdischer Siedler) – weist neben leichten antiislamistischen Zügen auch, wieder auf Anraten Isabelles, leicht antisemitische Züge auf. Sein Produzent bittet ihn, eine Szene herauszunehmen, wobei implizit ersichtlich wird, dass die Szene nicht aufgrund ihres Zynismus, sondern eher ob ihrer Komplexität gestrichen wird. Es handelt sich um das Gespräch zwischen einem Hamas-Terroristen und einem deutschen Touristen, die sich über den Wert einer Geisel unterhalten. Das Gespräch ist zum einen angelehnt an die Frage Pascals, worauf sich die menschliche Identität gründe, also auf den metaphysischen Wert des Menschen. Demgegenüber steht zum anderen ein ökonomischer Blick auf den Menschen – „grob gesagt in der Richtung von Schumpeter.“(42) Der Wert einer deutschen Geisel, so zeigt es sich im Gespräch, ist in metaphysischer Hinsicht gleich null, immerhin handelt es sich um einen Ungläubigen. Zumindest ist er aber nicht negativ, wie es bei einer jüdischen Geisel der Fall wäre. Ökonomisch hingegen ist die deutsche Geisel, als Angehörige einer finanziell potenten Nation, sehr wertvoll. Nach diesen Vorbemerkungen finden eine Reihe von „Experimenten“ statt, grauenhafte Verstümmelungen, deren Einfluss auf den metaphysischen und ökonomischen Wert der Geisel untersucht werden sollen. Gezogene Fingernägel, gerissene Zähne und abgerissene Hoden – der metaphysische Wert blieb immer Null, der ökonomische immer hoch. „Kurz, die geistige Nähe zu Pascal wurde immer offensichtlicher – und der Anblick der Bilder immer unerträglicher“(43), resümiert Daniel seinen ersten Film teilnahmslos. Nachdem die komplette Fassung des Films bei einem Filmfestival gezeigt worden ist, erhält Daniel eine Fülle von Filmangeboten. Das bietet Anlass zu einer Analyse des Filmgeschäfts in Frankreich. Der einzige Sektor, in dem der europäische, insbesondere der französische Film zumindest seine Kosten wieder einspielen konnte, war zur Zeit Daniels – der Roman hat unterschiedliche Zeitebenen – der der Komödie, ganz gleich ob subtil oder vulgär – beides bot gute Aussichten auf ökonomischen Erfolg. Auf der anderen Seite war die künstlerische Anerkennung wesentlich für die Zuerkennung von staatlichen Subventionen und für die mediale Berichterstattung darüber, hauptsächlich Produktionen vorbehalten,

die das Böse verherrlichten oder zumindest die im herrschenden Sprachgebrauch als traditionell bezeichneten moralischen Werte in kruder Weise in Frage stellten, so daß mit diesen sich kaum von einander unterscheidenden Mini-Pantomimen eine gewisse Form von institutioneller Anarchie unterstützt wurde, was ihrem Reiz in den Augen der Kritiker jedoch keinen Abbruch tat, nicht zuletzt, weil diesen dadurch die Aufgabe erleichtert wurde, ihre eingefahrenen, immer gleichen Kritiken zu schreiben, aber mit dem Gestus, als beträten sie Neuland.(44)

Daniel unterstellt den herrschenden Gepflogenheiten des Kulturbetriebes, dass es geradezu zu einem bestätigenden Ritual geworden ist, der Moral den Hals umzudrehen, ein Ritual, mit dem die herrschenden Werte der Gruppe erneut bestätigt wurden, denn schon seit Jahrzehnten war die Gesellschaft auf Wettbewerb, Innovation und Leistungsfähigkeit getrimmt und nicht so sehr auf Treue und Pflicht. Die von der Wirtschaft geforderte Anpassungsfähigkeit und Flexibilität vertrug sich schon damals – wir befinden uns in der Zeit um die Jahrtausendwende – nicht mit festen Werten, aber dafür umso besser mit einer „ständigen Verherrlichung des Willens und des Ichs.“(45)

