Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Multimedia als Erzählmedium:
Die Auflösung traditioneller Erzählweisen stellt neue Anforderungen an Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung

Horst Heidtmann (Stuttgart)

Vorbemerkung

Ich möchte bei meinen Überlegungen zur Wissenschaftsorganisation nicht von allgemeinen theoretischen Konzepten, sondern vom Materialkorpus ausgehen. Mediennutzung und -präferenzen haben sich in den vergangenen Jahren nicht nur in den westlichen Industrienationen grundlegend verändert. Audiovisuelle, elektronische und digitale Medien werden mittlerweile zeitaufwendiger genutzt als die Printmedien, die ihre Rolle als Leitmedien eingebüßt haben. In der Form von Multimedia-Anwendungen vereinen sich alte wie neue Medien, Bild- und Schriftmedien. In digitalen, weltumspannenden Datennetzen vernetzen sich gesellschaftliche Kommunikation und mediale Unterhaltung grenz- wie kulturüberschreitend.

Literatur- und Sprachwissenschaften müssen diese Veränderungen reflektieren, müssen zukünftig wirklich interdisziplinär und interkultulturell angelegt sein, um neue mediale Sprachmuster und neue Formen der Narration erschließen und werten zu können.

 

Akzeptanz neuer Kommunikationstechnologien

Stellten sich bei dem Begriff Computer in der Vergangenheit vielfach vorwiegend negative Konnotationen ein (künstliche Intelligenz, Gefühllosigkeit), so ist die Computertechnologie in der gegenwärtigen Diskussion vorrangig positiv besetzt, besonders durch Begriffe wie Multimedia, Datenautobahn, Informationsgesellschaft. Neue Kommunikationstechnologien gelten als Garant für die Sicherung neuer Arbeitsplätze und für eine bessere Zukunft.

Da junge Menschen allen neuen Medien grundsätzlich offener gegenüberstehen als ältere, wollen sie zwangsläufig Zugang zu der Technologie haben, die als die fortgeschrittenste und als die für die Gesellschaft wichtigste gilt.

In Umfragen bestätigen drei Viertel der Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen, daß sie vom verstärkten Einsatz neuer Technologien, von Computer, CD-ROM und Online-Diensten eine deutliche Veränderung ihres eigenen Alltagslebens erwarten.(1) Und bereits heute nutzen etwa zwei Drittel dieser Altersgruppe den Computer öfter oder zumindest regelmäßig.

Nach der "Kids Verbraucher Analyse KVA '95" gehört für 45 Prozent der Sechs- bis Siebzehnjährigen der Umgang mit Computer- und Videospielen zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen (auf Rang 8), und für 25 Prozent zählt sogar das Arbeiten am PC zu den bevorzugten Tätigkeiten.(2) In der "KVA '95" ist besonders bemerkenswert, daß erstmals bei Mädchen ein höheres Interesse am Umgang mit dem Computer nachgewiesen wird als bei Jungen. Bei der Altersgruppe der Sechs- bis Dreizehnjährigen ist bei den Mädchen sowohl das Interesse am Computerspiel als auch die Neigung zur Arbeit am PC ausgeprägter als bei den gleichaltrigen Jungen. Ab 14 schlägt das Pendel dann um.

Die Ursachen hierfür liegen u.a. im veränderten Stellenwert des PCs in den Familien: Der PC dient im Alltag als Gebrauchsgegenstand, als Arbeitsgerät und als Medium für spezifische Zerstreuungsangebote. Er steht - wie der Fernseher - zur Disposition aller Familienmitglieder. Kleinkinder begegnen dem Computer - unabhängig vom Geschlecht - mit entsprechender Selbstverständlichkeit und nutzen ihn wie andere Apparaturen des Haushaltes.

