Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Internationale Datenbank
"Russische und sowjetische Kultur des 20. Jahrhunderts"

Innsbrucker Projektleitung: Christine Engel
Mitarbeit: Eva Binder, Helmut Kalb, Renate Reck

Allgemeines:

Für jeden, der sich wissenschaftlich oder publizistisch mit russischen Belangen befaßt, stellt die Materialbeschaffung ein großes Problem dar. Die Schwierigkeiten bestehen vor allem darin, daß infolge der politischen Entwicklung seit der Jahrhundertwende die verschiedenen Materialien und Dokumente dieses Kulturraumes über die ganze Welt verstreut sind. Kaum ein Gebiet war in der Sowjetzeit stärkerem ideologischen Druck ausgesetzt als der kulturelle Bereich, was dazu führte, daß die Materialien zum Teil unter Verschluß gehalten wurden. In der Folge und zum Teil auch aus finanziellen Gründen waren sie häufig nicht entsprechend gelagert und wurden kaum nach neuesten Informationsverarbeitungskriterien aufbereitet. Die bisherige wissenschaftliche Bearbeitung konnte daher nur fragmentarisch erfolgen, zudem ist sie in weiten Bereichen als sehr tendenziös einzustufen.

Die 1985 eingeleitete politische Wende in der ehemaligen UdSSR und im heutigen Rußland hat die notwendigen Bedingungen für eine langfristige Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und Wissenschaft geschaffen, die auch eine Realisierung von großangelegten konkreten Projekten möglich machen. Um eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem russischen Kulturraum zu ermöglichen, ist es in erster Linie notwendig, die gesamten Materialien und Dokumente in einer dem westlichen technologischen Standard entsprechenden Art und Weise zugänglich zu machen. Der Aufarbeitung der Kultur kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu, da dadurch Rückschlüsse auf die gesamte Entwicklung dieses Kulturkreises möglich werden. Um diese Aufgabe zu lösen, wurde 1990 ein internationales Großprojekt in Form eines Netzwerkes zur Erfassung von Kulturdaten initiiert, in dem russische Partner in Moskau, EU-Partner aus Österreich und Deutschland sowie die Universität Krakau zusammenarbeiten.

 

Anlage und Aufbau der Datenbank:

Dieses Datenbankprojekt deckt wesentliche Bereiche der Kultur ab (Literatur, Literaturkritik, Film, Filmkritik, Theater, Theaterkritik, Kunst und Architektur, Geschichte, Philosophie) und schließt auch die inoffizielle Kultur und die Kultur in der Emigration mit ein. Die Datenbank ist multimedial angelegt (Schrift, Bild, Ton) und enthält neben biographischen und bibliographischen Angaben auch Volltexte sowie kulturpolitische Informationen. Das gesamte Informationssystem beruht auf einzelnen Datenbanken, den sogenannten Objektbereichen, die gemeinsam die Gesamtdatenbank bilden. Jeder Objektbereich besteht aus einzelnen Dokumenten, den Datensätzen. Alle Datensätze sind über einen Zentralthesaurus hierarchisch verschlagwortet und vernetzt. Die Kooperationspartner sind mit einem einheitlichen Datenbankprogramm ausgestattet (FAUST).

Die Vorarbeiten und die konzeptionelle Phase wurden im Juni 1992 abgeschlossen. Seither ist eine solide Grundlage von über 170.000 Dokumenten geschaffen werden, wobei vor allem auch weniger bekannte Materialien, zu denen bisher der Zugang kaum möglich war, bearbeitet werden. Dabei werden Primärliteratur, Sekundärliteratur, bibliographische und faktographische Information, Information über Nachschlagewerke, Bibliographien, Karteien, Volltextinformation und Bildmaterialien bearbeitet. Die verschiedenen Objektbereiche bieten Information zur internationalen Literatur- und Kulturwissenschaft, zur russischen und sowjetischen Kultur, zur sowjetischen Literatur, Literaturwissenschaft und Kritik, zur russischen Kultur und Literatur der Emigration, zur russischen und sowjetischen darstellenden Kunst, zur Literatur und Kultur der russischen Moderne, zum russisch-sowjetischen Theater, zum russisch-sowjetischen Film und zur russisch-sowjetischen Filmkritik, zur Publizistik der Perestrojka und enthalten auch einen Wegweiser für die zentralen Literaturarchive.