Daniels Agent erhebt Einspruch gegen den Wunsch des Clowns, Drehbücher zu schreiben. Zum einen erfordere das Schreiben von Drehbüchern viel Arbeit, zum anderen bleibe selbst der beste Drehbuchautor der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Daher sei diese Betätigung für einen Showman nicht zu empfehlen. Mit dem zweiten Punkt hatte der Manager ganz offensichtlich Recht, was aber den Aufwand anbelangt, so irrte er gewaltig. Daniel ist in der Lage bis zu vierzig Drehbuchseiten am Tag zu schreiben, ein paar idiotische Einfälle, Dialoge, Ideen, auf die die Produzenten und Filmemacher selbst nicht gekommen wären, und schon waren sie begeistert. Dann muss er nur noch bei den Arbeitsbesprechungen erscheinen, alle Vorschläge freudig entgegennehmen und berücksichtigen und schon ist die Sache gelaufen. Er hat noch nie so leicht Geld verdient.(46)

Publikum und Kritiker, Produzenten und Regisseure fressen Daniel aus der Hand. Er gilt als brillanter Humorist, als scharfer Beobachter der Gesellschaft und zugleich als einer ihrer führenden Kritiker. In Wahrheit ist sein Schaffen restlos uninspiriert, ganz gleich, was er tut, er macht es immer aus Kalkül und Berechnung. Sein Erfolg geschieht immer mit voller Rückendeckung der Gesellschaft und niemals gegen sie. Er kann die Wirkung seines Treibens auf Markt und Kritik gleichermaßen berechnen. Seine Shows und Filme sind weder Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, noch Mittel, um irgendwelche Botschaften zu transportieren, sie sind allein dem Mainstream und dem Zeitgeist verpflichtet. Daniel ist äußerlich vollkommen angepasst, alles, was seinem Werk Geltung verschafft, ist die Berücksichtung der Kriterien, wie sie das Publikum und die Kritik hervorbringen. Bis ins Letzte ist sein Werk vom sekundären Diskurs bestimmt, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er die Vorschläge der Produzenten zur Änderung seines Drehbuches freudig entgegen nimmt und alles in ihrem Sinne umschreibt. Was Daniel vielleicht von seinen Kollegen unterscheidet, darüber schweigt sich der Roman jedoch aus, ist der Umstand, dass ihm alles gleichgültig ist. Er hat das Spiel bis ins Detail durchschaut. Die Gleichgültigkeit macht sein Handeln aber unmoralisch, denn Moral bedarf der Voraussetzung, dass irgendetwas Bedeutung hat. Doch in seiner Gegenwart hat nichts mehr Bedeutung.

Daniels letzte große Show trägt den Titel Los Struppi! Auf nach Aden und ist mit dem Untertitel Haß in Reinkultur! versehen. Gleich der erste Sketch handelt vom Nahostkonflikt, die Araber tauft er in „Geschmeiß Allahs“ um, die Juden in „beschnittene Wanzen“, und die libanesischen Christen werden mit dem „ulkigen Spitznamen“ „Marias Filzläuse“ versehen. Es werden also, wie in einer Kritik in Le Point zu lesen ist, alle Religionen „ohne Unterschied in die Pfanne gehauen.“(47) Gezielt arbeitet er in dieser Show weiter an seinem Ruf als rechter Anarchist, und noch nie hat sein Talent nach allgemeiner Ansicht so große Höhen erreicht; er wird sogar mit La Rochefoucauld verglichen. Der Erfolg beim Publikum bleibt vorerst eher gering, bis Bernard Kouchner erklärt, die Show habe ihn angewidert. Bis zum Ende der Spielzeit spielt Daniel dann vor ausverkauften Hallen. Glücklich ist er damit aber nicht, im Gegenteil: Je lustiger ihn die Leute finden, je mehr sie lachen, umso mehr beginnt Daniel sie zu verabscheuen. Ohne ein Röhrchen Xanax genommen zu haben, kann er gegen Ende der Spielzeit gar nicht mehr vor das Publikum treten. Wenn die Leute lachen, muss er sich wegdrehen. Zum ersten Mal erfährt er, was es heißt, ein trauriger Clown zu sein, zum ersten Mal versteht er die Menschheit wirklich. „Ich hatte das Räderwerk der Maschine bloßgelegt und konnte es, wann immer ich wollte, in Bewegung setzen.“(48)

