Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1. Nr. September 1997

Das Forschungszentrum für die Sprachen und Kulturen Europas an der Ege Universität Izmir

Gertrude Durusoy (Izmir)
[BIO]

 

Im Rahmen unserer Sektion wollen wir uns mit der Wissenschaftsorganisation der Sprach- und Literaturwissenschaften in Europa auseinandersetzen. Das bedeutet nicht, daß hier eine Aufzählung von Institutionen in ganz Europa erfolgen wird; wir wollen viel mehr an konkreten Fällen hören, welche Einrichtungen in den hier vertretenen Ländern vorhanden sind und inwiefern man von einem europäischen gemeinsamen Nenner sprechen kann.

Wie Sie es dem Titel meines Beitrags entnommen haben, lehre ich in Izmir an der Ege Universität. Das bedeutet, daß ich erst einen kurzen Überblick über die Struktur der sprach- und literaturwissenschaftlichen Einrichtungen in der Türkei geben und anschliessend unsere neueste Organisation, das Forschungszentrum für die Sprachen und Kulturen Europas, vorstellen möchte (http://bornova.ege.edu.tr/~adikam).

Als 1933 die Universität Istanbul als Ersatz der ottomanischen Darülfünun neu gegründet wurde, eröffnete man neben der medizinischen, juristischen, naturwissenschaftlichen Fakultät auch eine philosophische Fakultät, wo sowohl Altphilologien wie auch Philologien der westlichen Sprachen entstanden.

Da Ankara zur Hauptstadt geworden war, hat Mustafa Kemal Atatürk zwei Jahre darauf eine Fakultät für "Sprachen, Geschichte und Erdkunde " errichten lassen, die erst dem Unterrichtsministerium unterstand und 1946 der Universität Ankara eingegliedert wurde. Seit ihrer Gründung bestehen auf dem Gebiet folgende Fachbereiche: Türkische Sprache und Literatur (mit Alt- und Neutürkisch, aber nicht Orientalistik im herkömmlichen Sinne), Alte Sprachen und Kulturen Kleinasiens (darunter hauptsächlich Sumerologie und Hethitologie), Urdu und Forschungen zum Pakistan, Klassische Orientalistik (mit dem Schwerpunkt Arabisch und Persisch), Hindologie, Hungarologie, Russische Philologie, Klassische Philologie (Altgriechisch und Latein), Germanistik, Romanistik (mit dem Schwerpunkt Französisch und Italienisch). Später kamen Anglistik und Sinologie hinzu. Heutzutage werden an dieser Fakultät zusätzlich vierzehn westliche Sprachen sowie Japanisch in Form von Sprach- und Literaturwissenschaft gelehrt.. Keine andere Universität im Lande bietet diese Vielfalt. Ich wollte diese Besonderheit deshalb erwähnen, weil diese Leistung auf dem Gebiet der Erschliessung der Sprache und Kultur eines anderen Landes im Ausland vielleicht kaum wahrgenommen wird.

Wie an den anderen türkischen Universitäten sind auch an der Ege Universität die philologischen Abteilungen nach dem traditionellem europäischen Muster gegründet worden, d.h. daß Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft unter demselben Dach gelehrt werden, so daß keine reinen Linguisten noch reinen Literaturwissenschaftler ausgebildet werden. Anglistik, Germanistik und Slavistik (nur Russisch) verfügen noch über ein traditionelles Aufbauschema. Dabei soll bemerkt werden, daß die Slavistik mit Russisch noch im Aufbau ist und dadurch noch keine Studenten aufnimmt. Der Fachbereich Amerikanistik aber hat sich von dieser Struktur im ganzen Lande distanziert und sich den sog. American Studies des Auslandes angepasst. Deshalb nennt er sich "Amerikanische Literatur und Kultur". Es besteht ausserdem innerhalb der Germanistik die Intention, bei erster Gelegenheit ein Programm zur Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern ins Leben zu rufen.

 

Nach diesem kurzen Überblick möchte ich noch die Organisation der Sprach- und Literaturwissenschaft in Forschung und Lehre am Beispiel der Germanistik an der Ege Universität und zwar anhand des Studienganges in seiner Struktur und mit seinen Veranstaltungen besprechen.

