Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Elektronischer Zeitungslesesaal für Mittel- und Osteuropa
Rezeptionsmöglichkeiten mittel- und osteuropäischer Literatur- und Kultur in der deutschsprachigen Presse im Internet

Julianna Bartha-Wernitzer (Wien)

Ein Kurzreferat über das Projekt Elektronischer Zeitungslesesaal für Mittel- und Osteuropa zu halten, ist schwierig, denn ab 1. Oktober wird die Grundlage für das Projekt, die Osteuropa-Dokumentation, nicht mehr existieren. Die Osteuropa-Dokumentation wurde von 1990 bis Ende 1996 finanziell von KulturKontakt unterstützt, war im Wiener Literaturhaus ansässig und bekam für die Weiterführung, trotz aller meiner Bemühungen, keine Finanzierung mehr, auch nicht von anderen staatlichen Einrichtungen. Die Basis für das Projekt, die kontinuierliche Sammlung und Archivierung von Dokumenten und Zeitungsausschnitten, existiert also nicht mehr.

In diesem Sinne berichtet mein Referat nicht über eine laufende Analyse, eher über einen Versuch. Ich will hier keinesfalls eine Grabrede halten, möchte jedoch einige persönliche Bemerkungen zu dieser unglücklichen Entwicklung hinzufügen.

Die Osteuropa-Dokumentation war eine öffentliche, kulturell-literarische Kontakt- und Informationsstelle zu den ehemaligen Ostblockländern in Wien. Seit ihrer Gründung im Jahre 1990 arbeitete sie kontinuierlich in den folgenden Bereichen: Zeitungsausschnittsammlung, Einrichtung einer Bibliothek sowie einer Kontaktstelle für Osteuropa zum gegenseitigen Informationsaustausch; sie organisierte Veranstaltungen und gab Publikationen heraus.

Ihre Konzeption und Gründung in den Jahren 1989-90 waren kein Zufall, sondern stimmten im Hinblick auf die politischen Änderungen in Ost- und Mitteleuropa auch mit den damaligen kulturpolitischen Bemühungen Österreichs überein, nämlich mit der politischen und kulturellen Öffnung in Richtung Osten.

Ich bin selbst Literaturwissenschaftlerin und beschäftige mich mit der ungarischen Gegenwartsliteratur unter dem besonderen Aspekt der Intertextualität (d. h. mit dem Zusammenspiel von Texten, dem Dialog der Texte, die sich keinesfalls nach regionalen und nationalen Grenzen richten). 1989 erschien es mir äußerst wichtig, eine Plattform, einen Ort in Wien, für eine fachspezifische Sammlung einzurichten sowie eine Kontaktstelle für das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen, die durch ihre wechselseitigen Beziehungen doch grenzüberschreitend existieren.

 

Schon kurz nach ihrer Gründung wurde die OED als sinnvolle Ergänzung und wertvolle Hilfestellung für die kulturelle und wissenschaftliche Arbeit bewertet. Sie führte ihre interkulturelle Tätigkeit als aktive, offene, kooperative und gut erreichbare Stelle unkompliziert und kostengünstig durch. Zwar war sie in Wien ansässig, übte ihre Wirkung jedoch vor allem durch ihren interdisziplinären Schwerpunkt international aus. Als Sammlung und als Kooperatiospartnerin für den Osten war sie in die österreichische Kultur eingebunden und spielte eine nicht unübersehbare Rolle sowohl als Basis für die österreichische und ausländische Rezeptionsforschung, als auch als Kulturvermittlerin im europäischen Raum.

Die Osteuropa-Dokumentation sammelte Zeitungsartikel, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zur Literatur und zu den kulturpolitischen Vorgängen in Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien, Ungarn, der ehemaligen DDR sowie den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Sowjetunion (zum Großteil in deutscher Sprache).