In der Folge zieht sich Daniel fast vollkommen aus der Öffentlichkeit und dem Mediengeschäft zurück. Seine Beziehung mit Isabelle stirbt in dem Moment, in dem der altersbedingte Verfall ihres Körpers einsetzt, in dem Maße, in dem sie den herrschenden Kriterien der Schönheit, die heute dieselben sind wie bei den Nazis, nicht mehr entspricht. Sie entzieht Daniel ihren Körper und damit entzieht sie sich ihm vollständig. Gebrochen zieht sie zu ihrer Mutter, wo sie schließlich Selbstmord begeht.

Daniels Leben wird leerer als es je war. Ein einziges Mal denkt er noch darüber nach, ins Showgeschäft einzusteigen.

Innerhalb weniger Minuten hielt ich mir meine ganze Karriere und insbesondere meine Filmkarriere noch einmal vor Augen. Rassismus, Pädophilie, Kannibalismus, Vatermord, Folterung und barbarische Handlungen: In knapp zehn Jahren hatte ich fast alle zugkräftigen Themen abgehakt.(49)

Als einziges und letztes Thema bleibt ihm die Pornographie, an der sich alle die Zähne ausgebissen haben. Es ist praktisch unmöglich, Pornographie auf ein höheres oder zumindest anderes Niveau zu heben. „Die Versuche, ‚anspruchsvolle Pornographie’ zu produzieren, waren alle an Lächerlichkeit kaum zu überbieten und kommerziell ein totaler Flop.“(50) Nach einer schlaflosen Nacht, in der er einen Pornodreh Revue passieren lässt, dem er einmal beigewohnt und den er eher in unerfreulicher Erinnerung behalten hat, entschließt er sich zu einem Drehbuch, dem er vorerst den Titel Die Swinger der Autobahn gibt. Das Drehbuch versteht es sehr geschickt, die kommerziellen Vorteile von Pornographie und extremer Gewalt zu verbinden. Einige Zeit später hat er innerlich bereits mit dem Projekt abgeschlossen, er ist zu müde, um es noch durchzuziehen.

Allerdings war die Sache inzwischen schon weitergediehen, und ich fand ein knappes Duzend Faxe von europäischen Produzenten vor, die etwas mehr darüber erfahren wollten. Mein Exposé hatte sich auf einen einzigen Satz beschränkt: „Es geht darum, die kommerziellen Vorteile von Pornographie und extremer Gewalt zu verbinden.“ Es war kein wirkliches Exposé, sondern höchstens ein pitch, aber das sei gut, hatte mir mein Agent gesagt, viele junge Regisseure täten das heute, ich war ein moderner Filmemacher, ohne es zu wollen.(51)

Trotz der Angebote macht er den Film nicht mehr, sondern schließt sich einer eigenartigen, materialistischen Sekte an.