Ob für Amerikanistik oder Germanistik muss der Student, wenn er sich immatrikulieren lässt, seine Kompetenz in der jeweiligen Sprache durch eine Prüfung nachweisen. Sollte sein Niveau nicht ausreichen, so bekommt er zwei Semester lang einen Intensivkurs in der jeweiligen Sprache und danach erstreckt sich das Curriculum auf acht Semester für den Licence-Abschluss, der mit einem innerhalb sechs Semester parallel erworbenen Zertifikat für Pädagogik den Unterrricht in Mittelschulen bzw.Gymmnasien ermöglicht.

In der Germanistik an der Ege Universität Izmir werden die Fächer durchschnittlich auf achtzehn bis zwanzig Wochenstunden pro Semester aufgeteilt ; ich möchte hier einige Veranstaltungen nur nennen, um einen raschen Überblick zu geben: Kontrastive Grammatik, Ausgewählte Texte, Aufsatz, Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, Übersetzung von und ins Deutsche, Einführung in die Kulturwissenschaft, Einführung in die deutsche Literaturgeschichte, Mythologie, Motive der deutschen Literatur, Deutsche Kulturgeschichte, Literarische Texte, Literaturgeschichte, Kulturwissenschaft, Methoden der Interpretation literarischer Texte, Übersetzung aus dem Türkischen, Übersetzung aus dem Deutschen, Einführung in die Sprachwissenschaft, Deutsches Drama, Österreichische Literatur, Linguistik, Didaktik der deutschen Sprache, Geschichte der deutschen Sprache, Literaturseminar, Übersetzungswissenschaft, Angewandte Linguistik, Literatur aus der deutschsprachigen Schweiz, Texte aus dem Mittelhochdeutschen, Deutsche Autoren des 20.Jahrhunderts. Wie ersichtlich liegt in unserem Curriculum der Schwerpunkt in der Literaturwissenschaft. Das hängt hauptsächllich damit zusammen, daß die meisten Kollegen Literaturwisseschaftler sind, deshalb wird unser jetziger Nachwuchs in Sprachwissenschaft promovieren.

Um einen Magisterabschluss zu bekommen, muss der Student wiederum eine Aufnahmeprüfung bestehen, zwei Semester lang Seminare belegen und in weiteren zwei Semestern eine Diplomarbeit verfassen. Die Themen behandeln entweder Themen der Sprachwissenschaft oder der Literaturwissenschaft. Bei der Auslandsgermanistik werden kontrastive Arbeiten immer zahlreicher. Für die Promotion werden nach einer Aufnahmeprüfung zwei Semester lang Seminare angeboten und anschliessend schreibt der Student sieben bis neun Semester an seiner Dissertation. Auch hier gehört die Arbeit entweder der Sprachwissenschaft oder der Literaturwissenschaft an. Allgemeine Sprachwissenschaft und Englische Linguistik verfügen über einen selbstständigen Status, dies ist aber z.Zt. noch für keine andere Linguistik der Fall.

Während der Hochschulausbildung ist ein Praktikum im Ausland nicht vorgesehen, weil die Durchführbarkeit viele Probleme mit sich bringt. Hier vermisst man den Anschluss an die Programme der EU, die sowohl sprachlich wie auch beruflich einen engen Kontakt unter der studierenden Generation ermöglichen.

Eine Besonderheit der Philologien, die nicht als Gegenstand die Muttersprache noch die Literatur in dieser Sprache haben, liegt in den Übersetzungsveranstaltungen aus und in die Fremdsprache. Dort wo die Übersestzung als Fach für sich gelehrt werden sollte, wird sie sehr oft im Dienste der jeweiligen Sprach- oder Literaturwissenschaft betrieben. Manchmal dient sie sogar als Mittel zur Kontrolle des Verständnisses in der Fremdsprache. Diese veralteten Verfahren sollten allmählich aus den Curricula verschwinden.