 

Entwicklungen auf dem Multimedia-Markt

Die Unterhaltungselektronikindustrie hat weltweit zuletzt Mitte der 80er Jahre durch die Einführung der Audio-CD einen bedeutsamen Innovationsschub erhalten. Danach sind alle anderen Versuche zur Einführung neuer Trägermedien ohne die erhoffte Resonanz geblieben. Nachdem CD-ROM-Laufwerke zunächst nur von professionellen Anwendern in Büros und Bibliotheken genutzt wurden, machten Großserienfertigung und drastischer Preisverfall das neue Trägermedium CD-ROM auch für private Anwender attraktiv.

Seit Anfang der 90er Jahre boomt in den USA der Markt für Multimedia-Hardware. 1994/95 wurden dort erstmals mehr PCs verkauft als Fernsehgeräte. Für Europa zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab.

In den USA liegt der Ausstattungsgrad der Haushalte mit Computern gegenwärtig bei 50 Prozent. Ein Viertel aller amerikanischen Haushalte verfügt bereits über einen eigenen Online-Anschluß. In Deutschland besitzen Mitte 1997 etwa 25 Prozent der Haushalte einen PC, davon sind über vier Millionen Geräte mit einem CD-ROM-Laufwerk ausgestattet, somit multimediatauglich. Nach Schätzungen der Industrie sollen es bis Ende 1998 etwa zehn Millionen sein. Gegenwärtig haben fünf Prozent der bundesdeutschen Haushalte einen Online-Anschluß.

Da Kinder und Jugendliche bereitwilliger auf die neuen Informationstechnologien zugreifen, bieten sie sich den Produzenten als eine vorrangige Zielgruppe an. Der anhaltende Verkaufsboom bei CD-ROM-Laufwerken in den USA geht, nach Angaben der Marktforscher, "vor allem auf den überproportionalen Einsatz von Spielen und Infotainment-Software" durch Kinder und Jugendliche zurück, "die das CD-ROM-Laufwerk viermal mehr nutzen als Erwachsene"; während Erwachsene allenfalls 10 Prozent von ihrer Zeit am Computer CD-ROMs benutzen, verbringen Minderjährige in den USA die Hälfte ihrer Computerzeit damit.(3)

Die Software-Anbieter reagieren darauf, indem sie bei fallenden Preisen immer mehr unterhaltungsorientierte CD-ROM-Produkte (Spiele, Magazine, 'Living Books', Edutainment) auf den Markt bringen, die sich vorrangig oder ausschließlich an ein jugendliches Publikum wenden. Auch die Internet-Provider haben diese Zielgruppe entdeckt. Seit Juni 1997 ist mit "fun online" der erste kommerzielle Datendienst für deutschsprachige Kinder und Jugendliche im Netz; vorbereitet wird zudem ein gemeinsamer Bildungs-Online-Dienst der deutschen Schulbuchverlage.

In ihrer Leistungsfähigkeit unterscheiden sich Multimedia-Anwendungen online und offline nicht voneinander. In der Praxis nutzen Netz-Provider die Leistungsmöglichkeiten von Multimedia nur ansatzweise aus. Das Laden von Video-Clips und Spielen auf die heimische Festplatte wird wegen unzureichender Datenübertragungsraten zum Problem. Auf absehbare Zeit wird sich die CD-ROM, und danach die DVD,(4) als Medium für den Unterhaltungs- und Freizeitsektor behaupten können.

 