 

Strukturogramm der Datenbank:

Die Gesamtdatenbank Kultur besteht aus dem zentralen Thesaurus "Kultur", der als hierarchisch strukturierter Index angelegt ist, und den Einzeldatenbanken, den sogenannten Objektarten, die folgende Bereiche umfassen:

Erfaßte Daten:

1. DB Architektur:

erfaßt sind Monographien und Aufsätze
Quellen: Architektura SSSR, Sekundärtexte, Anthologien, Zeitschriftenpublikationen

2. DB Ausstellung/Präsentation:

Quellen: Ausstellungskataloge (Bildende Kunst), Einladungskarten, Pressemitteilungen

3. DB Bildende Kunst: .

erfaßt sind Zeitschriften und Monographien
Quellen: Ausstellungskataloge, Sekundärtexte, Bildbände, Aufsätze, Zeitschriften, Monographien, bibliographische Angaben

4. DB Darstellung/Bildobjekte:

Beschreibungen von Kunstwerken, Bilder der russischen alternativen Kunst in der Sowjetzeit mit Bildbeschreibungen, Plakate von 1880 bis 1995 mit Bildbeschreibungen, Design
Quellen: Plakatsammlung der Russischen Staatlichen Bibliothek, Diaarchiv Prof. Eimermacher, Bochum

5. DB Dokumente:

Primärtexte, wie Manifeste, politische Reden, die keine künstlerischen Werke sind, politische Texte (Volltextdatenbank)

6. DB Geschichte:

Berichte, Interviews zu Fragen der sowjetischen Geschichte
Quellen: Slovo, Literaturnaja gazeta, Literaturnaja Rossija, Moskovskaja pravda, verschiedene Zeitschriften

7. DB Künstlerbiographie:

ausführliche Personaliainformationen mit Werkverzeichnis
Quellen: Ausstellungskataloge, Bildbände

8. DB Literatur:

Erfaßt werden Primär- und Sekundärwerke, u.a. Bibliographien der MLA (1940–1980), Bibliographie slawistischer Arbeiten, New Contents Slavistics, Slavic Review, Slavic Survey, Canadian Slavonic Papers, Russian Literature, East European and Soviet Studies, sowjetische Literaturwissenschaft und -kritik nach Ryskin von 1917–1973 sowie Ergänzungen aus der Privatsammlung Ryskin von 1974–1990, sowjetische literarische Organisationen, Vereine und Gruppierungen von 1917–1932 und sowjetische Periodika
Quellen: Bibliothek des Lotman-Instituts, Ryskin, Osteuropa, Novyj Mir, Oktjabr’, MLA, Na š sovremennik, Molodaja gvardija, Junost', Russkaja literatura, Moskva, Sovetskaja literatura u.a.m.; MAPRJAL, Bibliographien, Anthologien

9. DB Publizistik:

Radiointerviews zu Themen der Kultur, Geschichte, Politik, Soziologie ab 1985 mit Kurzkommentaren, gesellschaftspolitische, literarische und künstlerische Zeitungen mit Kommentaren von 1945–1990, die literarische Entwicklung in Rußland 1985–1990
Quellen: Ogonek, Literaturnaja gazeta, Pravda, Argumenty i fakty, Osteuropa, Kulturdigest, Report on the USSR u.a.m.