Die Sammlung umfaßt derzeit 30.000 Artikel zu osteuropäischen AutorInnen und zu 50 thematischen Kategorien sowie zu Kulturpolitik, Kulturaustausch, historischen Ereignissen, zur Rolle der Intellektuellen, der Medien, der Theater, des Films usw. Das Archivieren einerseits, die Aufarbeitung und Analyse andererseits, führten dazu, daß diese Sammlung ein einheitliches Ganzes wurde und als System dafür geeignet schien, Parallelen und Unterschiede in der Rezeption osteuropäischer kulturpolitischer Vorgänge und Literaturen in der deutschsprachigen Presse aufzuzeigen.

Der Bestand der kleinen Bibliothek - vor allem an übersetzter Literatur - konnte dank der Unterstützung österreichischer, deutscher und Schweizer Verlage ausgebaut werden. Die Neuzugänge wurden in einer Datenbank erfaßt. Die Fachbibliothek umfaßt 1.000 Titel Primär- und Sekundärliteratur, überwiegend in deutscher Sprache.

Den Benutzern wurden deutschsprachige Zeitschriften mit Osteuropa-Schwerpunkten und einschlägige Literaturzeitschriften zur Verfügung gestellt. Die Neuzugänge wurden in der Datenbank bibliographiert und inhaltlich erschlossen. Geplant war, den Bestand der Bibliothek und der Zeitschriftensammlung über Internet abrufbar zu machen, auf ähnliche Weise, doch natürlich nicht im gleichen Ausmaß, wie es im Palais Jalta in Frankfurt durch die Einrichtung einer elektronischen Bibliothek mittel- und osteuropäischer Zeitschriften vorbereitet wird. Unser Schwerpunkt blieb hauptsächlich im Bereich der Zeitungsausschnitte, und zwar nicht aus den ost- und mitteleuropäschen Medien, sondern aus der deutschsprachigen Presse.

Im Rahmen des Projektes literature headlines im Literaturhaus Wien, das bereits von Dr. Heinz Lunzer vorgestellt wurde, plante die OED eine Informationsebene über das literarische Geschehen in den osteuropäischen Ländern einzurichten und die Rezeption osteuropäischer Literaturen laufend für das Internet aufzubereiten.

 

Eine Sammlung an sich ist totes Material. Lebendig kann sie nur im Prozeß durch ihre Verwendung, ihre Benützung werden. Um dieser Sammlung Leben zu verleihen, d. h. sie zu aktivieren, war die weiterführende wissenschaftliche Aufarbeitung der Dokumente geplant. Als zusätzliches Service sollte eine Liste der zur Verfügung stehenden Dokumente über Internet abrufbar sein. Die elektronische Aufarbeitung einer Sammlung führt zu einer erheblichen Erleichterung in der wissenschaftlichen Arbeit und ist für einen besseren und schnelleren Informationsfluß viel mehr geeignet als ein ortsgebundenes Archiv oder eine ortsgebundene Bibliothek. Ich will damit die Rolle des Buches nicht in Frage stellen, ich würde vielmehr meinen, daß der Weg zum Endprodukt der Wissenschaftler, der Weg zum Buch, durch die neuen Technologien wesentlich erleichtert wird.

Nachdem die elektronische Auswertung von Materialien und Informationen sich jedenfalls auf der Basis der bereits existierenden Zeitungsausschnittsammlung der OED stützen und als Grundlage für die Weiterführung der laufenden Arbeit in Bereichen wie Kulturpolitik und Kulturaustausch, literarische Beziehungen Österreich-Osteuropa und literarische Rezeption osteuropäischer Autoren dienen sollte, kann ich momentan nur über ein Zukunftsprojekt referieren. Wenn ich es mit einer gewissen Verbitterung trotzdem versuche, will ich die Aufmerksamkeit einerseits auf den Unterschied zwischen "Dichtung und Wahrheit", zwischen Wunschdenken und der wirklichen Lage österreichischer Kulturpolitik lenken und andererseits auf das weitere Schicksal des Projektes aufmerksam machen.