Attraktivität von Multimedia-Anwendungen

Zur Informationsvermittlung ist eine Multimedia-Anwendung den traditionellen Medien - zumindest theoretisch - dadurch überlegen, daß sie mehrkanalig Informationen übermittelt, durch Standbild und Bewegtbildsequenzen, durch Schrift und gesprochene Sprache, durch Geräusche und Töne. Wenn die Informationen in den einzelnen Kanälen sinnvoll aufeinander bezogen und miteinander verknüpft worden sind, wenn ein Informationszusammenhang, eine Geschichte durch verschiedene mediale Formen übermittelt wird, dann erleichtert dies das Verständnis für den Rezipienten. Komplexe Informationen sind - nicht nur von Kindern - leichter zu erfassen, wenn sie visuell präsentiert werden. Eine nur durch Schriftzeichen dargebotene Information ist verschlüsselt, sie muß dechiffriert werden und ist weniger anschaulich als eine durch Bewegt- oder Standbilder illustrierte Botschaft. Sprache, Musik und Geräusche können Bildaussagen unterstützen, Videosequenzen können Zusammenhänge verdeutlichen. Aus der Rezeptionsforschung wissen wir, daß Informationen, die über mehrere Kanäle neben- oder nacheinander zum Rezipienten gelangen, leichter verstanden und besser behalten werden als einkanalig präsentierte.

Multimedia-Anwendungen sprechen zudem mehr Sinnesorgane an als ein Buch, mehr noch als die von Kindern und Jugendlichen mit Präferenz genutzten AV-Medien, denn zum Umgang mit Maus oder Tastatur werden noch Tastsinn und Koordinationsfähigkeit benötigt. Multimedial vermittelte Geschichten sind somit intensiver erlebbar als Bücher oder Filme. Da diese zudem nur passiv rezipiert werden können (weil sich interaktive Momente beim Fernsehen noch auf das Zappen beschränken), steigern die Interaktionsmöglichkeiten von Multimedia-Programmen noch zusätzlich deren Attraktivität.

 

Auflösung traditioneller Erzählformen

CD-ROMs für Kinder lehnen sich häufig noch stark an Buchvorlagen an, erweitern eine linear und chronologisch vorgetragene (Bilderbuch-)Geschichte lediglich durch visuelle Gags, Spiele oder Lieder. Desto weitgehender jedoch die Leistungsfähigkeit des neuen Mediums ausgeschöpft wird, desto mehr verlieren die bislang in der Literatur wie im Film üblichen Muster der Narration und des Spannungsaufbaus an Bedeutung.

In einer traditionell angelegten Abenteuererzählung wird der Leser z.B. langsam in ein Milieu und einen Problembereich eingeführt; nach dieser Exposition entwickelt der Autor dann einen Interessengegensatz, einen sich eskalierenden Konflikt. Dabei steigt die Spannung schrittweise an. Im Normalfall erreicht sie kurz vor Ende der Geschichte ihren Höhepunkt, der Konflikt wird - oft gewaltsam - gelöst. Die Spannung fällt radikal ab, denn entweder wird am Ende die ursprüngliche Ordnung wieder hergestellt oder ein Protagonist erhält die zustehende Belohnung (Schatz, Frau/Mann).Eine traditionell angelegte Spannungsstruktur kann also durch eine zunächst langsam, dann schneller ansteigende Kurve, die gegen Ende einen Gipfel erreicht und dann auf das Ausgangsniveau zurückfällt, dargestellt werden, unabhängig vom Medium.

Anders als für ein in sich abgeschlossenes Werk ist es beim seriellen Erzählen erforderlich, den Rezipienten möglichst so eng zu binden, daß er auch die Fortsetzung rezipieren (kaufen) will. In der eher traditionellen Form einer Serie setzt sich eine Handlung Folge für Folge kontinuierlich fort, baut in jeder Fortsetzung Spannung auf, läßt Spannungshöhepunkten Phasen des Spannungsabbaus folgen. Das Interesse des Zuschauers muß an ein übergreifendes Grundthema, an einen etliche Folgen umfassenden Serienzyklus gebunden werden. Dafür war es früher in Filmserials und TV-Serien üblich, auf einem Spannungshöhepunkt, im Verlauf einer eskalierenden dramatischen Situation die Serienfolge abzubrechen. Ein "Cliff Hanger" (ein Verfolgter hängt an der Klippe und droht abzustürzen) verweist die Zuschauer auf die nächste Fortsetzung.