10. DB Schriftstellerbiographie:

umfaßt u.a. kommentierte Biobibliographie russischer und sowjetischer Autoren
Quellen: Pisateli Moskvy, Biobibliografiè eskij spravoè nik

11. DB Film:

mehr als 4000 Spielfilme mit Angaben zu Regie, Drehbuch, Darstellern, Kamera, Ton, Musik, Ausstattung und einer Kurzfassung des Inhalts sowie Angaben zur Sekundärliteratur (Monographien, Fachzeitschriften, Artikel aus anderen Zeitschriften und Zeitungen)
Quellen: Datenbank von Miroslava Segida, Moskau; Videoarchiv des Instituts für Slawistik der Universität Innsbruck, Zeitschriften (Iskusstvo kino, Sovetskij ekran, Seans, Kinovedè eskie zapiski); Bibliothek des Instituts für Filmkunst (Institut kinoiskusstvo), Moskau; Filmmuseum (Muzej kino), Moskau.

12. DB Theater:

Quelle: Teatr (1917–1991)

 

Teilprojekt Film:

Die Arbeitsgruppe in Innsbruck hat neben der Materialsammlung zum russisch-sowjetischen Theater und zur Theaterkritik den Aufgabenbereich übernommen, Daten zum russischen und sowjetischen Film, zur Filmkritik und biographische Daten zu Regisseuren zu sammeln. Zur Zeit wird am Institut schwerpunktmäßig an der Zusammenstellung der Filmdaten gearbeitet. Der Zugang zu den Fachbibliotheken des Instituts für Filmkunst und des Filmmuseums in Moskau ist dabei von großer Bedeutung für die Datensammlung. Das dort vorhandene, umfangreiche bibliographische und faktographische Material kann nun über die Datenbank "Russische Kultur des 20. Jahrhunderts" zugänglich gemacht werden. Die Bereiche der Filmkritik und des Filmbetriebs werden für die sowjetische Zeit von den Zeitschriften Iskusstvo kino (alle Jahrgänge ab 1931) und Sovetskij ekran (Jahrgänge ab 1976), für die postsowjetische Zeit von den Zeitschriften Iskusstvo kino und Seans dokumentiert. Die seit 1988 erscheinende Zeitschrift für Filmwissenschaft Kinoved è eskie zapiski ist vollständig erfaßt und wird fortlaufend ergänzt. Die Datenbank zu russischen und sowjetischen Filmen wird ebenfalls laufend komplettiert. Die Sammlung enthält Dokumente zu Spiel- und Dokumentarfilmen von den Anfängen des Films bis zur heutigen Zeit. Besonders umfangreich ist die Datensammlung auf dem Gebiet des sowjetischen Filmschaffens der Perestrojka-Ära (1985/1991). Die Vernetzung und Verschlagwortung der Daten für den Sammelbereich russischer und sowjetischer Film ist in dieser Form einmalig.

Am Institut für Slawistik wurde zu Forschungszwecken auch eine umfangreiche Videosammlung von russischen und sowjetischen Spielfilmen angelegt, deren Bestandsverzeichnis von 700 Filmen demnächst in Buchform mit vollständigen Produktions- und Stabsangaben (Regie, Drehbuch, Kamera, Ausstattung, Ton, Musik und Darsteller) sowie mit einer inhaltlichen Kurzbeschreibung zu jedem Film erscheinen wird. Als nächster Schritt sollen die Materialien als CD-Rom zugänglich gemacht werden.

Der wissenschaftliche, gesellschaftliche und internationale Wert derart umfassend vernetzter Materialsammlungen zum Kulturbereich ist nicht hoch genug einzuschätzen. Sie bieten mit den darauf aufbauenden Kulturuntersuchungen ein Potential für Problemlösungsstrategien und sind dadurch nicht nur für die Wissenschaft im engeren Sinn (Wissenschaftler, Lehrer und Studenten auf den Gebieten Slawistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Politikwissenschaft, Ökologie, Philosophie) unerläßlich, sondern auch für Mitarbeiter an Ministerien, Behörden und Museen, Kunstkritiker, Journalisten und Übersetzer. Auf universitärer Ebene ist ein solches Unterfangen ein weiterer Schritt zur Internationalität und bietet die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften auf einer fundierten Grundlage interdisziplinär zu arbeiten. 

© Christine Engel (Innsbruck)

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 2


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 11.11.1999