Was hat uns dazu bewegt, an der Ege Universität ein Forschungszentrum für die Sprachen und Kulturen Europas, das einzig vorhandene in der Türkei, zu gründen? Einerseits die Globalisierung der Weltverhältnisse und andererseits die damit weiterhin verbundene Spezifizität einer jeden Kultur. Die Interdisziplinarität der Kulturwissenschaft verlangte einen breiteren Rahmen als der vorhandene abgegrenzte eines Fachbereichs.Von der Türkei aus gesehen, besteht die Tendenz Europa als Westeuropa zu betrachten und deshalb hat sich in der Sprache der Begriff "westliche Kultir" (im Singular) durchgesetzt. Die Vielfalt der Kulturerscheinungen wurde nicht immer wahrgenommen, so daß in der Geschichte alles westliche "frenk" benannt wurde. Dieser Bezug auf das Französische beruht auf der Verwendung dieser Sprache in der Diplomatie, die die Kontakte zwischen der Hohen Pforte und den verschiedenen europäischen Staaten damals herstellte. Istanbul gehört trotz aller orientalischen Vorstellungen des ehemaligen Hofes geographisch zu Europa und wir in Izmir leben in Kleinasien. Die Forschungen, die wir planen, sollen zuerst auf Türkisch erscheinen, damit sie im Lande verbreitet werden und je nach bearbeitetem Themenkreis in den Sprachen Europas, wobei Englisch und Spanisch zu den Weltsprachen zählen.

Izmir, seit der Antike ein wichtiger Hafen, heute eine Stadt von 3 Millionen Einwohnern, hat seit eh und je in der Geschichte Zugang zu den verschiedensten Kulturen Europas und der Levante gehabt und ist von diesem kosmopolitischen Charakter heute noch geprägt. Dadurch wollte unsere Universität diesen pragmatischen Vorteil nutzen, um eine Öffnung auf das umstrukturierte Europa auf wissenschaftlicher Ebene zu etablieren. Die seit 1989/90 eingetretenen neuen Verhältnisse in Europa haben es uns bewusst werden lassen, daß neben den traditionellen Beziehungen zu Westeuropa und zum Balkan ein grosses und hiezulande wenig bekanntes kulturelles Gebiet zu erschliessen ist: die slawische Welt Mittel- und Osteuropas sowie das Baltikum.

In der Türkei herrscht ungefähr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Vorliebe für die englische Sprache und den american way of life .Dies bringt mit sich die Behauptung, daß man ausserhalb der Staatsgrenzen nur mit Englisch gut auskommen kann. In jeder grösseren Stadt gibt es Gymnasien, wo nach einem Jahr Intensiv-Englisch diese Sprache zur Unterrichtssprache bis zum Abitur wird. Da die Nachfrage nach diesen Schulen sehr hoch ist, wird eine zentrale Aufnahmeprüfung auf Landesebene durchgeführt, damit nur die besten Schüler aufgenommen werden. Solche Schulen mit einer Fremdsprache als Unterrichtssprache sind sowohl staatlich wie auch privat eingerichtet und neben Englisch gibt es auch Französisch, Deutsch und Italienisch als Unterrichtssprachen. Selbstverständlich bietet in der heutigen Konjunktur diese Form von Ausbildung einen grossen Vorteil für den Einstieg in die Fachsprache der beruflichen Ausbildung und für die kulturelle Anpassungsfähigkeit der jungen Generation.

Die Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union selbst und in Europa überhaupt führte uns dazu, einen Weg zu suchen, der das gegenseitige Verständnis einerseits auf sprachlicher Ebene andererseits auf kultureller Ebene fördern würde. Dafür brauchten wir auf Hochschulniveau eine Struktur, die anpassungsfähiger ist als die jeweiligen akademischen Curricula, die aber mit akademischen Verfahren diesem Ziel dienen würde. Deshalb ein Forschungszentrum, dessen Gegenstand die Sprachen und die Kulturen Europas sind. Unsere Institution ist bereit, mit ähnlichen Einrichtungen im Ausland Kontakt aufzunehmen und eventuell an gemeinsamen Projekten zu arbeiten.

Die Rolle der Übersetzung in einem mehrsprachigen Europa nimmt von Tag zu Tag zu. Auf diesem Gebiet besonders gibt es gute Möglichkeiten, durch literarische Übersetzungen Vermittler zwischen zwei Kulturen zu sein .Andererseits ist dieses Feld auch dafür geeignet, Austauschmöglichkeiten sowohl in der Lehre bzw. Ausbildung wie auch in der Praxis und in der Forschung wahrzunehmen. Ein damit verbundenes Arbeitsgebiet wäre z.B. die Lexikographie. Denn eine Umstellung bzw. ein Umdenken in Richtung Kulturemen scheint besonders aktuell und dringend zu sein. Nun muss das Wort im kulturellen Kontext übersetzt werden und nicht nur das Wort mit seinem semantischen Gehalt. Diese neue Perspektive fordert eine Gruppenarbeit, wenn möglich auf internationaler Ebene, damit ein Text bzw. ein Diskurs in seinem vollen Gehalt in die andere Sprache übertragen werden kann. Die Arbeit an Begriffen und Redewendungen ist nur ein Aspekt dieses Forschungszweigs.

