Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1. Nr. September 1997

Aspekte einer didaktischen Literaturgeschichtsschreibung
jenseits der Einteilung in Jahrhunderte

Hans-Joachim Müller (Innsbruck)

1. Zur Problemlage:

Die Großzahl der gängigen Literaturgeschichten ist nicht für die Erwartungshaltung eines Studenten oder gar eines kulturinteressierten Laien geschrieben. Anstelle eines einführenden und kurzen Gesamtüberblicks wird der Leser mit einer Fülle von historischen Fakten, Teilaspekten der Geistes- und Kunstgeschichte, Gattungen, Strömungen, Namen von Autoren, Titeln von Büchern, Inhaltsangaben und Datenlisten überschüttet. In keinem der Fälle ist eine einheitlich durchgezogene Gliederung erkennbar. Autoren, die sich nicht einordnen lassen, werden als Vorläufer bzw. Nachzügler oder gar Genies behandelt, wobei Formeln wie "im Gegensatz dazu" oder "dann gibt es auch noch" zur Entschuldigung dienen, daß es eben kein präzises Gliederungssystem gebe, das allen Aspekten des geistigen Lebens einer Nation Rechnung tragen könne. Dies gilt sowohl für Literaturgeschichten, die von einem einzigen Verfasser stammen, als auch für Sammelwerke, die in einem noch höheren Ausmaß in ihren methodischen Ansätzen heterogen sind. Die selbst für den Spezialisten nicht mehr überschaubaren Einzeluntersuchungen der Geistes- und Literaturwissenschaftler zeigen schließlich, daß selbst die einzelnen Autoren in sich widersprüchlich sind.

Das gleiche Dilemma offenbaren die bislang vorgeschlagenen zeitlichen Abgrenzungen, die primär nach Jahrhunderten erfolgen, wobei völlig ungeklärt bleibt, wieso gerade ein Jahrhundertende eine Zäsur bedeutet. Daß dies offensichtlich doch nicht der Fall ist, belegt die Einführung größerer Zeitabschnitte wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassisches Zeitalter oder Aufklärung, die man dann doch wieder durch "früh", "hoch", "spät" unterteilt. Spiegelbildlich dazu erfolgt eine Untergliederung von Jahrhunderten in "Regierungszeiten", "Vorabende", "Revolutionen", "Republiken", "Vor"- und "Nach"kriegszeiten.

Für die Benennung der so gewonnenen Zeitabschnitte und der dort vertretenen Strömungen gibt es keine einheitlichen Kategorien. Sie stammen aus der Kunstgeschichte (Renaissance, Manierismus, Barock, Klassizismus, Impressionismus etc.), Philosophie und Theologie (Scholastik, Humanismus, Gegenreformation, Aufklärung, Positivismus, Renouveau catholique, Existentialismus, Postmoderne etc.), Politik- und Sozialgeschichte (Feudalzeitalter, Absolutismus, Erstarken des Bürgertums etc.) sowie Prägungen durch die Künstler selbst (Rhétoriqueurs, Romantik, Realismus, Symbolismus, Surrealismus, Nouveau Roman etc.). Dadurch werden entweder gewisse Aspekte einseitig betont oder aber die Epoche bleibt als Einteilung in Jahrhunderte nur ein abstrakter Zahlenraum.

Alle Unterteilungen (in Zeiträume, deren literarische Gattungen oder geniale Autoren) stoßen bei ihren synchronen Betrachtungsweisen an die Grenze der (beileibe nicht nur) abendländischen "ewigen" Themen der Philosophie, Literatur und Kunst. Diese sind die wenigen Fragen und Antworten auf Grundbedürfnisse der Gattung Mensch wie Regeln für das zwischenmenschliche Zusammenleben; Beziehungen zwischen den Geschlechtern; Antworten auf Sinn des Lebens, Tod und Jenseits; materielles Überleben; politische Macht und deren Organisation sowie Rolle und Stellung des Intellektuellen und Künstlers in der Gesellschaft. Eine diachrone Betrachtung der Themen und Stoffe ergibt, daß sich bis in unsere Zeit relativ wenig an den Vorgaben aus dem jüdisch-christlichen, griechisch-römischen, keltisch-germanischen sowie ‘orientalischen’ Kulturgut sowohl in seiner Reinform als auch in den verschiedenen Synthesen geändert hat. Die von Künstlern und Philosophen bezogenen Positionen werden durch ein breites Spektrum von Faktoren bestimmt, in welchem die Ausbildung, der Zeitgeist, Moden, soziale Stellung und politische Ideologie bis hin zur Persönlichkeitsstruktur und ihrer Genese zusammenwirken. Für den Interpreten muß eine derartige Betrachtungsweise notwendigerweise dazu führen, jedes einzelne Kunstwerk im Sinne von "L’homme et l’oeuvre" als absolutes Individuum zu sehen, womit eine überblicksartige Darstellung eines Zeitraums von mehr als tausend Jahren unmöglich wird.