Das Internet eröffnet den Zugang zu jenen Informationen, die bis jetzt in Form von gedrucktem Material existierten, und dies auf einer schnelleren und wirksameren Ebene. Durch das Internet weitet sich der Kommunikationshorizont wesentlich aus. Wenn man davon ausgeht, daß das Abrücken von einer ausschließlich am literarischen Text orientierten Betrachtung und das Miteinbeziehen des Kontextes von Produktion, Institutionen und vermittelnden Instanzen eine Erweiterung des Textbegriffes mit sich bringt, ist das Internet das geeignete Medium für die Schaffung eines literarischen-interliterarischen Netzwerkes.

 

Das Projekt Elektronischer Zeitungslesesaal für Mittel- und Osteuropa versucht in diesem Zusammenhang, traditionelle Instrumente des wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs mit den neuen technologischen Möglichkeiten zu verknüpfen. Das Ziel des Projektes ist die Aufarbeitung und der Vergleich der Rezeption kultureller Prozesse in Mittel- und Osteuropa im deutschsprachigen Kulturraum. Anhand von Materialien aus ausgewählten deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen sollen Rezeptionsmuster sowie Parallelen und Unterschiede analysiert und anschließend für den Elektronischen Zeitungslesesaal aufbereitet werden. Nur so ist es möglich, einen öffentlichen Diskussionsraum im Internet entstehen zu lassen.

Der Elektronische Zeitungslesesaal möchte Zeitungsartikel in Form einer kommentierten Bibliographie sowie kurze Zusammenfassungen bzw. Beiträge in folgenden Bereichen zur Verfügung stellen: Kulturpolitik, Kulturaustausch, allgemeine Fragen der Literaturtheorie und Literaturwissenschaft, Theater- und Filmaufführungen, literarische Rezeption osteuropäischer Autoren, Anthologien, Biographien. Parallel dazu werden die wichtigsten Schlagworte und Themenbereiche aus dem Zeitraum von 1989-1996, z. B. "Die politische und soziale Rolle der Intellektuellen in Mittel- und Osteuropa um die Wende", "Zensur oder Freiheit?" "Nationalstaat und Nationalismus" analysiert und für das Internet aufbereitet. In diesem Zusammenhang kann die OED ihre Kontakte zu Ost- und Mitteleuropa nutzen, indem sie laufend über die aktuellen Reaktionen und Kommentare referieren würde. In diesem virtuellen Diskussionsraum würden also Forscher, Studenten sowie Interessierte aus Ost und West zusammentreffen.

In den letzten Jahren sind in Österreich einige Arbeiten über die Rezeption mittel-, ost- und südosteuropäischer Literaturen erschienen, die die kulturelle Gegenwart unter diesem Aspekt behandeln (Arbeiten über die tschechisch-deutschen Literaturbeziehungen, über die Rezeption der jugoslawischen, ungarischen oder russischsprachigen Literaturen). Der Vergleich der Ergebnisse solcher Untersuchungen wie auch die Analyse der Rezeptionsunterschiede verschiedener osteuropäischer Kulturen ist jedoch ausgeblieben. Die Rezeption osteuropäischer Kulturen - ihre Parallelen, ihre Unterschiede — wurde unter diesem Aspekt noch nicht analysiert und noch nicht aufgearbeitet und wäre das zentrale Anliegen des Elektronischen Zeitungslesesaals geworden. Das Projekt darüber hinaus würde eine logische Fortsetzung der Sammeltätigkeit der OED bedeuten und mittels der neuen Technologien auch eine Chance für die Rezeptionsforschung. Das Internet schafft neue Wege der Materialauswertung und der wissenschaftlichen Analyse, wie sie bisher in dieser Form für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren.

© Julianna Bartha-Wernitzer (Wien)

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