TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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Zur Soziolinguistik des Niederländischen

Gert Loosen (Universität Debrecen) [BIO]

Email: gertloosen@gmail.com

 

Wenn man als flämischer Niederländischlehrer nicht in dem eigenen Dialektgebiet unterrichtet, wird man konfrontiert mit dem linguistischen Kaleidoskopen der winzigen Region, damals bekannt als ein Ort, wo unterschiedliche Landschaften eingefärbt wurden durch eine einzelartige und hohe Konzentration historischer Städte. Jede einzelne von denen hatte auch dialektisch gesehen einen anderen Ton als jede andere. Heutzutage könnte man aber Flandern als eine einzige zusammengewachsene Stadt betrachten(1) – und u.a. das hat auch dem geographisch-linguistischen Aspekt, der Sprachlandschaft eine andere Aussicht gegeben.

Anlass zu diesem Vortrag ist ein Artikel aus De Standaard(2), einer der drei Qualitätszeitungen Flanderns. Er berichtet über

Gestatten Sie mir, diese drei zu erläutern, um Ihnen dann das Grundproblem beim Anfassen meiner Doktorarbeit darzustellen.

In der flämischen Dialektlandschaft zeigen sich drei Regionen ab, die nicht zufälligerweise zusammenfallen mit historisch-politischen Entitäten:

Letztere ist politisch-wirtschaftlich nicht so wichtig als die anderen und auch in unserer heutigen Geschichte nicht so interessant. In den beiden anderen situieren sich die vier wichtigsten Städte Flanderns (Brüssel, Antwerpen, Gent, Brugge), jede mit einer unterschiedlichen und ganz spezifischen (dialektologischen) Geschichte.

 

In Antwerpen und West-Flandern stellt sich heraus, dass in vielen Bereichen, wo traditionellerweise eine überregionale Standardsprache gefordert war (und m.E. auch wäre). Es wurde nachgewiesen, dass man sich in West-Flandern der Tatsache, dass die eigene Umgangssprache auch in formelleren Situationen, dialektisch geprägt ist – nicht aber so in Antwerpen, wo man die niederländische Standardsprache zu reden denkt, sich aber mit ausgeprägtem antwerpischem Akzent äußert.

Dialekt an sich findet der große flämische Dialektologe Prof. Dr. Taeldeman überhaupt kein Problem. Die Zweisprachigkeit Dialekt/Standardsprache habe ihre Pragmatik: es gibt Bereiche, wo Dialekt angemessen ist, es gibt Situationen, die wirklich Standardsprache brauchen.

Schauen wir uns die vertikale Dreischichtigkeit an, von der schon die Rede war. Zwei Schichten sind schon erwähnt worden: Dialekt und Standardsprache.

Volkslieder in lokalen Varianten des Niederländischen wurden schon, oder lieber erst am Ende des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet, in einer spätromantischen Bemühung zu konservieren, was von der modernen Gesellschaft bedroht wurde. Die Dialekten an sich hat man in der akademischen Welt erst spät zu untersuchen angefangen. Die Standardsprache hieß auch lange Zeit „ABN“ – Algemeen Beschaafd (d.h. zivilisiert) Nederlands – wer sie nicht beherrschte, wurde als nicht zivilisiert betrachtet.

Die Geschichte der Standardisierung des Niederländischen und die des Standardniederländischen in Flandern ist eine lange und komplizierte. Einen zum Verstehen wichtigen Abschnitt deren fasse ich aber kurz zusammen(3).

Die für den romantischen Schriftsteller Hendrik Conscience aufgerichtete Statue in Antwerpen führt die Aufschrift: „Er lehrte sein Volk lesen.“ Das machte er u.a. mit dem flemisch-nationalen historischen Roman „Der Löwe von Flandern“. Aber warum konnte es nicht lesen?

Nach Waterloo 1815 waren die Niederlanden wieder eins, wie im 15. Jahrhundert. Anderthalb Jahrzehnt dauerte es, und dann gab es eine konservative Revolution, und trennte sich der katholische Süden von dem Norden. Belgien wurde erfunden.