Der Aufbau des Romans ist, wie für das Genre des philosophischen Romans typisch, selbst bedeutsam, vor allem im Hinblick auf das Thema des sekundären Diskurses und das Kommentieren. Jener Daniel, von dem bis jetzt immer die Rede war, wird im Roman als Daniel 1 geführt, der Großteil des Buches besteht aus seinem Lebensbericht, aus dem bislang zitiert wurde. Dieser Daniel tritt in die Sekte der Elohemiten ein, die, wie fast alle Religionen, ewiges Leben verspricht. Die Elohemiten treten aber mit dem Versprechen an, diesen Wunsch ohne einen Transzendenzbezug zu verwirklichen, sie sind eine Klon-Sekte, wie jene, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich für Schlagzeilen sorgte. Die anderen Teile des Buches handeln von Daniel 24 und Daniel 25, die aus dem Genmaterial von Daniel 1 geklont wurden. Ansonsten haben sie mit Daniel 1 und dem Menschen, wie wir ihn kennen, aber nichts mehr gemein. Daniel 1 schreibt seinen Lebensbericht, und ein bedeutender Teil des Lebens der zufrieden gezüchteten Klone der Sekte besteht darin, den Lebensbericht ihres Gründungs­vaters zu kommentieren. Über 25 Generationen zieht sich im Falle der Daniels die Tradition des Kommentierens; mit der Menschheit, wie sie zur Zeit Daniels war, hat der Neomensch fast keine Berührungspunkte mehr. Die Menschheit selbst ist nach schrecklichen Katastrophen fast ausgerottet, die Überlebenden sind ihrer Traditionen verlustig gegangen und in einen atavistischen, primitiven und bestialischen Zustand zurückgefallen. Der Neomensch liest die Berichte seiner menschlichen Vorgänger; Gefühle, sexuelles Begehren sind ihm unmittelbar fast nicht mehr zugänglich, schon Daniel 3 hat den Kommentaren zur Folge keine direkte Vorstellung mehr von dem, was Lachen eigentlich ist. Liebe ist – wie eigentlich schon bei Daniel 1 – nur auf einen Hund bezogen gegenwärtig. Daniel 1 hat selbst an der Gestaltung der Religion und des Neo-Menschen mitgewirkt.

Die Geschichte von Daniel 1 ist eigentlich sein Lebensbericht, den er für seine Klone aufgeschrieben hat. Warum diese dann immer weiter kommentieren, ist nicht ganz klar. Es ist aber Bestandteil der Religion und es füllt den größten Teil der Lebenszeit ihrer Mitglieder. Dahinter steht der Gedanke, der alle großen Religionen trägt, die Idee des fortlaufenden Kommentierens, des ständigen Auslegens der Schrift, das Umranken der Wahrheit mit Bedeutung. Geschichtlichkeit als Gegenteil des Naturhaften, Instinktmäßigen ist das einzige, was den Menschen grundlegend vom Tier unterscheidet. Ist Daniel 1 noch Mensch, besteht er also aus beidem, aus Geschichte und Instinkt, so ist der Neo-Mensch nur noch seine Geschichte, alles Animalische ist weggezüchtet.

Die Neo-Menschen im Roman sind Inseln, es gibt nur wenige und die sind nur ganz lose verbunden. Um sie herum ist eine verwüstete Erde, alle Zusammenhänge haben tatsächlich enttäuscht. Daniel 1 empfindet seine Abhängigkeit von anderen als zutiefst belastend, seine für ihn selbst ans Lächerliche grenzende Verwobenheit mit der Gesellschaft und dem sekundären Diskurs scheint ihm so unaufrichtig und falsch, wie ihm der Lauf der Dinge insgesamt als falsch erscheint.

 

Literatur:

 