Nicht nur die Kultur als solche sondern das Interkulturelle bildet in unserer Zeit immer häufiger den Schwerpunkt vieler Forschungen in den Kulturwissenschaften, da die Interaktion kultureller Ereignisse durch eine rege Kommunikation schneller geschieht.. Man muss nachforschen, ob die eigene Identität dadurch beeinträchtigt wird oder nicht oder ob es in der Persönlichkeit zu einem Kulturkonflikt kommen könnte. In diesem Zusammenhang bildet die Lage der vielen Türken in Deutschland. Österreich oder Frankreich ein ergiebiges Material was Kulturberührungen angeht. Sowohl Soziologen wie auch Psychologen sind auch an dieser Frage der kulturellen Wechselbeziehungen interessiert. In Zukunft wird dieses Thema zu einem interdisziplinärem Projekt erweitert werden

Ein wichtiger Aspekt der Wirkung des Zentrums liegt darin, die Region und die Öffentlichkeit auf gewisse Schwerpunkte aufmerksam zu machen. Durch öffentliche Round Table Konferenzen sollen auch nicht akademische Kreise z.B. auf ein in diesem Jahr bei uns sehr aktuelles Thema wie jenes der Mehrschprachigkeit Europas und die Wahl der Fremdsprachen im Schulalter aufmerksam gemacht werden. Für die Region ist auch das Umgehen mit einer Sprache und einer Kultur Europas im konkreten beruflichen Leben bzw. bei der Einrichtung von Homepages in einer Fremdsprache wichtig; d.h. daß unser Forschungszentrum, falls befragt, angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft bei der Lokalisation leisten kann. Die heutige Übersetzung ist, wie schon oben erwähnt, nicht nur Übersetzung, sie ist eine Projektion in die Kultur der Zielsprache und hat dabei mehr Chancen, eine fruchtbare Wirkung auszuüben.

Unser Forschungszentrum legt ausserdem einen grossen Wert auf internationale Kommunikation und internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sprach- und Kulturwissenschaften. Noch intensiver wollen wir die Möglichkeiten des Internet wahrnehmen, um mit ähnlichen Institutionen auf der Welt Kontakt aufzunehmen. Das Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse mit Sitz in Wien zählt zu denjenigen, mit denen wir schon bei der Gründungsphase einen Kontakt hergestellt haben.. Der Conseil Européen pour les Langues mit Sitz in Berlin verfügt über zehn fest organisierte Arbeitsgruppen, deren Mitglieder aus Hochschulen der Europäischen Union stammen. Die Universität Montréal verfügt über gut strukturierte Forschungszentren , die besonders in das Forschungsfeld der Francophonie eingegliedert sind. Die Universität Iowa mit ihrem Translation Laboratory hat uns auch inspiriert und es ist nicht ausgeschlossen, daß im Laufe der Zeit eine Richtung in unserem Zentrum sich sowohl der Erforschung der Übersetzungsprozesse wie auch jeder Art von Übersetzung konkret widmet.

Offiziell wurde an der Ege Universität Izmir das Forschungszentrum für die Sprachen und Kulturen Europas im April diesen Jahres gegründet. Der Direktor wird vom Rektor ernannt und auf seinen Vorschlag die vier anderen Mitglieder des Verwaltungsauaachusses. Die Planung und Aufstellung der Regelungen gehen auf 1996 zurück. Da wir noch eine ganz neue Institution sind, kann ich hier noch keine abgeschlossenen Projekte noch Publikationen konkret zeigen, dafür aber einige Aspekte unseres Vorhabens auf dem Gebiet der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften darstellen.

Die Struktur eines Forschungszentrums an türkischen Universitäten ist einheitlich, d.h. daß neben der Forschung innerhalb der Institution auch der Bezug zur akademischen und nicht akademischen Umwelt konkret existieren muss. Auf unserem Gebiet ergibt sich dadurch die Möglichkeit, spezifische Kurse in Sprachen zu bieten, die als "Philologien" an unserer Fakultät nicht vorhanden sind, so z.B. Italienisch, Neugriechisch oder Russisch für Geschäftsleute.