Der junge Staat führte ein liberales und progressives Grundgesetz mit viel Sprachfreiheit. In der Realität bedeutete es, dass die oberen sozialen Schichten überall französisch reden durften. Eine kleine intellektuelle Elite hatte in der holländischen Zeit (1815-1830) in dem Norden studiert und versuchte im Laufe des 19. Jahrhunderts den frankophonen Machthabern nachzuweisen, das Niederländische sei eine alte, reiche, ehrenwürdige Kultursprache, und nicht nur das Patois, ein Mischmasch von Dialekten, wie es oft geschimpft wurde. Diese Intellektuellen waren Anstifter der „Flämischen Bewegung“, die ursprünglich sprachkulturell beschäftigt war, später aber kam auch eine wirtschaftliche und politische Komponente hinzu. Die ersten Erfolge der Emanzipierung kamen nach dem Ersten Weltkrieg. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte die langsame Dezentralisierung des belgischen Staates, deren nächsten Schritt nur von Flamen sehr erwünscht wird und zum heutigen politischen Coma führt in Belgien: fast 200 Tage haben wir keine Regierung.

Lesende haben wir also unsere Sprache im „armen Flandern“ des 19. Jahrhunderts(4) neu lernen müssen. Gehört haben wir sie wieder, als in den 30er Jahren das Radio strahlte und die Bartl des öffentlichen Rundfunks den Most in den Niederlanden fanden. Diese Aussprache des Niederländischen galt in Flandern lange Zeit als der Standard überhaupt und hat sich seitdem im Süden (d.h. in der heutigen Flämischen Region) nicht geändert. In Gegensatz zu dem, was in den Niederlanden geschah, wo der harte, diphthongierende und reduzierende Dialekt der Randstad Holland sich durchgesetzt hat und dazu führte, das <grote teen> (= großer Zeh) [ɣrotə te.n] sich anhört wie [Xo.wtə te.jn]. Sie verstehen den linguistischen Frust in Flandern: da hatten wir endlich mal unsere tiutscher zunge wiedergefunden, transformieren die im Norden sie im Laufe einiger Jahrzehnten. Der sprachliche Kontakt aber ist noch lange Zeit geblieben: das stocklangweilige öffentliche Fernsehen trieb die flämischen Zuschauer vor niederländische Kanäle. Als in den 80ern dann das erste kommerzielle Fernsehen den Gehirn zu betäuben anfing und Seifenoper jene hilflose, zerstückelte Sprache als akzeptable Umgangssprache statt das Niederländische präsentierten, erreichte die „Bewegung weg vom Niederländischen“ eine sehr hohe Geschwindigkeit. So schlimm ist es, dass in Flandern, wo das Gesetz das Niederländische als offizielle Sprache nimmt seit 1973 (so ein Gesetz gibt es übrigens noch immer nicht in den Niederlanden), die niederländischen Fernsehserien untertitelt werden und umgekehrt…

Selbstverständlich wäre Dialekt in diesen Serien nicht geeignet: couleur locale und Zuschauerquoten sind keine Reimwörter. Die gepflegte Standardsprache würde andererseits als zu „elitär“ betrachtet – und das sei in der heutigen demokratischen Gesellschaft ein Schimpfwort.

Also… etwas dazwischen bräuchte man, eine Zwischensprache. Verkavelingsvlaams wurde sie getauft(5) (das Parzellierungsflämische), denn wer sich ein Grundstück kauft und ein Haus baut, müsste sich mit dem Nachbarn, der aus einem anderen Dorf kommt und ein anderes Dialekt spricht, unterhalten können. Diese Zwischensprache greift um sich her, horizontal und vertikal, geographisch und funktionell.

Horizontal-geographisch, weil früher die Standardsprache in Flandern sich an der in den Niederlanden orientiert hat, und als zweiten Orientierungspunkt hatte sie das wirtschaftliche, politische, kulturelle Zentrum Flanderns, die Achse Antwerpen-Brüssel. Wenn aber - aus Frust und von sich eingenommen sein - Flandern sich für die eigene (offizielle) Sprache nicht mehr auf das Niederländische aus den Niederlanden basiert und das Bedürfnis an einer Standardsprache bei Politikern, Schauspielern, Moderatoren, zu schwanken scheint, bleibt nur… was Sie schon ahnen konnten: die auf die Umgangssprache im antwerpischen Bereich  basierte Zwischensprache übrig.