Anmerkungen

1 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Mit einem Nachw. v. Botho Strauß. München, Wien: Hanser 1990. (=Edition Akzente.) George Steiner: Real Presences. Is There Anything in What We Say? London et al.: Faber and Faber 1991, S. 26.
2 Vgl. Steiner, Real Presences, S. 29f.
3 Karl Kraus: Die Fackel. 1 (1899) S. 1f.
4 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 18. Auflage, Tübingen: Niemeyer 2001, S. 126.
5 Ebda, S. 126f.
6 Ebda, S. 127.
7 Ebda, S. 126.
8 Ebda, S. 168.
9 Gerade in diesen Zusammenhang fällt auch die Dichotomie zwischen dem, was Heidegger „Eigentlichkeit“ und „Uneigentlichkeit“ nennt. Dabei spielt auch der Begriff der Entfremdung eine Rolle, dem Alfred Kolleritsch in seiner Dissertation zu Heidegger 1964 nachgeht. Vgl. Alfred Kolleritsch: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in der Philosophie Martin Heideggers. Philosophiegeschichtlicher Beitrag zum Problem der Entfremdung. Graz: Phil. Diss. [masch.] 1964.
10 Steiner, Von realer Gegenwart, S. 49. Vgl. Steiner, Real Presences, S. 31.
11 Steiner, Real Presences, S. 33.
12 Steiner, Von realer Gegenwart, S. 51. Vgl. Steiner, Real Presences, S. 33.
13 Vgl. Friedericke Mayröcker: Und ich schüttelte einen Liebling. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
14 Steiner, Real Presences, S. 36.
15 Steiner, Von realer Gegenwart, S 57. Vgl. Steiner, Real Presences, S. 37.
16 Steiner, Real Presences, S. 69.
17 Steiner, Von realer Gegenwart, S. 97f.
18 Vgl. Steiner, Real Presences, S. 72.
19 Vgl. ebda.
20 Ebda, S. 37f.
21 Steiner, Von realer Gegenwart, S. 58.
22 Christoph Leitgeb: Distanzierter Alltag, komplex. Gespräch mit Franz Schuh. In: Der Standard vom 3. 4. 2006, S. 29.
23 David Martyn: Dekonstruktion. In: H[elmut], J[örn] Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. (=rowohlts enzyklopädie. 55523.) S. 664.
24 Vgl. Peter Engelmann: Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie. In: Ders. (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1990. (=Universalbibliothek. 8668.) S. 18.
25 Iris Murdoch: Metaphysics as a Guide to Morals. London: Vintage 2003, S. 190.
26 George Steiner: Von realer Gegenwart. In: Ders.: Im Garten des Archimedes. Essays. München, Wien: Hanser 1997 (=Edition Akzente.) S. 56.
Der hier zitierte Aufsatz ist ein Vortrag, den Steiner 1985 an der Universität Cambridge im Rahmen der „Leslie Stephen Memorial Lecture“ gehalten hat, der aber erst 1996 in der Aufsatzsammlung „Im Garten des Archimedes“ ins Deutsche übersetzt wurde. Aufgrund der Titelgleichheit wird dieser Aufsatz hier im Folgenden so zitiert: Steiner, Von realer Gegenwart (1996) S. X.
27 Steiner, Von realer Gegenwart (1996) S. 51.
28 Murdoch, Metaphysics as a guide to morals, S. 189.
29 Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1990. (=Universalbibliothek. 8668.), S. 20f.
30 Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. London: Routledge and Kegan Paul 1987, S. 94.
31 Culler, On Deconstruction, S. 94.
32 Vgl. ebda, S. 95 f.
33 Vgl. ebda, S. 96 f.
34 Die différance betrifft jede Form der Texte, also alles, wie Derrida in seinem Aufsatz „Die différance“ versucht deutlich zu machen. Hier wird vorrangig auf die sprachphilosophische Komponente verwiesen. Vgl. Jacques Derrida: Die différance. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1990. (=Universalbibliothek. 8668.) S. 76-113.
35 Derrida, zitiert nach Culler. Vgl. Culler, On Deconstruction, S. 96.
36 Steiner, Von realer Gegenwart (1996) S. 49.
37 Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel. 2. Aufl. Köln: Du Mont 2005, S. 16.
38 Vgl. ebda, S. 18.
39 Vgl. ebda, S. 19.
40 Vgl. ebda, S. 39.
41 Vgl. ebda, S. 40.
42 Ebda, S. 42.
43 Ebda.
44 Ebda, S. 43.
45 Ebda, S. 44.
46 Vgl. ebda, S. 44f.
47 Ebda, S. 50.
48 Ebda, S. 52.
49 Ebda, S. 140f.
50 Ebda, S. 141.
51 Ebda, S. 154f.

8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht

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TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Christopher Ebner: George Steiner und der sekundäre Diskurs in der Moderne - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-9/8-9_ebner17.htm

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