Wie schon oben erwähnt, ist die Erschliessung der Kulturen slawischen Ursprungs ein sehr neues Gebiet in der Türkei und besonders in Izmir. Durch die geopolitische Lage des Landes hat die russische Sprache seit der Öffnung der Grenzen mit der ehemaligen Sowjetunion eine neue Bedeutung bekommen. Dort wo füher nur eine einzige Möglichkeit bestand, russische Sprach- und Literaturwissenschaft zu studieren - und zwar an der Universität Ankara - bieten nun die Hochschulen in Istanbul, Erzurum, Konya und Kayseri dieses Fach an. Die Ege Universität in Izmir hat auch einen Fachbereich Russische Sprache und Literatur, der im Aufbau steht.

Viele Republiken der ehemaligen Sowjetunion verfügen über eine Bevölkerung, die Sprachen spricht, die dem Türkischen so verwandt sind wie Deutsch und Niederländisch oder wie Spanisch und Französisch. Dies führt dazu, daß der früher unmögliche Kontakt zwischen den Völkern Zentralasiens heutzutage kulturell und wirtschaftlich sehr rege ist. Obwohl die Sprachen verwandt sind, bleibt das Russische die lingua franca dieser neuen Nationen untereinander. Die Lage der Türkei verlangt einfach, daß man sich mit dem Russischen auseinandersetzt. Unser Forschungszentrum möchte in diesem Falle neben kontrastiven Forschungen zur russischen Sprache sogar Kurse für gezielte Lernergruppen anbieten, weil der Bedarf so gross ist.

Viele Türken aus Bulgarien haben 1989 ihr Land verlassen und obwohl ein Teil nun zurückgekehrt ist, leben noch viele hauptsächlich im Westen der Türkei. Dieses Sprachpotential bildet genauso wie die Rückkehrer aus Westeuropa (Deutschland, Holland, Schweden, Belgien, Frankreich und Österreich ) eine günstige Grundlage für die Verständigung in Europa und die Wirtschaft des Landes. Da die Kinder der Rückkehrer meistens an der Universität studieren, versuchen viele, die Sprache und die Literatur des Landes, in dem sie als Kind aufgewachsen sind oder sogar geboren sind, wiederaufzunehmen. Diese Gruppe bringt eine neue Dynamik hauptsächlich in die Germanistik und Romanistik des Landes, denn dadurch daß die sprachliche Voraussetzung bestens vorhanden ist, kann vielmehr Wert auf Primärliteratur und literarische Aufsätze gelegt werden. Die Kenntnis der Kultur des Landes, dessen Literatur sie studieren, motiviert die Studenten und ermöglicht eine bessere Interpretation der Texte in der fremden Sprache .Auch eine affektive Färbung ist zu erkennen, indem einige Studierende mit Sehnsucht zeitgenössische literarische Texte durchnehmen.

Wir streben als Forschungszentrum auch einen engeren Anschluss an die Partnerstädte von Izmir an, insofern sie über Hochschulen verfügen. Innerhalb Europa sind es Odense (Dänemark), Bremen und Düsseldorf (Bundesrepublik Deutschland), Milano (Italien), Milton Keynes (Grossbritanien), Mostar (Bosnien), Vlora (Albanien) Constanta (Rumänien) und Plzen (Tschechische Republik). Denn die Partnerschaft ermöglicht häufigere Kontaktmöglichkeiten und erleichtert den Zugang zu Forschungsmaterialien. In dieser Hinsicht sollen demnächt Kontakte zur Universität Odense und Düsseldorf gefördert werden und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit untersucht werden. In Odense laufen in dem Fachbereich Sprachen und Kommunikation Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation. Kollegen der Anglistik organisieren an unserer Fakultät seit zwei Jahren jeweils im Frühjahr ein internationales Symposion zu "Intercultural Sudies". In Finnland ist an der Universität Jyväskyla ein Magisterkurs "Interkulturelle Kommunication und Interkulturelle Beziehungen" eingerichtet worden, der die neue Dimension der Kulturwissenschaften sehr anschaulich bietet.