Die meisten Fernsehserien verzichten heute auf Cliff Hanger, da die Zuschauer auf in sich geschlossene Episoden wert legen. Die populären Soap Operas und Familienserien suchen heute meist den Serienzusammenhang durch eine 'Drei-Episoden-Struktur' herzustellen: In einer Serienfolge werden drei verschiedene Handlungsepisoden nach- und nebeneinander dargeboten, wobei die erste Episode bereits in der vorangegangenen Folge begonnen wurde und jetzt ihre Auflösung, einen Abschluß erfährt. Die zweite Episode beginnt parallel zur noch laufenden ersten und wird noch in der gleichen Folge zu einem Ende geführt. Die dritte Episode beginnt mit der Einführung, dem Aufbau einer dramatischen Situation, diese Episode wird dann aber erst in der nächsten Serienfortsetzung beendet.

In den neueren Endlos-Serien, den Daily-Soaps des Deutschen Fernsehens ("Gute Zeiten, schlechte Zeiten"), die bei jungen Zuschauern besonders beliebt sind, hat auch die Drei-Episoden-Struktur an Bedeutung verloren. Inhalt und Abfolge der Handlung treten hinter die formalen Elemente zurück.

Die Spezifik des Erzählens beruht vorwiegend auf kurzen, schnellen Schnitten und auf einer Zerstückelung in sehr kurze inhaltliche Einheiten sowie der außerordentlich raschen Abfolge von Spannungshöhepunkten. Wenn man solche Serienstoffe nicht von vornherein als inakzeptabel und bodenlos schlecht ablehnt, sondern sich davon unterhalten lassen will, dann bekommt man eine Art Hochspannungsdramturgie geboten, die die Wahrnehmung inhaltlicher Banalität erschwert. (5)

Die Fernsehserienforschung hat die Veränderung konventioneller Erzählkonzepte bereits für die in den 80er Jahren ausgestrahlten Serien nachgewiesen: "Es ist nicht mehr wichtig, wann etwas stattfindet. Zeit wird aufgelöst in Einzelbilder, deren Zeitpunkt irrelevant ist...eine Entwicklung vom linearen Ablauf zum Punktuellen, von der Einheit zum Segment..."(6)

 

Nonlineare und hypermediale Erzählstrukturen

Im Fernsehen soll der hohe Grad an Beliebigkeit bei der Abfolge von Sequenzen und Episoden dem Rezipienten ermöglichen, an jeder beliebigen Stelle der Serie in die Handlung ein- oder auszusteigen, beliebig Folgen auszulassen, ohne daß dies Schwierigkeiten für das Verständnis des Serienzusammenhanges mit sich brächte.

Eine vergleichbare Segmentierung von Geschichten in kleinste und in sich geschlossene inhaltliche Einheiten findet sich noch ausgeprägter in den Computerspielen, bei vielen Kindern und Jugendlichen das am intensivsten genutzte Freizeitmedium.(7) In den Spielszenarien mit Science Fiction- und Fantasystoffen lösen tapfere Klempner ("Super Mario") oder Hochgeschwindigkeitsigel ("Sonic the Hedgehog") immer neue Aufgaben. Konsolenspiele bieten meist eine Aneinanderreihung von Versatzstüken, Situationen, Spannungshöhepunkten, wie sie Kinder und Jugendliche aus Hollywoodfilmen, Fernsehserien, aus Comics oder Serienhörspielen kennen.

Multimediale Geschichten und Spielprogramme sind genauso aus kleinsten Einheiten, Einzelbildern und Handlungsversatzstücken zusammengefügt. Interaktiv mitzugestaltende Geschichten und Computerspielsoftware haben sich einander angenähert. Die Multimedia-CD reiht aber nicht, wie im Regelfall das Computerspiel, nur die Spannungssituationen. Der Spieler, Nutzer steht nicht ständig unter Spannung, weil er auf Forderungen eines Adventure-Games möglichst schnell zu reagieren hat, da andernfalls das Programm das Spiel unter- oder abbricht.