(Dass die heutige Umgangssprache, die Sprache der jungen Politiker, der Seifenoper und heimischer Serien, der Medienfiguren, der Moderatoren usw. ihre Wurzeln findet in der antwerpischen Region, erklärt vielleicht schon teilweise, warum die Antwerper der Meinung sind, sie sprächen Niederländisch).

Zu gleicher Zeit überwacht Ruud Hendrickx, der Sprachratgeber des öffentlichen Rundfunks, die Standardaussprache des Niederländischen – damit alle Flamen verstehen, was gestrahlt wird, sei es dann von einer linguistischen Insel aus.

Das heißt also: Wir haben zwei historisch gewachsene dialektische Burgen gefunden: West-Flandern und Antwerpen.

Wie gezeigt wurde, ließ sich die Dreischichtigkeit von Standardsprache, Zwischensprache und Dialekt feststellen. Wir fanden keine eindeutige Norm für das Niederländische in Flandern, obwohl das Niederländische als einzige offizielle Sprache im Gesetz erwähnt wird (für die Flämische Region, selbstverständlich; das Französische in der zweisprachigen Brüsseler Region und im Osten Walloniens das Deutsche gelten als die zwei anderen offiziellen Sprachen Belgiens).

Das große Wörterbuch (Van Dale Groot Woordenboek der Nederlandse Taal) und die ANS (Alegmeen Nederlandse Spraakkunst) funktionieren deskriptiv und überlassen dem Sprachgebraucher die Wahl.

In dieser Landschaft versucht sich ein Niederländischlehrer, wenn nicht den dann doch wenigstens einen guten Weg zu finden, auch weil der Bildungsminister die Lehrerausbildungen beauftragt hat, der Beherrschung des Niederländischen erneute, sorgsame und intensive Aufmerksamkeit zu widmen.

Welche Haltung nimmt ein Sprachlehrer und Linguist ein, der, indem er seine Sprache studiert hat, sie und ihre Problematik und Geschichte kennt und unterrichtet und dadurch auch leicht konservierend, konservativ wirkt. Was gemacht, wenn er dann auch mit der Soziolinguistik auseinanderzusetzen versucht und dies alles mit akademischer Distanz betrachten soll?

„Prostituiert“ sich die Soziolinguistik, wenn sie den akademischen Bereich verlässt (oder nur ergänzt?), indem sie sich der Suche nach Lösungen für Probleme aus der Praxis widmet, oder soll sie eine „kalte Liebhaberin“ bleiben, die nur ihr Objekt studiert und sich aber weigert, auf welche Art und Weise auch, sich einzumischen?

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen

1 Kesteloot, Christian: Verstedelijking in Vlaanderen: problemen, uitdagingen en kansen voor de 21e eeuw, Instituut voor Sociale en Economische Geografie, KULeuven, http://www.thuisindestad.be/html/witboek/downloads/Kesteloot.pdf (heruntergelanden am 2. Mai 2008)
2 Der Artikel gehört der großen Untersuchung von De Standaard über die flämischen Schulen: (“Dossier Scholenrapport”). “Ik ga achter brood.” In: De Standaard, Mittwoch 31 Januar 2007, http://www.standaard.be/Artikel/Detail.aspx?artikelId=GQG17LFJJ&kanaalid=319 (heruntergeladen am 10. Oktober 2007).
3 Mehr darüber liest man in der Digitale Bibliotheek voor de Nederlandse Letteren: 
Geerts, Guido: De taalsociologische en sociolinguïstische aspecten. Auf: http://www.dbnl.org/tekst/toor004gesc01_01/toor004gesc01_01_0031.htm (heruntergeladen am 10. Oktober 2007)
4 So wurde die Region genannt, weil die veraltete Agrikultur nicht den selben Wohlstand auflieferte wie die Schwerindustrie Walloniens. Von einer Solidarität zwischen den Regionen war damals auch nicht die Rede.
5 Von Geert Van Istendael in seinem Buch Het Belgische labyrint. Over de schoonheid der wanstaltigheid. Amsterdam, 1993.

8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht

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For quotation purposes:
Gert Loosen: Zur Soziolinguistik des Niederländischen - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-9/8-9_loosen17.htm

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