Dies gilt ebenso für die ausländischen Universitäten, mit denen unsere Universität einen Kooperationsvertrag geschlossen hat. In Europa sind es u.a. Strasbourg (Frankreich), Giessen (Bundesrepublik Deutschland) und Utrecht (Holland), mit denen an erster Stelle eine Prospektion unternommen wird, denn die vorhandene Zusammenarbeit betrifft z.Zt. jeweils Gebiete wie Medizin, Agrarwissenschaften und Kunstgeschichte. Die Technische Universitaet Berlin, zwei Universitaeten in Moskau, eine in Bulgarien und eine in Ungarn haben auch mit uns eine Partnerschaft aber nicht in Sozialwissenschaften.

Durch den Reichtum an archäologischen Stätten in und um Izmir herum und durch die Anwesenheit eines Fachbereichs für Archäologie an aunserer Fakultät scheint uns ein interdisziplinäres Projekt möglich, wobei insbesondere die Kontinuität kultureller Erscheinungen z.B. auf dem Gebiet der Familie und Gesellschaft hervorgehoben werden soll. Junge Archäologen befassen sich mit der Untersuchung von diesbezüglichen Aussagen auf Grabinschriften der Antike.

Die Frage nach der kulturellen Identität und der interkulturellen Beziehungen auf dem Gebiet der Literatur, sei es auf dem Weg der Rezeption oder auf der Analyse geographisch entfernter aber thematisch ähnlicher Phänomene, gewinnt immer mehr an Bedeutung. Denn die Kultur der Vergangenheit kann man nur durch festgehaltene Zeichen bzw. Aufzeichnungen wahrnehmen und die Sprache ist eins der vielen Ausdrucksmöglichkeiten der Besonderheit nicht nur der Autoren sondern ihrer Zeit und ihrer kulturellen Umwelt überhaupt. Hätte die Renaissance ohne die Überlieferung der Meisterwerke der Antike als europäische Bewegung stattfinden können? Hätte das Theater in Spanien, England, Frankreich und Deutschland die namhaften Dramatiker ohne die Kenntnis der antiken Tragödie hervorgebracht? Aus dieser Perspektive sind Rezeptionsforschungen von einem grossen Wert und ebenso wertvoll die Untersuchungen der Art und Weise wie ein Werk in die fremde Kultur übertragen worden ist. Deshalb sind meines Erachtens Übersetzungskritik und Rezeptionsforschung sehr nahe verwandt und gehören zum Themenkreis der künftigen Forschungen unseres Zentrums.

Dadurch daß die Kultur eines Landes einer spezifischen Dynamik unterworfen ist, muss man in der Forschung flexibel sein und dieser komplexen Dynamik folgen. Die Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gruppe sind auf allen Ebenen des Lebens erkennbar und ihr Niederschlag variiert von Land zu Land. Das Kulturelle bezieht sich nicht nur - wie früher behauptet wurde - auf die künstlerischen oder schriftlichen Dokumente eines Volkes sondern auf das Kontextuelle seiner spezifischen Erscheinungen im Alltag der Vergangenheit und der Gegenwart. Deshalb ist eine interdisziplinäre Erfassung der kulturellen Phänomene unentbehrlich..

Die Koexistenz verschiedener Kulturen innerhalb eines Landes gehört auch zu den Themen, denen sich unser Forschungszentrum in Zukunft widmen wird. Von einem traditionellen historischen Ansatz aus sollen zeitgenössische Erscheinungen in Sprache, Benehmen , Sitten und Gebräuchen, Liedern und Folklore u.a. unter die Lupe genommen werden. Dabei sind sowohl die intrakulturellen Änderungen wie auch die interkulturellen Beziehungspunkte zu berücksichtigen. Das Zeitgenössische ist nicht zu trennen vom kulturellen Erbe der überlieferten Traditionen sowie der schriftlichen Belege der verschiedenen literarischen Gattungsarten. Die Erschliessung der Bedeutung soll immer mit dem Hinweis auf das kulturelle Element erfolgen, denn die Anerkennung und das Verständnis des kulturell Verschiedenen führt auch auf menschlicher Basis zu einer besseren Anerkennung und einem spontaneren Verständnis der Alterität.