Multimedia-Anwendungen können durch den - bewußten - Verzicht auf lineare Strukturen den Spielraum für die individuelle Rezeption ausweiten. Eine multimediale Geschichte hat zwar im Regelfall einen erkennbaren roten Faden, ein Grundmotiv, sie wird aber nicht geradlinig und chronologisch erzählt, sondern sie ist in kleinere Einheiten zerlegt, die sich in unterschiedlicher und variabler Reihenfolge verbinden lassen. Abhängig vom Aufwand der Programmierung kann der Rezipient aus dem gesamten Bestand von Daten, Informationen, Szenarien oder Erzählsituationen diejenigen auswählen, die ihn interessieren. Er kann selbst die Reihenfolge bestimmen. Damit sind unterschiedliche Handlungs- und Konfliklösungsmöglichkeiten denkbar.

Multimedia-Anwendungen arbeiten mit einer Hypertext- oder Hypermedia-Struktur. Diese Struktur basiert auf dem Verweis-System konventioneller Lexika, in denen durch Fettdruck oder Hinweispfeile auf weiterführende Stich- oder Suchwörter verwiesen wird. Bei Hypermedia werden nach einem vergleichbaren Prinzip die einzelnen Textteile, Informationseinheiten, Räume, Handlungsschritte und -stereotypen nach bestimmten (logischen, kontextuellen) Gesichtspunkten miteinander verbunden, mit Bildern, Grafiken, Video- und Animationssequenzen, mit Musik- oder Sprachsequenzen vernetzt. Ein spezifisches Computerprogramm realisiert Verbindungen zwischen einzelnen Informationseinheiten. Man gelangt also durch das Anklicken eines Wortes, eines Bilddetails oder eines Icons zu einer durch Hyperlink damit verknüpften (d.h. durch das Programm definierten) Stelle, z.B. zu einem anderen Schauplatz, auf eine andere Zeitebene oder in einen anderen Handlungskontext.

Um die Handlung weiterzuführen, kann man also - in nichtlinearer Struktur - zwischen einzelnen Situationen oder Bildern hin und her springen. Im Gegensatz zum Buch müssen Verweisstellen nicht durch - manchmal langwieriges - Umblättern gesucht werden. Per Laserstrahl erfolgt der Zugriff auf die durch Links angebundene Informationseinheit in Sekundenbruchteilen.

Nicht nur durch die Struktur, sondern vor allem auch durch die Möglichkeit zur Rückkoppelung unterscheidet sich Multimedia von den traditionellen Medien. Per Maus oder Tastatur kann der Rezipient aktiv in das Computerprogramm eingreifen, kann selbst über den Verlauf der Erzählhandlung entscheiden, kann den Ablauf oder die Geschwindigkeit des Programms, der Geschichte selbst regulieren.

Theoretisch ermöglicht Multimedialität die Gestaltung eines dreidimensionalen Erzählraumes: Vom Ausgangspunkt aus, nach der Einführung in das Programm kann der Benutzer eine Vielzahl von alternativen Wegen benutzen, die parallel verlaufen oder sich schneiden können, er kann die Auswahl und Abfolge von Erzählsequenzen bestimmen, die Erzähllinie individuell gestalten. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß der Erzähler nicht eine Geschichte, sondern ein dreidimensionales Universum gestaltet, in dem zahllose Geschichten angelegt sind, in dem sich Benutzer in alle Richtungen bewegen können.

Solche Dreidimensionalität zeichnet sich gegenwärtig in einzelnen, der bildenden Kunst verpflichteten Anwendungen ab, z.B. in Produktionen der amerikanischen Avantgarde-Künstlerin Laurie Anderson ("Heartbreak Hotel").