 

2. Lösungsvorschlag:

Sicherlich kann auf keine der bisherigen Darstellungen der französischen Literatur verzichtet werden - sie sollten jedoch in eine neue Ordnung gebracht werden. Eine derartige Vorgangsweise verlangt den Mut zur Vereinfachung und wird von den Spezialisten immer mit dem Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" belegt. Bitter notwendig ist jedoch eine Darstellung übergeordneter Muster, die aufzeigt, daß die oft widersprüchlich scheinenden Strömungen und Werke aus gemeinsamen Quellen resultieren, die als Grundstrukturen eines längeren Zeitraums verstanden werden, den man als Epoche definieren kann.

Die Existenz von Epochen wird allgemein anerkannt; umstritten sind allerdings die Fragen nach Anfang und Ende einer Epoche, Evolution oder Revolution beim Übergang von einer Epoche zur anderen sowie der Ausschließlichkeit eines Denkmodells in einer gegebenen Epoche. Eine kritische Betrachtung der Arbeiten zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zeigt, daß in den jeweiligen Epochen zwar gewisse Denkmuster dominieren, diese aber die Denkmuster voranggehender Epochen nicht restlos verdrängen. In der Tat herrscht bis in unsere Gegenwart hinein ein erstaunlicher erkenntnistheoretischer Pluralismus, der an den ideologischen Interessenslagen der Autoren und Strömungen festgemacht werden muß und sich darüberhinaus auch im Bewußtsein der Leser widerspiegelt, das in fragmentarischer Form abergläubische, christliche, aufklärerische, positivistische oder postmoderne Tendenzen in Verbindung mit politischen Ideologien in sich vereint.

Trotzdem ist es möglich, Epochen als Zeiten der Vorherrschaft gewisser Ideen zu definieren, wobei die Denkmuster vorangehender Epochen, bzw. unterschwelliger Grundtendenzen, in den neuen Kontext integriert werden und somit eine völlig neue Bedeutung und Funktion erfahren. Konkret bedeutet dies für die Autoren, daß sie in einer ständigen Auseinandersetzung mit geistesgeschichtlichen und literarischen Traditionen diese in eine neue Synthese überführen. Hierbei haben gerade die in der literarischen Kanonbildung als "große" Autoren bezeichneten Literaten eine Vorreiterrolle, da sie die neuen Denkmuster überhaupt erst in Themen, Handlungen und Stil ihrer Texte verbalisieren.

Eine Epochencharakterisierung kann nur schlagwortartig erfolgen und muß flexible Grenzen abstecken, die aber nicht willkürlich sein können, sondern aufgrund gemeinsamer Grundstrukturen definiert werden müssen, welche die bisherigen Einteilungskategorien steuern. Die von mir anvisierte Lösung behält die gewohnten literatur- und kunstgeschichtlichen Bezeichnungen bei, versucht aber gleichzeitig eine Neugruppierung in einem aproximativen Datenzeitraum als historisch-politische sowie geistesgeschichtliche Abgrenzung.

Jede der so gewonnen Epochen soll durch die Untersuchung einer fixen Abfolge der sie prägenden und durch vergleichbare Prinzipien gesteuerten Grundlagen charakterisiert werden, wobei durch den Vergleich von inhaltlichen Veränderungen dieser Grundlagen die Besonderheit der jeweiligen Epoche bestimmt werden kann. Als derartige Grundlagen gelten die sozialgeschichtliche Entwicklung, Modelle der Welterklärung, das zwischenmenschliche Zusammenleben mit seiner individuellen Psyche, die dichtungstheoretische Diskussion sowie schließlich die Verarbeitung dieser Momente im Werk der Literaten selbst, wobei nur wenige stellvertretend genannt werden können. Von größtem Interesse sind kurze Verweise auf die anderen Künste, da gerade hier die in der Literatur früherer Epochen implizt vorausgesetzten Interieurs, Porträts, mythologischen und christlichen Sujets sowie Vorstellungen von Landschaft und Architektur für den heutigen Leser lebendig werden können.