Ein anderes Gebiet, das ich oben schon erwähnt habe, ist der Versuch einer interdisziplinären Untersuchung der Jugendlichen, die durch die Arbeit ihrer Eltern als zweite oder dritte Generation in Westeuropa aufgewachsen sind. Die neue Dimension hier wäre die Internationalisierung dieser Forschung, denn ich bin überzeugt, daß ähnliche Untersuchungen in Portugal, Spanien, Süditalien, Griechenland und in den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens betrieben werden. Die Migration der Arbeitskräfte in Richtung industriell hochentwickelter Länder bildet , was Kulturberührung angeht (ob reiner Kulturkontakt oder Kulturkonflikt) ,ein ähnliches Phänomen wie es im Mittelalter die Berührung (nicht nur auf kriegerischer Ebene sondern auch kulturell) mit dem Orient durch die Kreuzzüge gewesen ist.

Aus der Situation der Migrantenkinder aber entsteht ein neues Phänomen und zwar die Beziehung zur Heimat. Ist für sie Heimat das Land ,wo sie geboren und aufgewachsen sind und dessen Kultur für sie selbstverständlich ist, oder ist für sie Heimat das Land, wo sie nur sporadisch in den Ferien gewesen sind und wo sie sich bei einer endgültigen Rückkehr fremd fühlen? Die Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff liefert kulturell gesehen viele Aspekte, die man auf dem ersten Blick nicht wahrnimmt. Die Untersuchungen zeigen, daß sogar im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas (Bundesrepublik und ex-DDR, Österrreich und in der alemanischen Schweiz) das Wort Heimat nicht dieselbe Realität deckt. Auf diesem Gebiet ist gerade im europäischen Rahmen eine breitangelegte Untersuchung gewiss ertragsreich.

Kontrastive sowie komparatistische Verfahren sollen sowohl in der Sprachforschung wie auch in der Analyse kultureller Phänomene wie Theateraufführungen und literarische Produktion immer mehr angewendet werden. Der Mensch ist meistens in der jeweiligen Sprache direkt oder indirekt Gegenstand der Aussage. Die Bühnensprache ist nicht nur der Text, der inszeniert wird. Es ist der ideale Ort, die Originalität der Ausdrucksmöglichkeit eines Landes zu erkennen.. Die Körpersprache gehört dabei zu den wichtigsten Bestandteile einer Metasprache, die auf dem ersten Blick grenzlos, international wirkt, die aber, näher betrachtet, den kulturellen Hintergrund des Herkunftslandes des Schauspielers wiederspiegelt. Einige Kollegen haben angefangen, anhand von Videomaterialien die Shakespeareaufführung aus dieser Perspektive zu untersuchen.

Der Sprachgebrauch als solcher ist besonders soziolinguistisch zu erfassen, denn die Kultur im Alltag ist am Handeln des Individuums innerhalb der Gesellschaft zu erkennen. Nonverbale Zeichen bilden Kode mit kulturellem Hintergrund; deshalb kann z.B.eine internationale Firma nicht automatisch mit derselben Werbung in verschiedenen Ländern ankommen. Beim Verhältnis von Bild zu Wort genügt auch die Semiotik nicht, obwohl sie schon mehr leistet als die Linguistik allein. Immer mehr muss man auch bei der sprachwissenschaftlichen Forschung andere Disziplinen heranziehen wie Kulturanthropologie oder Psychologie sowohl Sozial- als auch Wahrnehmungspsychologie. Das bereichert die linguistischen Studien

Wie ich es eingehend angedeutet habe, gibt es einen festen Rahmen an den türkischen Universitäten was die Lehre der Sprach- und Lieraturwissenschaften betrifft. Um übergreifend von Sprache zu Sprache und von Disziplin zu Disziplin Forschungsarbeit betreiben zu können, haben wir ein Zentrum gegründet, welches in Izmir einerseits die europäischen Sprachen innerhalb und ausserhalb der EU untersuchen und fördern und andererseits zum Verständnis der Kultur des betroffenen Landes durch kontrastive und komparatistische Studien führen möchte. Auch wenn das Forschungszentrum erst auf nationaler Ebene wirken soll, sind wir bereit, im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit an Projekten teilzunehmen oder Forschungsprojekte in dieser Richtung zu entwickeln. Die bei uns z.Zt. vertretenen Sprachen sind neben Türkisch Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Russisch, Alt- und Neugriechisch, Spanisch, Tschechisch, Arabisch. Ich hoffe, daß in Zukunft die oben erwähnten Projekte sich konkretisieren und daß Sprach- und Kulturwissenschaft darunter selbstverständlich auch Literaturwissenschaft für Europa zu einem wichtigen Verbindungsfaktor werden.

© Gertrude Durusoy (Izmir)

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