 

Resümee

Multimedia-Anwendungen können Eingrenzungen des Erzählens, die durch Form und Struktur traditioneller Erzählmedien vorgegeben sind, aufheben. Sie können die erzählerische Komplexität erhöhen, dreidimensionale Erzählräume und wahrhaft 'unendliche Geschichten' schaffen. Multimediales Erzählen fördert die Individualität des Medienhandelns und begünstigt die Subjektivität von Rezeptionsprozessen.

Multimedia-Programme können ihren Benutzern den Rezeptionsaufwand erleichtern, was nicht nur positive, sondern durchaus auch negative Auswirkungen haben wird. Multimediales Erzählen kann die Beliebigkeit und Austauschbarkeit des Gesagten verstärken, kann Rezeptionsgewohnheiten begünstigen, die durch den Gebrauch von Computerspielen, den Konsum von TV-Serien, Cartoons und Video-Clips, die durch das serielle Erzählen in den elektronischen Medien begründet worden sind. Der spielerische Umgang mit Technik und die Aufhebung linearen Erzählens kommen also dem Bedürfnis nach Spaß und unverbindlicher Unterhaltung entgegen. "Charakteristisch für die heutige Jugend" ist eine "Haltung des Ausprobierens und Experimentierens", die "Suche nach Spaß, Zerstreuung... oder Anregung und Kick".(8) Wie die neue Shell-Studie über Engagement und Orientierung von Jugendlichen in Deutschland belegt, korrespondieren die Tendenz zur Segmentierung von Inhalten, das collageartige Verbinden unterschiedlichster Versatzstücke und die Betonung des Punktuellen in den Medien mit einer entsprechenden Lebenseinstellung, nämlich dem Trend zur Individualisierung, zur Diversifikation und zum Crossover von Interessen, von Stilen und Moden.

© Horst Heidtmann (Stuttgart)

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Anmerkungen:

(1) Vgl. hierzu u.a. Stefan Krüger: "Die neuen Medien spalten die Gesellschaft". In: tv-today H.19, 1995, S.38-39.

(2) Kids Verbraucher Analyse KVA '95. Eine Gemeinschaftsuntersuchung der Bastei-Verlag Gustav Lübbe GmbH & Co., der Axel Springer Verlag AG und der Verlagsgruppe Bauer. Bergisch-Gladbach 1996. Bd.1: Codeplan; Bd. 2: Bericht.

(3) Vgl. Iris Bellinghausen: "CD-ROM: Einstieg ins Multimediazeitalter? Bestandsaufnahme eines neuen Marktes", in: Media Perspektiven H.10, 1995, S.491.

(4) Schon 1996 haben sich die weltweit führenden Hersteller von PC-Hardware und -Software sowie die Unterhaltungselektronikkonzerne auf einen neuen Multimedia-Standard geeinigt. Die Digital Video Disc (DVD) verfügt über ein Speichervolumen von 4,7 Gigabyte und kann für PCs wie für Audio- und Videoaufzeichnungen (bis zu 133 Minuten) genutzt werden.

(5) Vgl. hierzu die ausführlicheren Analysen des Autors in "Neue Formen seriellen Erzählens für junge Zuschauer. Gute Zeiten für schlechte Seifenopern". In: Beiträge Jugendliteratur und Medien H.1, 1995, S.43-52.

(6) Vgl. Irmela Schneider: "Zur Erzählstruktur und Erlebnisfunktion von Serien". In: dies. (Hg.): Serien-Welten. Strukturen US-amerikanischer Serien aus vier Jahrzehnten. Opladen 1995, S.47ff.

(7) Nach Branchenschätzungen dürften in deutschen Kinderzimmern etwa 16 Millionen kleine (sowie größere) Spielkonsolen von Nintendo, Sega oder Sony im Einsatz sein (bzw. herumliegen).

(8) Vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugend '97. 12. Shell Jugendstudie, Opladen 1997, S.20ff.


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