Eine derartige Vorgangsweise bietet den Vorteil einer gewissen methodologischen Ausgeglichenheit, da sie sozialgeschichtliche, epistemologische, sozialpsychologische, psychoanalytische, literaturimmanente und kulturgeschichtliche Aspekte verbindet.

Abschließend sei gesagt, daß "Schulen", "Strömungen" oder "Epochen" sicherlich nur ein Hilfsmittel, aber die einzige Möglichkeit sind, Ordnungsprinzipien zu erkennen, die auf der einen Seite zwar niemals der Individualität eines Autors, bzw. dessen Texten absolut gerecht werden, aber auf der anderen Seite die einzige Garantie vor einem Sich-Verlieren in der unüberschaubaren Zahl literarischer Texte und Kunstwerke bieten. Als größer gemeinsamer Nenner innerhalb eines abgrenzbaren Zeitraumes bietet die Einteilung in Epochen Grundlinien für ein Rastersystem, welches erlaubt, die Individualität der einzelnen Texte durch eine eigenständige Lektüre herauszuarbeiten. Hier ist nun zu bekennen, daß weder der Literaturwissenschaftler noch der Studierende jemals in der Lage sein werden, alle Texte, die in Literaturgeschichten angeführt sind, zu lesen. Für weite Bereiche bleibt so als einzige Informationsquelle doch nur der Rückgriff auf Zusammenfassungen und Überblicke, womit sich der Teufelskreis schließt.

Die vorliegende Darstellung der französischen Literatur will somit primär den Hintergrund für eine Rekonstruktion der Absichten der Autoren ermöglichen, wobei es fraglich bleibt, ob diese überhaupt geleistet werden kann. Meine Intention schließt keineswegs eine persönliche Rezeption beim Lesen literarischer Werke aus, da diese nicht unwesentlich zur eigenen Lebensbewältigung beitragen kann. Es sei jedoch angefügt, daß das gelebte Leben immer spannender als jegliche Literatur sein sollte und die Rolle der Literatur nicht überbewertet werden darf.

Abschließend noch ein Hinweis: das Eindringen in die symbolische Ordnung einer anderen Kultur erfordert primär die Auseinandersetzung und somit Kenntnis der eigenen symbolischen Ordnung und Kultur!

 

3. Gliederung und Aufbau der geplanten Literaturgeschichte:

Die Gliederung umfaßt nur drei Zeitabschnitte:

a) Vom Mittelalter zu Renaissance, Manierismus und Barock (9. Jh. - c. 1635): Von der Feudalität zur höfischen, absolutistischen und städtischen Gesellschaft der Neuzeit oder Scholastik, Humanismus, Reformation und Gegenreformation.

b) Barockklassizismus, Rokoko und Aufklärung (c.1680 - c. 1815): Vom Sonnenkönigtum zur Französischen Revolution oder der Rationalismus und seine Krisen.

c) Das Zeitalter der -ismen (ab c. 1815): Restauration und Republikanische Verfassungen oder pantheistisch-vitalistischer Irrationalismus und funktionalistisch-positivistisches Systemdenken.

 

Für alle Epochen gilt die folgende Unterteilung:

a) Zeitliche Abgrenzung .

b) Allgemeine Entwicklungslinien der literarischen Produktion.

c) Soziale Gruppen und Politik.

d) Modelle der Welterklärung.

e) Zwischenmenschliches Zusammenleben und individuelle Psyche.

f) Synthesen: die "großen" Autoren .

Da alle Epochen nach den gleichen Prinzipien untersucht werden, ist eine fortlaufende Lektüre der einzelnen Grundelemente quer durch die Epochen möglich und liefert einen in sich geschlossenen Gesamtüberblick zu den einzelnen Themenkreisen. Diese Vorgangsweise versucht somit, ein Cartesianisches Tableau mit den Prinzipien einer Positivistischen Vernetzung zu verbinden.

© Hans-Joachim Müller (Innsbruck)

 

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